Kürzlich hatte ich den Auftrag, für die Transferagentur Kommunales Bildungsmanagement Brandenburg eine Fortbildung zu der Frage durchzuführen, wie sich Kooperation und Prozesse über Abteilungs‑, Behörden- und Gewohnheitsgrenzen hinweg organisieren lassen. Ich bin einem aufgeschlossenen Netzwerk von Spezialisten aus den Bereichen Bildungsmanagement und ‑monitoring begegnet und habe mich sehr über das rege Interesse und den Austausch gefreut. Grund genug, die wichtigsten Punkte der Fortbildung zu einem Artikel zusammenzufassen.
Der folgende Text beantwortet drei Fragen:
- Wie „tickt“ Verwaltung? Indem man Verwaltung als eine spezifische und lange gewachsene Kultur versteht, werden viele Eigenheiten von Behörden verständlich. Gleichzeitig ist es wichtig, mit einigen Missverständnissen und Vorurteilen gegenüber Verwaltungsorganisationen aufzuräumen.
- Wie funktionieren Dialoge, Netzwerke oder gemeinsame Entwicklungen zwischen einzelnen Bereichen derselben Behörde oder zwischen unterschiedlichen Behörden oder zwischen öffentlichen und privaten Organisationen „dennoch“?
- Welche Haltungen und Methoden sind bei der Anbahnung von Zusammenarbeit oder bei der Gestaltung von Netzwerken hilfreich?
Wie „tickt“ Verwaltung?
Wenn man verstehen möchte, wie wir als Menschen „ticken“ oder wie spezifische, von uns geschaffene Organisationsformen funktionieren, ist es hilfreich, an den Anfang zurückzugehen. Ich möchte hier nicht bis an den Anfang der Sprache oder der Kultur überhaupt zurückgehen, das habe ich kürzlich an anderer Stelle auf diesem Blog getan. Wichtig ist hier lediglich, darauf hinzuweisen, was passiert, wenn Menschen beginnen, zusammenzuarbeiten:
- Zunächst gibt es ein Problem, und jemand hat eine Idee.
- Hat die Idee zum Erfolg geführt, wird sie bei ähnlicher Problemlage wiederholt.
- Bei bleibendem Erfolg bilden sich daraus Muster.
- Aus diesen Mustern werden Gewohnheiten.
- Irgendwann bilden diese Gewohnheiten einen „Wert an sich“ und werden an neue Organisationsmitglieder, spätere Generationen usw. weitergegeben.
- Wenn etwas auf diese Weise zum „Besitz der Gruppe“ geworden ist, wird es nicht mehr hinterfragt. Es ist dann selbstverständlich.
Jede Familie besitzt solche Selbstverständlichkeiten, aber auch jede Gruppe, jedes Team, jede Organisation, jede Berufsgruppe, jede Branche, jede Religion, jeder Kulturraum. Um eine über die Zeit bestehende Ansammlung von Menschen zu verstehen, ist es deshalb hilfreich, sich den historischen Prozess der Entstehung ihrer Gewohnheiten anzusehen bzw. aus Beobachtungen zu schließen, welche Annahmen und Regeln jeweils selbstverständlich sind. So gesehen sind die Menschenrechte ein für einen Teil der Welt selbstverständlicher Besitz großer Gruppen, für Menschen aus anderen Teilen der Welt, die zu anderen großen Gruppen gehören, sind die Menschenrechte in ihrer westlichen Ausprägung keineswegs selbstverständlich.
Die in der Verwaltung geltenden Prinzipien sind durch viele Jahrhunderte entstanden. Verwaltung ist zunächst nur ein Herrschaft sichernder bzw. unterstützender Prozess. Im Zuge der Entwicklung unserer Sozialstrukturen wurden Gruppen so groß, dass nicht mehr ein Häuptling allein alles regeln, bestimmen usw. konnte. Es entstanden Mechanismen zur Vertretung des Herrschers in bestimmten Fragen (Verwaltung) und der Sicherung der Herrschaft (Polizei, Militär). Durch viele Versuche, Erfolge und Irrtümer, Neuanfängen auf der Basis bereits bekannter erfolgversprechender Prozeduren oder auch Neuanfängen nach weitgehenden Zerstörungen des Bestehenden haben sich langsam jene Prinzipien herausgebildet, die Max Weber in seinen Studien beobachtet und vermittels Typenbildung zu der von ihm beschriebenen „bürokratischen Herrschaft“ zusammengefasst und von anderen Herrschaftsformen (traditionelle und charismatische Herrschaft) abgegrenzt hat. (Max Weber hat die Prinzipien der bürokratischen Herrschaft nicht behauptet, wie viele Autoren gemeinhin annehmen, sondern er hat Verwaltungsorganisationen beobachtet und die Prinzipien mit Hilfe der Methode der Typenbildung herausgearbeitet (vgl. Morgan 1998).)
