Corona: Wie hat sich die Stimmung über die Zeit entwickelt und was können wir daraus im Hinblick auf eine mögliche zweite Welle lernen?

Wenn Psy­cho­lo­gen oder ande­re Sozi­al­wis­sen­schaft­ler mensch­li­che Hand­lun­gen beob­ach­ten und ana­ly­sie­ren, dann tun sie das in der Regel, weil sie wis­sen wol­len, wie sich etwa bestimm­te Bedin­gun­gen oder Anreiz­kon­stel­la­tio­nen auf die­se Hand­lun­gen aus­wir­ken oder wie Men­schen ihre Hand­lun­gen über die Zeit hin­weg an sich ggf. ver­än­dern­de Bedin­gun­gen anpas­sen. Ist Letz­te­res der Fall, das Erkennt­nis­in­ter­es­se also auf die Ver­än­de­rung von Hand­lungs­mus­tern im Zeit­ver­lauf gerich­tet, dann wer­den im Ergeb­nis oft Pha­sen­mo­del­le gebil­det. Die Unter­su­chung des Ver­laufs von Trau­er ist ein Bei­spiel dafür: Schock, Leug­nung, auf­bre­chen­de Gefüh­le, Aus­ein­an­der­set­zung mit dem Tod, Akzep­tanz und neue Anfän­ge. Anders als bei den exak­te­ren Mes­sun­gen im Rah­men von stan­dar­di­sier­ten Befra­gun­gen oder unter Expe­ri­men­tal­be­din­gun­gen las­sen sich aus Ver­laufs­be­ob­ach­tun­gen oft nur pro­to­ty­pi­sche Pha­sen her­aus­ar­bei­ten, was bei­spiels­wei­se bedeu­tet, dass sich nicht in jedem Fall alle Pha­sen beob­ach­ten las­sen oder sich ein­zel­ne Per­so­nen hin­sicht­lich der Dau­er oder der Rei­hen­fol­ge ein­zel­ner Pha­sen unter­schei­den kön­nen. 

Man muss kein Sozi­al­wis­sen­schaft­ler — oder in mei­nem Fall: Kom­mu­ni­ka­ti­ons­psy­cho­lo­ge — sein, um auf die Idee zu kom­men, dass die Coro­na-Kri­se reich­hal­ti­gen Stoff für sol­che Ver­laufs­mo­del­le lie­fert. Zu deut­lich ste­chen die ein­zel­nen Pha­sen ins Auge — die Ver­drän­gung am Anfang, die lang­sa­me Rea­li­sie­rung, die gro­ße Unsi­cher­heit zu Beginn des Lock­downs und die lang­sa­me Ver­än­de­rung der Stim­mung um Ostern her­um. Ein klu­ger Kol­le­ge hat Mit­te März — der Lock­down war erst weni­ge Tage alt — wäh­rend eines Tele­fo­nats geschätzt, dass die Stim­mung zu Ostern kip­pen wür­de und danach die Befür­wor­ter von Locke­run­gen die Ober­hand gewin­nen wür­den. Wie rich­tig er mit sei­ner Schät­zung doch lag! Coro­na hat uns par excel­lence gezeigt, was Kri­sen­kom­mu­ni­ka­ti­on bewir­ken kann und wozu sie nicht taugt bzw. wann sie ihre Wir­kung ver­liert. 

Kri­sen­kom­mu­ni­ka­ti­on muss hoch­fre­quent und eini­ger­ma­ßen fak­ten­ba­siert sein, um zu wir­ken. Hin­zu kommt, dass die­je­ni­gen, die Kri­sen­kom­mu­ni­ka­ti­on betrei­ben wol­len, eini­ger­ma­ßen ruhig wir­ken und ver­gleichs­wei­se kur­ze, kon­kre­te Schluss­fol­ge­run­gen zie­hen sollten.

