Liebe ist eine Entscheidung

Es ist bes­ser, sich zu tren­nen – oder?

Fragt man Men­schen, wo ihr Part­ner oder ihre Part­ne­rin ist, schau­en sie in der Regel in Rich­tung der betref­fen­den Per­son. Wenn man aber dann fragt, wo ihr Herz ist, geht der Blick oft in eine ande­re Rich­tung. Man­che behaup­ten, dass die meis­ten von uns nicht mit dem Men­schen zusam­men sind, den sie lie­ben. War­um so viel Quä­le­rei, könn­te man fra­gen – und schluss­fol­gern, dass es in vie­len Fäl­len bes­ser sei, sich zu tren­nen. Tren­nun­gen neh­men ja auch zu, die „mitt­le­re Ver­weil­dau­er“ in Bezie­hun­gen sinkt, die Schei­dungs­ra­te ist jahr­zehn­te­lang gestie­gen, der Anteil der Sin­gle­haus­hal­te nimmt wei­ter zu. Irgend­wie wird das alles mög­li­cher, und in der Regel geht es einem nach einer – oft längst über­fäl­li­gen – Tren­nung ja auch besser.

Der feh­len­de Maßstab

Ein Mensch ändert sich nicht, weil ihn sein Part­ner dazu drängt. Er ändert sich höchs­tens selbst. Die Hoff­nung, dass die Bezie­hung bes­ser wür­de, wenn sich die oder der jeweils ande­re nur ein wenig ände­re, geht also fehl. Man kann Ände­run­gen nur bei sich selbst her­vor­ru­fen – oder wei­ter lei­den oder sich tren­nen. Aber wie soll man fest­stel­len, ob man zu sehr lei­det, oder ob die Bezie­hung noch eine Chan­ce hat?

Zur Klä­rung die­ser Fra­ge ist ein Maß­stab not­wen­dig. Es geht um Gefüh­le, Gedan­ken und Moral. Etwas kann gefühlt rich­tig, mora­lisch aber falsch sein und umge­kehrt. Die meis­ten kon­kre­ten Situa­tio­nen lie­gen irgend­wo dazwi­schen. Wenn die Gedan­ken die rich­ti­gen sind, fol­gen irgend­wann auch die Gefüh­le. Die Geduld dazu haben aller­dings nur weni­ge. Ande­rer­seits wer­den selbst inten­sivs­te Gefüh­le eine „Halb­werts­zeit“ besit­zen, wenn eine Bezie­hung allein auf Gefüh­len beruht.

Auf der einen Sei­te des Maß­stabs steht der Satz: „Man kann sich nur soweit bie­gen, bis man bricht.“ Das bedeu­tet, dass man in einer Bezie­hung so sehr lei­den kann, dass man trau­rig wird, sich klein fühlt und mit der Zeit ver­bit­tert. Es gibt sehr wohl Bezie­hun­gen, unter denen die Betei­lig­ten fast aus­schließ­lich lei­den. Wenn das Leid zu groß wird, soll­te man sich tren­nen. Die Fra­ge lau­tet aller­dings, wo „bie­gen“ auf­hört und „bre­chen“ beginnt. Klar ist, dass nie­mand an einer Bezie­hung zer­bre­chen soll. Man­che Bezie­hun­gen sind so zer­rüt­tet, dass es für alle Betei­lig­ten (ein­schließ­lich der ggf. aus der Bezie­hung her­vor­ge­gan­ge­nen Kin­der) bes­ser wäre, wenn man sich trenn­te. Inter­es­sant ist nun die Fra­ge, was am ande­ren Ende des Maß­stabs steht. Am Ende die­ses kur­zen Buches wer­den Sie eine prak­ti­sche Ent­schei­dungs­hil­fe in der Hand hal­ten zu der Fra­ge, wann man sich bes­ser tren­nen soll­te, und wann es sich lohnt, nicht auf­zu­ge­ben und es noch ein­mal zu probieren.