Die in der heutigen Verwaltung geltenden Prinzipien lassen sich am Ehesten als „Kontinuität und Korrektheit“ bezeichnen. Verwaltungsorganisationen bestehen deshalb, weil sie auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland demokratisch legitimierte Herrschaft kontinuierlich, korrekt und weitgehend frei von Korruption umsetzen sollen. Dass es sich bei diesen Prinzipien um solche handelt, die der Verwaltung (als Kultur begriffen) zugrunde liegen, wird am Ehesten deutlich, wenn man versucht, die Verwaltung mit Modellen aus anderen „Welten“ zu verändern. In den letzten dreißig Jahren gab es bspw. viele Versuche, Behörden mit aus der Betriebswirtschaftslehre stammenden Instrumenten zu verändern. Im Management geht man von Machbarkeits- und Effizienzgedanken aus. In der Verwaltung geht es aber um Korrektheit und Kontinuität. Daraus entstehen Konflikte, die das Funktionieren der management-inspirierten Methoden wie Zielvereinbarungen, Kennzahlen usw. begrenzen. Besonders deutlich wird dies etwa in Jobcentern, wo einerseits mit entsprechenden Kennzahlen versehene „Aktivierungsquoten“ erfüllt werden, die entsprechenden „Maßnahmen“ aber rechtlich korrekt vergeben und umgesetzt werden sollen — und das mit Hilfe beraterischer und pädagogischer Methoden für Menschen in komplizierten Lebenssituationen. Hier treffen kaum vereinbare Selbstverständlichkeiten aus drei Welten aufeinander: die Korrektheit aus der Behördenwelt, die Zielorientierung mit ihren Kennzahlen aus dem Management und das Verständnis für schwierige Lebenslagen und der Ansatz an den Entwicklungspotentialen von Menschen aus der Pädagogik bzw. der Psychologie. Das schafft Spannungen, oft auch widersprüchliche Situationen, die u.a. zu vergleichsweise hohen psychischen Belastungen bei Teilen der Mitarbeiterschaft führen. Eine ähnliche Situation lässt sich in den Allgemeinen Sozialen Diensten (ASD) vieler Jugendämter beobachten.
Abschließend soll anhand zweier recht verbreiteter stereotyper Annahmen über Verwaltungsorganisationen deutlich gemacht werden, dass Verwaltung oft anders funktioniert, als gemeinhin angenommen wird:
These: „Verwaltung ist per se veränderungsfeindlich.“ Diese oft zitierte Vorstellung stimmt bei genauerem Hinsehen nicht. Zwar gehen Veränderungen in der Verwaltung langsamer vonstatten als in anderen Branchen — zunächst wahrscheinlich weil die rechtlichen Rahmenbedingungen und der bisweilen hohe Grad der Formalisierung eine langsamere Veränderung bedingen, zum anderen aber auch weil sich die handelnden Personen an die rechtlichen Rahmenbedingungen und die Formalisierung gewöhnen. Bei genauerer Betrachtung über längere Zeiträume hinweg wird aber deutlich, dass Veränderungen zwar langsam vonstatten gehen, aber oft sehr tiefgreifend sind. Die folgende Abbildung zeigt die populärsten Denkmodelle über die öffentliche Verwaltung während der vergangenen etwa 120 Jahre.