Erin­nern Sie sich? So war das kurz vor und im Lock­down: Es wur­den stän­dig neue Fak­ten prä­sen­tiert, es gab täg­lich Pod­casts mit Exper­ten, man übte sich dar­in, Ruhe und Sicher­heit aus­zu­strah­len und Hand­lungs­an­wei­sun­gen gut zu begrün­den. So dürf­tig die Fak­ten­la­ge zu Beginn gewe­sen sein mag — die ers­ten grö­ße­ren Daten­aus­wer­tun­gen, etwa zu den Eigen­schaf­ten und Vor­er­kran­kun­gen von etwa 2000 an oder mit Coro­na Gestor­be­nen in Ita­li­en oder die ers­ten umfas­sen­de­ren Ein­las­sun­gen von Patho­lo­gen, die Coro­na-Tote obdu­ziert hat­ten, brach­ten lang­sam Licht ins Dun­kel: Nein, es han­delt sich nicht um ein grip­pe-ähn­li­ches Phä­no­men, aber es ist auch kei­nes­wegs so etwas wie die Pest.

Mit der Gewöh­nung an die neu­en Umstän­de und dem wach­sen­den Wis­sen kam die Ver­än­de­rung der Stim­mung — und die Kri­sen­kom­mu­ni­ka­ti­on begann nicht nur, ihre Wir­kung zu ver­lie­ren, son­dern die Merk­ma­le der Kri­sen­kom­mu­ni­ka­ti­on — ins­be­son­de­re ihr hoch­fre­quen­ter und fak­ten­ba­sier­ter Modus — began­nen, die Unsi­cher­heit nicht mehr zu redu­zie­ren, son­dern wie­der zu ver­stär­ken — zu unter­schied­lich waren die ein­zel­nen kon­kur­rie­ren­den Inter­pre­ta­tio­nen. Was kurz­fris­tig und bei hoher Unsi­cher­heit hilft, bewirkt auf Dau­er und bei gerin­ge­rer Unsi­cher­heit — und schlich­te Gewöh­nung bewirkt auch einen Rück­gang der Unsi­cher­heit — das Gegenteil.

In die­sem Text geht es um zwei Fra­gen, eine eher vor­der­grün­di­ge und eine eher hin­ter­grün­di­ge. 

  1. Die vor­der­grün­di­ge Fra­ge bezieht sich auf die bereits erwähn­ten Pha­sen der Coro­na-Kri­se aus psy­cho­lo­gi­scher Sicht: Wie hat sich die Stim­mung über die Zeit ent­wi­ckelt, was bedeu­te­te das in Bezug auf die Akzep­tanz von Maß­nah­men und was lässt sich aus der Ana­ly­se im Hin­blick auf eine — durch­aus mög­li­che — zwei­te Wel­le ableiten?
  2. Die hin­ter­grün­di­ge Fra­ge ist weni­ger kon­kret, dafür grund­le­gen­der: Für die meis­ten der heu­te in Euro­pa leben­den Men­schen dürf­te die Coro­na-Situa­ti­on etwas Ein­zig­ar­ti­ges, noch nie da Gewe­se­nes dar­stel­len. Inso­fern fehlt uns eine Ver­gleichs­grund­la­ge. Ob es sich aber wirk­lich um die größ­te Her­aus­for­de­rung seit dem zwei­ten Welt­krieg han­delt? Zumin­dest haben wir — ganz absicht­lich — die am tiefs­ten grei­fen­de Unter­bre­chung des gewohn­ten Gangs der wirt­schaft­li­chen und sozia­len Din­ge seit dem zwei­ten Welt­krieg orga­ni­siert. Ich möch­te die Fra­ge stel­len, was unser Umgang mit Coro­na mög­li­cher­wei­se über unse­re Kul­tur aus­sagt — mit aller gebüh­ren­den Vor­sicht, denn es gibt wie gesagt kaum geeig­ne­te Grund­la­gen für einen Ver­gleich. 

