Die Relevanz der primären Stabilisierung

Es gab einen Über­griff. Die betrof­fe­ne Per­son war in dem Moment allein mit ihrem Gegen­über. Das Gegen­über war noch neu in der Ein­rich­tung, aber es war nicht der ers­te Tag für das Gegen­über. Alles lief nach Plan — zumin­dest theo­re­tisch. Die Situa­ti­on war eine ganz all­täg­li­che: Das Gegen­über woll­te etwas, die betrof­fe­ne Per­son lehn­te das ab. Im Team und mit den Ange­hö­ri­gen war das so abge­spro­chen. Das Gegen­über hat das Nein aber ganz und gar nicht ver­stan­den. Im Gegen­teil: Die Reak­ti­on auf das Nein kam plötz­lich, uner­war­tet und aggressiv.

„Das kann pas­sie­ren. Sowas gehört zu mei­nem Beruf. Nichts Beson­ders im sta­tio­nä­ren Kon­text.“ — sagen die einen. Aber so reagie­ren nicht alle. Man­che sagen auch: „Wie konn­te so jemand über­haupt hier ein­zie­hen?“ Als hät­ten sie es wis­sen kön­nen! Und noch ande­re reagie­ren mit Angst und schweigen.

Nun kommt es dar­auf an: Kann man in dem betrof­fe­nen Team dar­über reden? Und wenn ja: Wie wird dar­über gere­det? Ist die Art und Wei­se, wie dar­über gere­det wird, hilf­reich? Denn: Es kann jede und jeden tref­fen. Da kommt der eine Tag, die eine Situa­ti­on. Kannst Du es ahnen? Kann man es vorhersehen?

Alles spielt eine Rol­le: wie lan­ge das Gegen­über da ist, wie gewohnt der Ablauf schon ist, wor­um es eigent­lich geht, wie erfah­ren Du bist, wie Du in den Wald hin­ein­rufst und so wei­ter und so wei­ter. Pfeifst Du viel­leicht auf dem letz­ten Loch, weil es die acht­zehn­te Son­der­schicht auf­grund hohen Kran­ken­stands ist?

Aber nun hat es geknallt, und wenn es geknallt hat, muss man sich um die Leu­te küm­mern, ganz egal, war­um es geknallt hat. Man hat in die­sem Fall auch alles rich­tig gemacht. Man hat die Per­son aus der Situa­ti­on her­aus­ge­führt und sie aus dem Dienst genom­men. Man hat die Per­son gefragt, was sie möch­te. Die Per­son hat gesagt, sie möch­te nach Hau­se. Man hat die Per­son nach Hau­se gehen las­sen. Dort hat sich die Per­son hin­ge­legt und erst­mal geschlafen.

Man hat alles rich­tig gemacht. Oder?

Die Nacht direkt nach dem Ereig­nis war die letz­te Nacht, in der die Per­son gut geschla­fen hat. Wochen spä­ter kommt die Per­son zurück in den Dienst und kann den Ort des Ereig­nis­ses nicht betre­ten. Spä­ter hat sie sogar Angst, durch die Ein­gangs­tür zu gehen. Die Angst brei­tet sich aus; die Kol­le­gin zit­tert, wenn sie nur dar­an denkt, dem Gegen­über zu begegnen.

Wäh­rend es für die einen eine mehr oder min­der all­täg­li­che Situa­ti­on sein mag, die zum Job eben dazu­ge­hört, und wäh­rend ande­re ihre Angst dämp­fen, indem sie sich ver­mit­tels der Fra­ge, wie „so jemand“ über­haupt ein­zie­hen durf­te, sind wie­der ande­re ein­fach betrof­fen. In die­sem Fall gab es eine unent­deck­te Trau­ma­ti­sie­rung — in einem Aus­maß, dass man mit Geduld und den rich­ti­gen Metho­den wie­der in den Griff bekommt, aber in einem Aus­maß, das die Per­son lei­den lässt und das nicht hät­te sein müs­sen — wenn man neue­re For­schungs­er­geb­nis­se (vgl. Far­chi et al. 2018) gekannt und inner­halb der ers­ten sechs Stun­den nach dem Ereig­nis ent­spre­chend gehan­delt hät­te. Aber wer kann sowas schon wissen?

Der Trick zur Lin­de­rung des Aus­ma­ßes einer Trau­ma­ti­sie­rung ist ein­fach — man schickt die betrof­fe­ne Per­son nicht sofort nach Hau­se, son­dern beglei­tet sie und gibt ihr eini­ge Stun­den lang kon­kre­te Auf­ga­ben und stellt ihr kon­kre­te Fra­gen. Dadurch sorgt man dafür, dass die nor­ma­le Hand­lungs­ko­or­di­na­ti­on wie­der das Zep­ter über­nimmt. Bei einer Trau­ma­ti­sie­rung wird eine Per­son (vor­über­ge­hend) hand­lungs­un­fä­hig; die Angst ist so inten­siv, dass die Angst die bewuss­te Hand­lungs­ko­or­di­na­ti­on
„flu­tet“ und das Gehirn in einen eher archai­schen Funk­ti­ons­mo­dus ver­setzt. Indem man die Per­son nicht allei­ne lässt, ihr recht schnell nach dem Ereig­nis kon­kre­te Fra­gen stellt und/oder kon­kre­te Auf­ga­ben gibt, hilft man der bewuss­ten Hand­lungs­ko­or­di­na­ti­on dabei, die Angst zu über­win­den — wodurch die Wahr­schein­lich­keit post­trau­ma­ti­scher Belas­tungs­sym­pto­me deut­lich gesenkt wird. (Vgl. Far­chi et al. 2018)

Jörg Hei­dig

PS: Lesen Sie hier mehr zum The­ma auf die­sem Blog.

Das Bei­trags­bild wur­de mit Hil­fe künst­li­cher Intel­li­genz erzeugt.

Von Jörg Heidig

Jörg Heidig, Jahrgang 1974, nach Abitur und Berufsausbildung in der Arbeit mit Flüchtlingen zunächst in Deutschland und anschließend für mehrere Jahre in Bosnien-Herzegowina tätig, danach Studium der Kommunikationspsychologie, anschließend Projektleiter bei der Internationalen Bauausstellung in Großräschen, seither als beratender Organisationspsychologe, Coach und Supervisor für pädagogische Einrichtungen, soziale Organisationen, Behörden und mittelständische Unternehmen tätig. 2010 Gründung des Beraternetzwerkes Prozesspsychologen. Lehraufträge an der Hochschule der Sächsischen Polizei, der Dresden International University, der TU Dresden sowie der Hochschule Zittau/Görlitz.