Abbildung 1: Die Geschichte des Denkens über Verwaltung während der vergangenen etwa 120 Jahre; Quelle: Heidig, J. (2011). Prozessorientierung als Personalaufgabe. In: Forum Wirtschaftsethik. Nr. 3+4/2011, S. 47; Abbildung: eigene Darstellung
These: „Verwaltung lässt sich durch betriebswirtschaftlich oder postmodernistisch inspirierte Modelle einfach reformieren.“ Aus einer auf eine konkrete Behörde gerichteten Perspektive mögen Veränderungen sehr langsam vonstatten gehen. Aus einer allgemeineren, längere Zeiträume umfassende Perspektive erscheinen Veränderungen hingegen sehr tiefgreifend. Gleichzeitig gilt, dass Veränderungsimpulse in der Regel von außen an die Verwaltung herangetragen werden, in ihrer Wirkung aber selbst auf sehr lange Sicht hin begrenzt bleiben. Die bürokratischen Organisationsprinzipien weisen ein erstaunliches Beharrungsvermögen auf, sodass nach meinem Dafürhalten das folgende Modell die Veränderung der Verwaltung am besten beschreibt:
Abbildung 2: Stark vereinfachter Zusammenhang zwischen Organisationsprinzipien (Kern) und Veränderungsbemühungen (umlaufend); Quelle der Abbildung: Heidig, J. (2018). Proaktive Handlungen in der öffentlichen Verwaltung. Görlitz: Lausitzer Verlag für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften
Bei Verwaltungsreformen handelt es sich letztlich um eine langsame Infragestellung der Organisationsprinzipien der Verwaltung mit Hilfe von Prinzipien aus anderen „Welten“. Dieser Vorgang lässt sich als eine Art sich um den Kern aus Prinzipien herum wälzenden Interaktionsprozess vorstellen: Führungskräfte und Mitarbeiter nehmen Impulse auf, starten vielleicht neue Handlungsversuche. Manches gelingt, anderes wird verworfen, manchmal aus Gewohnheit, manchmal aufgrund rechtlicher Begrenzungen oder Bedenken. Dabei beeinflussen die geltenden Prinzipien die Interaktion, und die Interaktion beeinflusst, wenn auch langsam, die geltenden Prinzipien.
Wie funktionieren Dialoge, Netzwerke, gemeinsame Entwicklungen „dennoch“?
Nachdem wir gesehen haben, wie die Organisationsprinzipien von Verwaltungsorganisationen entstanden sind und wie sie sich — zwar langsamer als in anderen Branchen, aber wenn, dann auf lange Sicht mitunter recht tiefgreifend — durch Interaktion verändern (für eine ausführlichere Darstellung dieser Prozesse siehe diesen Text), sollen nun einige aktuelle Entwicklungen und Herausforderungen an und in Verwaltungsorganisationen diskutiert werden. Auch und besonders Verwaltungsorganisationen kommen nicht umhin, sich auf „größere“ Entwicklungen einzustellen. Exemplarisch seien hier nur einige große Entwicklungen und Trends benannt: Digitalisierung, Beschleunigung von Abläufen bei gleichzeitig zunehmender Komplexität, Veränderungen der Akzeptanz von Verwaltungsentscheidungen (zunehmende Hinterfragung) bzw. Veränderung der Rolle von Verwaltung weg von „institutionalisierter Autorität“ hin zum „hinterfragbaren Mitgestalter“ (zumindest in den Augen vieler Akteure), zunehmende Politikverdrossenheit, demographische Entwicklung. Manche fordern gar, Verwaltung solle zum „Partner“ in relativ komplexen Entwicklungen werden oder manche Prozesse gar „proaktiv“ gestalten oder moderieren. Aber Verwaltung darf eigentlich nicht gestalten; eine „proaktive“ Verwaltung ist im eigentlichen Sinne des Wortes „illegal“. Hingegen können Verwaltungsangehörige proaktiv handeln. Verwaltungsangehörige können bestehende Handlungs- und Entscheidungsspielräume entweder „defensiv“ bzw. formalistisch oder „proaktiv“ im Sinne der Ziele von Anträgen, Projekten, Kooperationsvorhaben usw. auslegen. Die oben nur aufgezählten Trends führen ja dazu, dass bspw. Großprojekte kaum noch realisierbar sind ohne mitunter jahrelange Hinterfragungen durch Bürgerinitiativen, Verwaltungsinstanzen o.ä. Gleichzeitig sind viele Probleme und Projekte nur dann zu bewältigen, wenn mehrere Behörden, politische Gremien, öffentliche und private Unternehmen eng zusammenarbeiten. Aktionistisches oder autoritäres „Durchregeln“ führt dabei selten zum Ziel; was es eher braucht, sind klare Ziele und die Fähigkeit der handelnden Personen, über Abteilungs‑, Organisations- und Gewohnheitsgrenzen hinweg miteinander zu arbeiten. Das folgende Modell zeigt, wie diese „proaktive Haltung“ der handelnden Personen befördert werden kann.