Wie hat sich wäh­rend der Coro­na-Kri­se die Stim­mung über die Zeit ent­wi­ckelt und was lässt sich dar­aus im Hin­blick auf eine — durch­aus mög­li­che — zwei­te Wel­le ableiten?

  1. Ver­drän­gung: Nach dem Mot­to: „Was kratzt es mich, wenn in Chi­na ein Sack Reis umfällt?“ wur­de das, was spä­ter „Coro­na-Kri­se“ genannt wer­den soll­te, zunächst recht kon­se­quent igno­riert oder war in den ers­ten Wochen vor allem für fach­lich Inter­es­sier­te von Belang. Dass es dabei nicht blei­ben soll­te, hat die­se von den meis­ten Men­schen anfangs ein­ge­nom­me­ne Grund­hal­tung der Ver­drän­gung zu Beginn kaum beein­flusst. Die viel­leicht schrägs­te und gleich­zei­tig irgend­wie tref­fends­te Ver­sinn­bild­li­chung die­ser Hal­tung hat der US-ame­ri­ka­ni­sche Prä­si­dent for­mu­liert, indem er das Coro­na-Virus als „chi­ne­se virus“ bezeich­net hat, qua­si als ob Viren eine Mut­ter­spra­che oder ein Vater­land hätten.
  2. Rea­li­sie­rung und Unsi­cher­heit: Als es nicht mehr nur ein­zel­ne Fäl­le (wie jener ers­te im Janu­ar am Stand­ort eines bekann­ten Auto­mo­bil­zu­lie­fe­rers in Bay­ern) waren, son­dern klar wur­de, dass wir nicht drum her­um kämen, misch­te sich die zunächst über­wie­gen­de Ver­drän­gung mit Rea­li­sie­rung. „Es erreicht uns, aber die Wahr­schein­lich­keit, dass es mich erwischt, ist extrem gering.“ Und so blieb es ja auch. Die sta­tis­ti­sche Wahr­schein­lich­keit einer Anste­ckung war in Deutsch­land ins­ge­samt nie beson­ders hoch. Anders als die Ita­lie­ner hat­ten wir Zeit, uns vor­zu­be­rei­ten und Maß­nah­men zu über­le­gen. Und bevor es „rich­tig schlimm“ wur­de, beka­men wir die Sache in den Griff. Die Pha­se der ers­ten Rea­li­sie­rung war für vie­le Men­schen von gro­ßer Unsi­cher­heit gekenn­zeich­net. So kann­te bei­spiels­wei­se kaum einer den Begriff der „Tria­ge“. Als jedoch bekannt wur­de, dass in eini­gen ita­lie­ni­schen Kran­ken­häu­sern „tria­giert“ wur­de, änder­te sich das — ver­bun­den mit einem gewis­sen Ent­set­zen. Dass Ärz­te ent­schei­den müs­sen, wem sie hel­fen und wem nicht, war sehr lan­ge nicht mehr vor­ge­kom­men. Die all­ge­mei­ne Unsi­cher­heit änder­te für eine Wei­le die Gepflo­gen­hei­ten im Land. Die Kom­mu­ni­ka­ti­on wech­sel­te in den Kri­sen­mo­dus — sie wur­de hoch­fre­quent, so gut es geht fak­ten­ba­siert (so weit das die Infor­ma­ti­ons­la­ge eben zuließ) und so weit wie mög­lich Gelas­sen­heit und Sicher­heit ver­mit­telnd. Ein Freund sag­te damals: „Deutsch­land ist ver­mut­lich das bes­te Land auf der Welt, um Coro­na zu krie­gen.“ In jedem Fall sorg­te die Unsi­cher­heit für eine Legi­ti­ma­ti­on der Maß­nah­men bei einem zunächst über­gro­ßen Teil der Bevölkerung.
  3. Gewöh­nung: Erin­nern wir uns — Mit­te März, also zu Beginn des Lock­downs, war nicht klar, wor­um es sich wirk­lich han­delt, wie sich das Virus tat­säch­lich aus­wir­ken wür­de. Zu wider­sprüch­lich waren die Erkennt­nis­se noch und zu hoch die Zah­len der Gestor­be­nen, die man zunächst aus Ita­li­en und dann aus Spa­ni­en mel­de­te. Spä­tes­tens als man in Ita­li­en begann, Sär­ge mit Mili­tär­last­wa­gen zu trans­por­tie­ren und die ers­ten Ver­glei­che mit den durch­schnitt­li­chen Ster­be­ra­ten im Vor­jah­res­zeit­raum bekannt wur­den, war der Schre­cken groß — und es setz­te etwas ein, was auch bei grö­ße­rer Gefahr oder noch viel grö­ße­rem Schre­cken irgend­wann ein­set­zen wür­de, näm­lich Gewöh­nung. Ich habe in den ers­ten Tagen des Lock­downs Albert Camus’ „Die Pest“ gele­sen und fand das eine gute Lek­tü­re, um zu ver­ste­hen, was vor sich geht, in wel­chen Pha­sen eine Pan­de­mie ver­lau­fen kann, wie die Men­schen reagie­ren wür­den usw. Aber so weit kam es ja nicht. Der Lock­down bewirk­te rela­tiv schnell eine Ver­än­de­rung der Lage — spä­tes­tens im Osten Deutsch­lands, wo das Virus rein sta­tis­tisch noch gar nicht rich­tig „ange­kom­men“ war. 