Vom frei­en Indi­vi­du­um zum „offe­nen Selbst“

Wir haben es heu­te wesent­lich leich­ter, uns zu tren­nen, als noch vor weni­gen Jahr­zehn­ten. Die ent­spre­chen­den Kon­ven­tio­nen wur­den weit­ge­hend mar­gi­na­li­siert oder ganz abge­schafft. Nur noch weni­ge sind der­art in kol­lek­ti­ven Kon­ven­tio­nen – etwa sehr kon­ser­va­ti­ven Kirch­ge­mein­den – ver­an­kert, dass eine Tren­nung unmög­lich erscheint und man lie­ber Krank­heits­sym­pto­me in Kauf nimmt, als zu gehen. Aller­dings hat der – zunächst als Befrei­ung emp­fun­de­ne – Abbau von Tra­di­tio­nen und Regeln nicht nur zu einer Befrei­ung geführt. Wenn man kol­lek­tiv ver­bind­li­che Kon­ven­tio­nen abschafft, lösen sich die Ori­en­tie­run­gen einer Gesell­schaft auf – oder wer­den „viel­fäl­tig“ oder „divers“, wie man das heu­te gern bezeich­net. An die Stel­le eines gro­ßen Maß­stabs tre­ten vie­le unter­schied­li­che Maßstäbe.

Die Indi­vi­dua­li­sie­rung ist in west­li­chen Kul­tu­ren, ein­schließ­lich der deut­schen, so weit fort­ge­schrit­ten, dass das Indi­vi­du­um mehr oder min­der zum Maß­stab des Han­delns gewor­den ist. Ich prü­fe nicht mehr an gesell­schaft­li­chen Kon­ven­tio­nen, ob ich etwas tue oder nicht, son­dern ich prü­fe das auf­grund mei­ner eige­nen Belan­ge, Wer­te, Maß­stä­be usw. Das bedeu­tet, dass Din­ge, die frü­her „selbst­ver­ständ­lich“ (also: nicht hin­ter­frag­bar) durch Glau­be und Kul­tur gere­gelt waren (wie man in der Öffent­lich­keit auf­tritt, wie Bezie­hun­gen ange­bahnt wer­den, wie man sich in Ehen ver­hält, wie man sich klei­det, wie man grüßt etc.), heu­te indi­vi­du­ell ent­schie­den wer­den. Das wird als Frei­heit empfunden.

Aber gera­de durch das weit­ge­hen­de Feh­len von Kon­ven­tio­nen und die damit ver­bun­de­ne Frei­heit, die meis­ten Din­ge des Lebens selbst zu ent­schei­den, liegt das „Selbst“ heu­ti­ger Men­schen viel offe­ner, als das bei frü­he­ren Men­schen der Fall war. Posi­tiv for­mu­liert fügt man sich weni­ger selbst­ver­ständ­lich in sein Schick­sal, son­dern nimmt das Wohl und Wehe des eige­nen Lebens mehr und mehr selbst in die Hand. Man han­delt qua­si freier.

Die Abschaf­fung jener ein­engen­den Kon­ven­tio­nen bedeu­tet mehr Frei­heit für das Indi­vi­du­um. Doch ich beob­ach­te nur weni­ge wirk­lich freie Men­schen, son­dern para­do­xer­wei­se vor allem neue For­men der Abhän­gig­keit. Zwar tun vie­le Men­schen so, als wären sie frei, besit­zen aber eigent­lich kei­ne geeig­ne­ten Ent­schei­dungs­grund­la­gen (Wer­te, Glau­bens­sät­ze usw.). Viel­mehr ori­en­tie­ren sie sich nach wie vor an kol­lek­tiv her­ge­stell­ten Maß­stä­ben – nur dass die Maß­stä­be heu­te nicht mehr „grö­ßer sind als wir“ (Glau­be, Ideo­lo­gien, Herr­scher o.ä.), son­dern vie­le „freie“ Indi­vi­du­en in sozia­len Netz­wer­ken gemein­sam an „Trends“ bas­teln. Das heißt, wir schaf­fen uns unse­re Ori­en­tie­run­gen selbst – und das nicht ver­mit­tels eines auf das Gemein­wohl gerich­te­ten, mehr oder min­der kol­lek­tiv ver­bind­li­chen Pro­gramms, son­dern durch das, was man tut, wenn man eigent­lich nicht weiß, was man tun soll oder will: Man schaut dann vor allem, was die ande­ren machen.

Allein der Umstand, frei zu sein, heißt noch nicht, mit die­ser Frei­heit auch umge­hen zu kön­nen. Das wür­de impli­zie­ren, dass man sich mit Wer­ten, Glau­bens­sät­zen, Maß­stä­ben für das eige­ne Han­deln usw. tat­säch­lich aus­ein­an­der­setzt. Tut man das nicht, ist man zwar schein­bar frei, wird aber – weit­ge­hend unbe­merkt – umso abhän­gi­ger von der Beob­ach­tung ande­rer – und in der Fol­ge auch von der Bestä­ti­gung ande­rer für das, was man sich in sei­ner ver­meint­li­chen Frei­heit durch eben jene Beob­ach­tung „aus­ge­sucht“ hat zu sein oder zu tun.