  4. Dif­fe­ren­zie­rung: Hat­te der weit­aus über­wie­gen­de Teil der Bevöl­ke­rung zunächst mit Unsi­cher­heit reagiert und die durch­aus dras­ti­schen Maß­nah­men akzep­tiert, folg­te mit der Zeit eine Dif­fe­ren­zie­rung der Reak­tio­nen. Wäh­rend die einen wei­ter vor­sich­tig blie­ben und die Maß­nah­men wei­ter recht­fer­tig­ten und ein­hiel­ten, war bei ande­ren eine gewis­ser­ma­ßen „stoi­sche“, zum Teil ten­den­ti­ell „fata­lis­ti­sche“ Hal­tung zu hören – von: „Wer weiß, viel­leicht hat­te ich es ja schon!“ über: „Wenn ich es kon­trol­liert krie­gen könn­te, wür­de ich mich anste­cken.“ bis hin zu: „Wenn es mich erwischt, erwischt es mich eben; wir kön­nen ja nicht auf­hö­ren zu leben!“ Beson­ders inter­es­sant sind jedoch zwei wei­te­re Reak­ti­ons­mus­ter: Ich habe ab Anfang April eine wach­sen­de Zahl Men­schen beob­ach­tet, die die gan­ze Situa­ti­on ein­fach igno­rier­ten — oder an den Maß­nah­men nur soweit teil­nah­men, wie es unum­gäng­lich war. Und dann gab es noch jene, die — nicht ganz am Anfang, da waren die­se Stim­men ganz lei­se — um Ostern her­um began­nen, ganz ande­re Mus­ter in den Ereig­nis­sen erken­nen zu wol­len. Die gewis­ser­ma­ßen „schöns­te“ die­ser alter­na­ti­ven Theo­rien, von der ich sei­ner­zeit gele­sen habe, war, dass man den Lock­down als eine Art Ver­dun­ke­lung der Umvol­kungs­be­mü­hun­gen der Bun­des­re­gie­rung nut­zen wür­de. Jeden Abend füh­ren Bus­se mit dun­kel­häu­ti­gen Män­nern vom Dres­de­ner Flug­ha­fen aus in Rich­tung Stadt­zen­trum. Als ich einem Bekann­ten, der das in einem sozia­len Netz­werk teil­te, eine eini­ger­ma­ßen bestürz­te Nach­richt schrieb, erhielt ich eine inter­es­san­te Reak­ti­on. Er wis­se es auch nicht, er selbst habe es nicht gese­hen und er wür­de sich auch kein Urteil erlau­ben, aber was wäre, wenn es stimm­te? Nach dem Mot­to: „Ich bin kein Ver­schwö­rungs­theo­re­ti­ker, aber was wäre, wenn die Alu­hut­frak­ti­on recht hat?“
  5. Neu­be­wer­tung: Die soeben ange­deu­te­te Dif­fe­ren­zie­rung der Reak­tio­nen ergibt sich einer­seits aus der Gewöh­nung und ande­rer­seits aus einer Art „Wahr­schein­lich­keits­be­ur­tei­lung“ („Trifft es mich oder nicht?“ bzw. „Wie hoch ist die Wahr­schein­lich­keit, dass es mich trifft?“). Je län­ger der Lock­down währ­te, tra­ten auch immer mehr ganz ratio­na­le Ein­schät­zun­gen der Fol­gen („Wie hoch sind die ‚Kos­ten‘?“) hin­zu. Einer­seits zeig­ten die Maß­nah­men ihre Wir­kung: die Infek­ti­ons­zah­len gin­gen zurück. Ande­rer­seits wur­de deut­lich, mit wel­chen Kos­ten die Wir­kung erkauft wur­de (und auch hier zeig­te sich, dass Deutsch­land einer der denk­bar bes­ten Orte auf der Welt ist, um von so etwas wie Coro­na betrof­fen zu sein). Die Abwä­gung von Wir­kung und Kos­ten führ­te zu einer Art Neu­be­wer­tung, die Wolf­gang Schäub­le wahr­schein­lich am tref­fends­ten auf dem Punkt gebracht hat: Die Wür­de des Men­schen ist ein höhe­res Gut als der Schutz jeden Lebens. 
  6. Anpas­sung: Die Neu­be­wer­tung führ­te letzt­end­lich zu der Dis­kus­si­on über Locke­run­gen und spä­ter zu der bis dato letz­ten, nach wie vor andau­ern­den Pha­se der Kri­se, die man als „Anpas­sung“ bezeich­nen könn­te: Man­che Din­ge (Abstands­re­geln, Mund­schutz, Beschrän­kun­gen bei Ver­an­stal­tun­gen o.ä.) sind mehr oder weni­ger zum Teil des All­tags gewor­den — mehr oder weni­ger begrüßt und ein­ge­hal­ten oder mehr oder weni­ger skep­tisch betrach­tet und igno­riert. Gleich­zei­tig hat das Virus für die meis­ten Men­schen bei­na­he den Sta­tus eines Gerüchts, wie das ein ame­ri­ka­ni­scher Anthro­po­lo­ge ein­mal bezeich­net hat: Nur weni­ge von uns ken­nen Betrof­fe­ne und die Wahr­schein­lich­keit zu erkran­ken, ist sehr gering, aber die Maß­nah­men zur Ein­däm­mung des Virus sind allgegenwärtig.

Falls in den kom­men­den Mona­ten, wie sich hier und da andeu­tet, eine zwei­te Wel­le droht, und falls die­ser Wel­le wie­der­um mit kon­se­quen­ten Maß­nah­men begeg­net wer­den soll, steht zu erwar­ten, dass die Bevöl­ke­rung nicht mehr mit „kol­lek­ti­ver Unsi­cher­heit“ und infol­ge des­sen mit einer ver­gleichs­wei­se hohen Akzep­tanz in Bezug auf die Maß­nah­men reagiert. Viel wahr­schein­li­cher sind hin­ge­gen die Reak­ti­ons­mus­ter der Dif­fe­ren­zie­rungs­pha­se — die sich über die Zeit dann jeweils ver­stär­ken und ver­här­ten. Die Mit­tel der Kri­sen­kom­mu­ni­ka­ti­on (hoch­fre­quent, fak­ten­ba­siert, ange­sichts der all­ge­mei­nen Unsi­cher­heit größt­mög­li­che Hand­lungs­si­cher­heit ver­mit­telnd) wir­ken dann nicht mehr, im Gegen­teil: Kri­sen­kom­mu­ni­ka­ti­on kann auf län­ge­re Sicht nicht funk­tio­nie­ren, weil eines ihrer kon­sti­tu­ie­ren­den Ele­men­te — die hoch­fre­quen­te Kom­mu­ni­ka­ti­on, die Sicher­heit in unsi­che­ren Situa­tio­nen ver­mit­teln soll — sich selbst ad absur­dum führt. Auf kur­ze Sicht ver­rin­gert hoch­fre­quen­te, mög­lichst fak­ten­ba­sier­te Kom­mu­ni­ka­ti­on die all­ge­mein herr­schen­de Unsi­cher­heit, auf län­ge­re Sicht jedoch ver­stärkt die­se Art der Kom­mu­ni­ka­ti­on die Unsi­cher­heit. Ent­we­der haben wir irgend­wann genug Infor­ma­tio­nen, um die Situa­ti­on unter Kon­trol­le zu bekom­men, oder die Situa­ti­on ist eben nicht unter Kon­trol­le zu bekom­men — zu lan­ge ange­wandt sorgt Kri­sen­kom­mu­ni­ka­ti­on genau für die­sen Ein­druck: Was Sicher­heit ver­mit­teln soll­te, wird zur etap­pen­wei­se ange­wand­ten Durch­hal­te­pa­ro­le — und ver­liert genau dadurch die Wir­kung. 