Das mün­det in eine neue Form der Unfrei­heit, näm­lich in das Getrie­ben­sein zur stän­di­gen Zur­schau­stel­lung des eige­nen Lebens. Die Macher der heu­te popu­lä­ren sozia­len Netz­wer­ke haben qua­si nur die Platt­form für die­sen aus dem Drang zur „frei­en“ Ent­fal­tung des Selbst resul­tie­ren­den Zwang zur Selbst­dar­stel­lung geschaf­fen. Wird die­se Selbst­dar­stel­lung aber nicht bestä­tigt, gera­ten die Trä­ger sol­cher „offe­nen Selbste“ in veri­ta­ble Krisen.

Falsch ver­stan­de­ne Freiheit

Die Ursa­che liegt mei­nes Erach­tens in einem weit­hin fal­schen oder min­des­tens unvoll­stän­di­gen Ver­ständ­nis von Frei­heit. Wir ver­ste­hen Frei­heit gern als Frei­heit von etwas. Wenn ein Umstand zu sehr ein­schränkt, klein macht, lei­den lässt, dann darf man die­se Kon­stel­la­tio­nen ver­las­sen. Wenn man in einer Bezie­hung lebt, die einen krank macht, dann kann man gehen. Wenn man in einer Fir­ma arbei­tet, deren Chef einen immer wie­der klein macht, einem sagt, dass man nur da sei, weil man nichts ande­res fin­de, und des­halb froh sein sol­le, dass man da sein dür­fe und dafür auch noch Geld bekom­me, dann kann – und soll­te – man gehen. Man muss sol­che Din­ge nicht ertra­gen, und es ist kein Zei­chen per­sön­li­cher Rei­fe, sol­che Umstän­de jahr­zehn­te­lang zu ertra­gen und dies auch noch als Aus­weis des eige­nen Durch­hal­te­ver­mö­gens oder des eige­nen Erwach­sen­seins zu verkaufen.

Aber Frei­heit von etwas ist nicht genug. Wenn ich erdrü­cken­de Umstän­de ver­las­sen habe, weiß ich noch nicht, wer ich bin und was ich will. Ertra­ge ich mich, wie ich bin? Fin­de ich mich „gut“ so, wie ich bin? Kann ich Frei­heit tat­säch­lich anneh­men? Bin ich reif genug? „Frei­heit von“ reicht nicht aus, es gehört auch eine „Frei­heit zu“ dazu, also eine Art Selbst­bin­dung. Hier liegt der Hase im Pfef­fer: Vie­le von uns sind sehr wohl in der Lage, die heu­te vor­han­de­ne Frei­heit und die Viel­falt der Mög­lich­kei­ten im Sin­ne einer „Frei­heit von“ zu nut­zen. Man kann immer gehen, man kann sich neu erfin­den, ein neu­es Leben begin­nen usw. Dass dies aber auch mit einem gänz­lich ande­ren Maß an Ver­ant­wor­tung ver­bun­den ist, leuch­tet prak­tisch nur weni­gen ein. Denn die Frei­heit von den bis­her gel­ten­den Kon­ven­tio­nen bedeu­tet letzt­lich eine deut­lich höhe­re indi­vi­du­el­le Verantwortung.

Wenn es Kon­ven­tio­nen gibt, sind die Wahl­mög­lich­kei­ten ein­ge­schränkt. Dann bedeu­tet ein gra­du­el­ler Abbau von Kon­ven­tio­nen eine Befrei­ung – und wird auch als sol­che emp­fun­den. Bin ich aber ver­gleichs­wei­se frei und nur an ver­hält­nis­mä­ßig weni­ge Kon­ven­tio­nen gebun­den, kann ich vie­les selbst ent­schei­den – mit wem ich eine Bezie­hung ein­ge­he, ob und wann ich hei­ra­te, ob ich Kin­der möch­te, wel­chen Beruf ich ergrei­fe, ob ich Kar­rie­re machen will oder nicht, ob ich vie­le oder weni­ge Freund­schaf­ten pfle­ge usw. Die­se Ent­schei­dun­gen tref­fe ich – aber wie? Ein­fach so? Wie begrün­de ich die­se Ent­schei­dun­gen? Mit mei­nen Bedürf­nis­sen, mei­ner momen­ta­nen Stim­mung oder anhand der Fra­ge, was mir gut tut? Nun, all die­se Din­ge lie­gen nahe, und schaut man in die sozia­len Netz­wer­ke, dann fin­det man vie­le Vari­an­ten genau die­ser Art von Begrün­dun­gen: „Du sollst im Leben Freu­de haben. Ver­mei­de, was Dich nicht zum Lachen bringt. Bezie­hun­gen pas­sen oder pas­sen nicht. Wenn es nicht passt, lei­dest Du. Das Leben ist aber zu kurz, um zu lei­den. Also tren­ne Dich von allem, was kei­ne Freu­de macht.“