Spä­tes­tens mit einer zwei­ten Wel­le bräuch­ten wir also ande­re Ant­wor­ten als bis­her. Wir kön­nen womög­lich nicht noch ein­mal „Ret­tungs­pa­ke­te“ schnü­ren, denn wenn ein Zustand, aus dem man geret­tet wer­den muss, wie­der­kehrt oder irgend­wie von Dau­er zu sein scheint, dann passt der Begriff der „Ret­tung“ kaum. Spä­tes­tens dann wäre Coro­na nichts Beson­de­res mehr, son­dern Teil unse­res Alltags.

Inso­fern gibt der säch­si­sche Minis­ter­prä­si­dent bereits vor einer mög­li­chen zwei­ten Wel­le die rich­ti­ge „ande­re Ant­wort“, indem er meint, dass wir uns bereits mit­ten in der zwei­ten Wel­le befin­den, dass an vie­len Orten Infek­ti­ons­her­de ent­ste­hen, die das Poten­ti­al haben, grö­ße­re Dyna­mik zu ent­fal­ten, und dass die Gesund­heits­äm­ter dar­an arbei­ten, das Infek­ti­ons­ge­sche­hen im Griff zu behal­ten. Wenn das stimmt, dann ist Coro­na bereits Teil unse­res All­tags. 

So wird Coro­na mei­nes Erach­tens auch hand­hab­bar: Ohne gro­ße Welt­kriegs- oder Wel­len- oder Ret­tungs­rhe­to­rik von Fall zu Fall und Tag zu Tag im All­tag damit umzu­ge­hen. Es ist nach wie vor Vor­sicht gebo­ten, und wir soll­ten den Orga­ni­sa­to­ren der Maß­nah­men in den Gesund­heits­äm­tern für ihre Arbeit dank­bar sein, denn letzt­lich sind die Gesund­heits­äm­ter und die von ihnen koor­di­nier­ten Diens­te und Akti­vi­tä­ten der modus ope­ran­di, der uns vor rus­si­schen, bra­si­lia­ni­schen oder ame­ri­ka­ni­schen Ver­hält­nis­sen bewahrt.

Was lehrt uns Coro­na über unse­re Kultur?

Zunächst ein­mal kon­fron­tiert uns das Virus mit dem Tod. Dar­an wäre an und für sich nichts Beson­de­res, denn der Tod gehört (eigent­lich) zum Leben. Auf dem schö­nen Gör­lit­zer Niko­lai­fried­hof habe ich ein­mal auf einem Grab­stein gele­sen: „Was wäre mein Leben ohne mei­nen Tod?“

Etwas Beson­de­res wür­de dann aus der Kon­fron­ta­ti­on mit dem Tod, wenn sich unser Umgang mit der Wahr­schein­lich­keit zu ster­ben ändert.

Als Gesell­schaft „leis­ten“ wir uns, eini­ge von uns vor dem Tod zu bewah­ren, indem wir zuhau­se blei­ben, Abstand hal­ten, Mund­schutz tra­gen usw. Aber war­um „leis­ten“ wir uns das? Wir könn­ten ja auch hin­neh­men, dass es so ist, Ver­hal­tens­maß­re­geln for­mu­lie­ren, an die Ver­nunft appel­lie­ren und — fer­tig (Schwe­den). Oder wir könn­ten es igno­rie­ren oder baga­tel­li­sie­ren (Tei­le Ame­ri­kas). 

Ein lei­ser Ver­dacht: Wir erwar­ten, nicht an einem Virus zu ster­ben. Nach dem Mot­to: Wenn wir schon ster­ben müs­sen, dann doch nicht an sowas! Also ver­hin­dern wir. 

Wenn das stimmt, dann hat sich in unse­rer Kul­tur (= also in dem, was uns selbst­ver­ständ­lich ist, was nicht erklärt wer­den muss, was „gefühlt“ immer gilt) mög­li­cher­wei­se etwas ver­scho­ben. 

Aus einem mehr oder weni­ger all­täg­li­chen Zusam­men­hang — „Es gibt Viren, und an einer Infek­ti­on mit man­chen Viren kann man ster­ben und zwar ins­be­son­de­re dann, wenn man schon krank ist.“ —, der zwar tra­gi­sche, aber eben mit­un­ter unver­meid­ba­re Fol­gen haben kann — nicht: muss! Coro­na tötet ja nicht alle Ange­hö­ri­gen einer Risi­ko­grup­pe, wohl aber mehr als in ande­ren Grup­pen — ist ein nicht mehr all­täg­li­cher, son­dern beson­de­rer Zusam­men­hang gewor­den, des­sen mög­li­che Fol­gen mög­lichst ver­mie­den wer­den soll­ten oder gar müs­sen. 

Es wird aus­drück­lich dar­um gebe­ten, die­se Aus­füh­run­gen nicht als Argu­ment gegen alle Maß­nah­men zu lesen. Es ist sicher klug, bei­spiels­wei­se den Zugang zu Senio­ren­hei­men so ein­zu­schrän­ken, dass man eine gewis­se Kon­trol­le behält. Es geht hier viel­mehr um eine Fra­ge, die phi­lo­so­phi­scher oder ethi­scher Natur ist. 

Dür­fen wir tat­säch­lich so etwas erwar­ten? Und ist es ange­mes­sen, einer sol­chen Erwar­tung statt­zu­ge­ben und tat­säch­lich der­art dras­ti­sche Maß­nah­men zu ergrei­fen? Immer­hin haben wir wei­te Tei­le der Wirt­schaft und des öffent­li­chen Lebens ange­hal­ten. 

Unser Umgang mit Coro­na zeigt, dass wir in einer Kul­tur leben, in der jede und jeder erwar­ten darf, von der Gemein­schaft so lan­ge vor dem Tod bewahrt (oder „geret­tet“) zu wer­den, wie es nur geht. 

Coro­na zeigt mei­nes Erach­tens zudem, wie weit wir den Tod bereits aus unse­rem Leben ver­bannt haben. Er fin­det im All­tag kaum mehr statt, son­dern wird in die vom All­tag abge­le­ge­ne Welt der Kli­ni­ken „ver­legt“. 