An was bin­den wir uns? 

Aber rei­chen sol­che Begrün­dun­gen aus? Wie legen wir die Maß­stä­be unse­res Han­delns fest, wenn wir nur uns selbst als Maß­stab haben, wenn die eige­nen Bedürf­nis­se oder gar die Stim­mung zum Maß­stab wer­den? Oder wenn die Anzahl von Her­zen oder „Dau­men hoch“ in sozia­len Netz­wer­ken zu einem bestim­men­den Ele­ment der Ich-Kon­struk­ti­on wer­den? Der Satz „Die Bezie­hung soll mir gut tun.“ klingt als Maß­stab einer ein­zel­nen Per­son viel­leicht geeig­net – aber wo führt das hin? Bedeu­tet die­ser Satz nicht eine Über­for­de­rung der Part­ne­rin oder des Part­ners? Und sichert man sich zwar mit die­sem „soll mir gut tun“ nicht einer­seits eine Art von indi­vi­du­el­ler Kon­trol­le über die Bezie­hung – macht sich aber ande­rer­seits von von einem Bezie­hungs­ide­al abhän­gig, das de fac­to nur schwer zu errei­chen ist? Denn was heißt „gut“? So lan­ge ich das allein bestim­me, blei­be ich ein­sam. Und mein Gegen­über bleibt damit auch allein, wenn wir nicht dar­über reden, was uns ver­bin­det, und an wel­chen Maß­stä­ben wir das Wohl und Wehe – eben jenes „gut“ oder „nicht gut“ – unse­rer Ver­bin­dung mes­sen wol­len. Denn ohne die­ses Mes­sen wird es nicht gehen – kei­ne Bezie­hung bleibt ohne Kon­flik­te und über län­ge­re Zeit auch nicht ohne Ver­ant­wor­tung für­ein­an­der. Wie sonst soll­te man Kin­der groß­zie­hen, All­tag ertra­gen oder für­ein­an­der sor­gen, wenn einer krank ist?

Hand­lun­gen wer­den sinn­los, wenn sie nur einen Selbst­zweck haben

Indem das Indi­vi­du­um zum Maß­stab wird, rückt das Gemein­sa­me, das Ver­bin­den­de, das, was grö­ßer ist als die ein­zel­ne Per­son, immer mehr in den Hin­ter­grund. Man beginnt, Ansprü­che in einer bei­na­he selbst­ver­ständ­li­chen Wei­se zu for­mu­lie­ren: „Die­ses oder jenes steht mir zu. Es ist mein Recht, die­ses oder jenes ein­zu­for­dern.“ Wenn ich nur noch mich als Maß­stab habe, wer­de ich gleich­sam zum Zen­trum mei­ner Welt, und wir gera­ten in einen Kon­kur­renz­kampf der Ansprü­che, ohne dass es etwas Gemein­sa­mes gäbe, an des­sen Belan­gen wir ver­han­deln und fest­stel­len könn­ten, wel­che Ansprü­che legi­tim sind oder nicht.

Wenn das Indi­vi­du­um die letz­te Ori­en­tie­rungs­grö­ße ist, sind Ansprü­che nicht mehr ver­han­del­bar, son­dern abso­lut. Hand­lun­gen gera­ten dann zuneh­mend zum Selbst­zweck und wer­den genau dadurch mit der Zeit sinn­los – denn wozu betrei­be ich jene Akti­vi­tä­ten, die MICH im Zen­trum haben? Für die Aner­ken­nung der ande­ren? Um das Leben zu genie­ßen? Um Sinn zu erfahren?