Was in ande­ren Zei­ten viel­leicht mehr oder min­der hin­ge­nom­men wor­den wäre — es hät­ten sicher erst eini­ge Tau­send oder Zehn­tau­send Men­schen ster­ben müs­sen, bevor man auf die Idee gekom­men wäre zu han­deln, und man wäre womög­lich erst viel spä­ter und bei ganz ande­ren Bedro­hungs­la­gen auf die Idee gekom­men, gan­ze Län­der „anzu­hal­ten“ — darf heu­te nicht mehr sein. Wir han­deln qua­si pro­phy­lak­tisch auf­grund grund­le­gend ver­än­der­ter Prio­ri­tä­ten. Wir tun dies unter ande­rem, weil wir es kön­nen. Nie­mand soll ster­ben, auch wenn sie oder er ggf. gar nicht „nur“ an Coro­na stirbt. 

Es gab phi­lo­so­phi­sche Strö­mun­gen, deren Prot­ago­nis­ten behaup­te­ten, dass es egal sei, ob man drei­ßig oder fünf­zig oder sieb­zig Jah­re zu leben habe. Die­se Phi­lo­so­phen haben in ande­ren Zei­ten mit ganz ande­ren durch­schnitt­li­chen Lebens­er­war­tun­gen gelebt. Heu­te wür­de es statt „drei­ßig, fünf­zig, sieb­zig“ wahr­schein­lich hei­ßen, dass es egal sei, ob man fünf­zig, sieb­zig oder neun­zig Jah­re zu leben habe. 

Ist es tat­säch­lich egal? Ja, es ist egal. Dem ein­zel­nen Men­schen mag es nicht egal sein, aber sol­che Din­ge wie Coro­na kön­nen uns pas­sie­ren. Sie gehö­ren zum Leben und zum Mensch­sein dazu. Auch an einem denk­bar „sinn­lo­sen“ Virus zu ster­ben, kann pas­sie­ren. Wir kön­nen eini­ges tun, um die Wahr­schein­lich­keit in den Griff zu krie­gen. Aber aus­schlie­ßen kön­nen wir es nicht — genau­so wenig wie mul­ti­re­sis­ten­te Kran­ken­haus­kei­me, Ver­kehrs­un­fäl­le und ande­re ziem­lich all­täg­li­che Bedrohungen.

Fast schon scheint es, als „bräuch­ten“ wir die Kri­sen­kom­mu­ni­ka­ti­on, die „Maß­nah­men“ und alles ande­re, was sonst noch um Coro­na her­um ver­an­stal­tet wird, damit wir nicht dar­an den­ken müs­sen, wor­an uns Coro­na erin­nert. 

Wir len­ken uns von der Kon­fron­ta­ti­on mit dem Tod ab, ver­ban­nen ihn aus dem All­tag und unter­neh­men rie­si­ge Anstren­gun­gen, um den Tod „noch ein biß­chen län­ger“ drau­ßen zu hal­ten — und ja, die durch­schnitt­li­che Lebens­er­war­tung hier­zu­lan­de (81 Jah­re) und das Durch­schnitts­al­ter der an und mit Coro­na gestor­be­nen Deut­schen (Anga­be vom 07. April: 80 Jah­re; Anga­be vom 05. Juni: 82 Jah­re) lie­gen sehr nahe bei­ein­an­der! 

Durch die Ver­än­de­rung unse­res Ver­hält­nis­ses zum Tod ändert sich auch unse­re Hal­tung zum Leben. Aus einer eher demü­ti­gen Hal­tung, die akzep­tiert, dass der Tod Teil des Lebens ist und also pas­sie­ren kann, ist eine Anspruchs­hal­tung gewor­den, so lan­ge wie mög­lich frei von der Kon­fron­ta­ti­on mit dem Tod zu bleiben.

Dabei ist es — zumin­dest nach stoi­scher oder auch exis­ten­tia­lis­ti­scher Les­art — gera­de die Kon­fron­ta­ti­on mit dem Tod und sei­ner all­zu gro­ßen Nähe, die hilft, Ant­wor­ten auf die wirk­lich wich­ti­gen Fra­gen des Lebens zu finden.

Jörg Hei­dig