„Gut tun“ erscheint als Maß­stab sehr wohl geeig­net, aber nur, wenn wir den Maß­stab gemein­sam bestim­men, nicht jeder für sich: „In der Bezie­hung soll­ten wir uns gut tun.“, könn­te ein hilf­rei­cher Satz lau­ten, denn die Hand­lungs­maß­stä­be erge­ben sich dann aus der Bezie­hung und nicht aus der ein­zel­nen Per­son. Sonst blie­be ich ja „in der Bezie­hung allein“ – mei­ne Bezie­hung wäre dann eine Art „Frei­zeit­kol­lek­tiv“. Mit mir zu leben, hie­ße dann, eigent­lich allein zu bleiben.

Ich unter­stel­le, dass es vie­le sol­cher Bezie­hun­gen gibt. Wenn ich mei­nen Job wech­se­le und für die­sen Job in eine ande­re Stadt zie­he, blei­be ich noch eine Wei­le in einer Fern­be­zie­hung, aber frü­her oder spä­ter – ich rede hier vom sta­tis­tisch häu­fi­gen Fall, nicht von der gelin­gen­den Aus­nah­me – wer­de ich jeman­dem begeg­nen, und ich wer­de mich tren­nen. Sozio­lo­gen haben die­sen Trend seit den Sech­zi­ger Jah­ren beob­ach­tet, und es steht nicht zu erwar­ten, dass er nach­lässt, im Gegen­teil: Die vie­len Bezie­hungs­an­bah­nungs­ap­ps tra­gen ihren Teil dazu bei, dass sich die Men­schen trotz einer wach­sen­den Anzahl von Sin­gle­haus­hal­ten nicht allein füh­len müssen.

Nun ist es sicher unzu­läs­sig, alle Bezie­hun­gen über einen Kamm zu sche­ren. Ich möch­te den Leser nur bit­ten, sich ein­mal so ein „Frei­zeit­kol­lek­tiv“ vor­zu­stel­len. Wäh­rend der Woche gehen die bei­den ihren jewei­li­gen Jobs nach, schrei­ben sich gegen­sei­tig Nach­rich­ten, holen sich hier und da ein biß­chen Unter­stüt­zung oder Ver­ständ­nis beim ande­ren ab und pla­nen das Wochen­en­de. Dann reist einer der bei­den an und man ver­bringt ein ent­spann­tes Wochen­en­de mit­ein­an­der. Am Sonn­tag reist man wie­der ab. Der Fokus liegt auf gemein­sa­men Inter­es­sen – man bleibt unab­hän­gig, tut sich gegen­sei­tig gut, hat Sex – und aller­wich­tigs­tens: man bleibt für­ein­an­der „span­nend“ und „inter­es­sant“. Das Pro­blem: braucht man auf Dau­er Unter­stüt­zung oder ver­än­dert sich einer der bei­den etwas stär­ker, las­sen Span­nung und Inter­es­se schnell nach. Ich muss dann über­le­gen, ob „ich“ das „für mich“ noch möch­te. Und so wei­ter. Fal­len Ihnen ein paar Bei­spie­le ein?

Frei­lich kann man so leben und leben vie­le Men­schen so. Das möch­te ich auch nicht infra­ge stel­len. Was ich jedoch deut­lich machen möch­te, ist der Umstand, dass vie­le so leben­de Men­schen eigent­lich allein leben, dass sie ihre Hand­lun­gen mehr oder weni­ger nur an sich selbst, ihren Moti­ven und Erwar­tun­gen aus­rich­ten, und dass Bezie­hun­gen nur so lan­ge funk­tio­nie­ren, wie sie dem jewei­li­gen „mir“ gut tun. Damit wer­den Bezie­hun­gen zur Freund­schaft und ver­lie­ren den Cha­rak­ter jenes mehr oder weni­ger bedin­gungs­lo­sen Ver­trau­ens, das vie­le den­noch in Bezie­hun­gen suchen – und das, so möch­te ich mei­nen, auch not­wen­dig ist, wenn man sich für lan­ge Zeit auf­ein­an­der ver­las­sen will und gemein­sam Ver­ant­wor­tung tra­gen will. Die­ser Wil­le zur gemein­sa­men Ver­ant­wor­tung und die­ser „Schutz­raum“ des Ver­trau­ens sind die Basis, die Part­ner befä­higt, auch Hür­den, län­ge­re Durst­stre­cken, Unter­stüt­zung im Krank­heits­fal­le usw. zu bewäl­ti­gen. Wird Lie­be zur „bil­li­gen“ Freund­schaft, geht die­se Basis ver­lo­ren, wer­den Ver­trau­en und Ver­ant­wor­tung abhän­gig von indi­vi­du­el­len Bedingungen.

Im Fal­le der „Frei­zeit­kol­lek­ti­ve“ liegt der Sinn der Hand­lun­gen nicht mehr im Gegen­über oder im Gemein­sa­men, son­dern nur noch beim Indi­vi­du­um. Eine Hand­lung, die jedoch nur den Selbst­zweck des han­deln­den Indi­vi­du­ums ver­folgt – extrem for­mu­liert: „Ich bin mit Dir zusam­men, damit Du mir gut tust.“ – ver­liert ihren Sinn, denn der Sinn von Hand­lun­gen liegt immer in der Reak­ti­on des Gegen­übers. Wenn das Gegen­über zum „Sinn­erfül­lungs­ge­hil­fen“ redu­ziert wird, blei­ben bei­de allein.

Wozu wol­len wir frei sein?

Wenn wir an Kon­ven­tio­nen den­ken, dann fal­len uns vor allem Bei­spie­le für ihre Auf­lö­sung ein: Weder spie­len die Kir­chen heu­te mehr eine ent­schei­den­de Rol­le, noch haben ande­re Insti­tu­tio­nen heu­te mehr die Macht, die sie noch vor weni­gen Jahr­zehn­ten hat­ten. Das Ver­trau­en in Insti­tu­tio­nen nimmt ab und Regeln wer­den hin­ter­frag­ba­rer (und damit „beklag­ba­rer“), wie ich gemein­sam mit Ben­ja­min Zips in unse­rem letz­ten Buch „Die Kul­tur der Hin­ter­fra­gung“ dar­ge­legt habe.

Eine der zen­tra­len Fra­gen unse­rer Zeit lau­tet des­halb, was wir grö­ßer sein las­sen (wol­len), als wir selbst es sind. Muss­te ein Indi­vi­du­um in ver­gan­ge­nen Zei­ten oft einen sehr hohen Preis für das Ver­las­sen des durch die Kon­ven­tio­nen bestimm­ten Hand­lungs­spiel­raums bezah­len, so ist das Indi­vi­du­um heu­te mehr oder weni­ger zum Maß­stab des Han­delns gewor­den. Aller­dings, so lau­te­ten unse­re Beden­ken, nut­zen die meis­ten Men­schen ihre Frei­heit nur im Sin­ne einer „Frei­heit von“ und nicht im Sin­ne einer „Frei­heit zu“, die mit einem wesent­lich höhe­ren Maß an indi­vi­du­el­ler Ver­ant­wor­tung ver­bun­den ist.

Auch wenn es heu­te weni­ger kol­lek­tiv ver­bind­li­che Kon­ven­tio­nen gibt als in der alten Bun­des­re­pu­blik oder in der DDR – ver­schwun­den sind sie den­noch nicht. Ihre Bin­dungs­kraft hat nach­ge­las­sen, und das Indi­vi­du­um ist in vie­len Lebens­be­rei­chen zur ent­schei­den­den Instanz gewor­den. Das bedeu­tet jedoch nicht, dass wir uns heu­te nicht mehr an Kon­ven­tio­nen bin­den kön­nen. Waren die Kon­ven­tio­nen frü­her mehr oder weni­ger gege­ben und an Herr­schaft gebun­den, ist heu­te eher die Fra­ge, an was wir uns bin­den wol­len. Wir sind heu­te vor allem „frei von“, aber wir wis­sen in der Regel nicht so genau, wozu wir frei sein wollen.

Im Grun­de braucht jedes Han­deln eine Hoff­nung. In Bezug auf Bezie­hun­gen müss­ten sich die Betei­lig­ten also die Fra­ge stel­len, wozu sie eine Bezie­hung ein­ge­hen. Es gin­ge also dar­um, sich die damit ver­bun­de­nen Hoff­nun­gen bewusst zu machen und zu erken­nen, um was es sich wirk­lich han­delt. Was will ich? Was willst Du? War­um bin ich mit Dir zusam­men? Brau­che ich Dich? Wenn ja, wofür „brau­che“ ich Dich? Was wol­len „wir“? Wor­aus besteht die­ses Wir?

Alles Wei­te­re lesen Sie in mei­nem neu­en Buch „Lie­be ist eine Ent­schei­dung“, das im März 2020 erscheint.

Jörg Hei­dig