Was ist Wahrheit? Viele sehen angesichts des Wahlkrimis in den Vereinigten Staaten die Demokratie in Gefahr — eine Analyse

Wahr ist das, wor­auf wir uns geei­nigt haben. Wahr­heit ent­steht durch Zustim­mung und durch die Ein­wil­li­gung in Pro­ze­du­ren der Wahr­heits­fin­dung. Was pas­siert, wenn jemand nicht mehr zustimmt und ein­wil­ligt, lässt sich momen­tan in den Ver­ei­nig­ten Staa­ten beob­ach­ten. Eine Demo­kra­tie ist letzt­lich ein Gebil­de aus ver­schie­de­nen Regeln, denen eine Mehr­heit der im Gel­tungs­be­reich der jewei­li­gen Demo­kra­tie leben­den Men­schen zustimmt. Hin­zu kom­men eine Rei­he von Pro­ze­du­ren, in die man — mehr oder min­der bewusst — ein­wil­ligt. Man kann die­se Regeln und Pro­ze­du­ren igno­rie­ren, dann wäre man ein Nicht­wäh­ler. Man kann die Ergeb­nis­se oder Wir­kun­gen die­ser Regeln und Pro­ze­du­ren infra­ge stel­len, wenn man Zwei­fel hat. Ob die­se Zwei­fel berech­tigt sind und was ggf. dar­aus folgt, wird wie­der­um durch die Ein­hal­tung wei­te­rer Pro­ze­du­ren (in die­sem Fall Gerichts­ver­fah­ren) festgelegt.

Aber was pas­siert, wenn jemand die Pro­ze­du­ren ins­ge­samt infra­ge stellt — und das viel­leicht nicht, weil es beleg­ba­re Zwei­fel oder stich­hal­ti­ge Argu­men­te gibt, son­dern weil es instru­men­tell ist oder ein­fach nur, weil man es kann — oder weil die eige­nen Emo­tio­nen so hoch kochen, dass Irra­tio­na­li­ät an die Stel­le der Ein­hal­tung von Ver­fah­rens­wei­sen tritt?

Der „zivi­li­sa­to­ri­sche Fir­niß“ der Regeln und Ver­fah­rens­wei­sen, an die wir uns hal­ten, ist dünn

So lan­ge nur Ein­zel­ne oder klei­ne­re Grup­pen das „Sys­tem“ aus die­sen Regeln und Ver­fah­rens­wei­sen kri­ti­sie­ren, kann man von nor­ma­len Ent­wick­lungs­dy­na­mi­ken oder eben dem nor­ma­len poli­ti­schen Wil­lens­bil­dungs­pro­zess in einer Demo­kra­tie spre­chen. Regeln ver­än­dern sich, müs­sen sich ver­än­dern. Das Para­dox der Ver­än­de­rung bzw. Ent­wick­lung lie­ße sich — nicht ganz logisch, aber oft genug zutref­fend — in etwa so zusam­men­fas­sen: Etwas muss gleich blei­ben, damit es sich ver­än­dern kann, und etwas muss sich ver­än­dern, damit es gleich blei­ben kann.

Infra­ge­stel­lung dient inso­fern der Wei­ter­ent­wick­lung. Wenn jedoch etwas fun­da­men­tal infra­ge gestellt wird und die Grup­pe der Infra­ge­stel­ler groß genug wird, kann es auch zu Umsturz- oder Revo­lu­ti­ons­dy­na­mi­ken kom­men. Oft genug sind die Argu­men­te anfangs gut gemeint, begrün­det und nach­voll­zieh­bar. In der Dyna­mik der Ent­wick­lun­gen kann es aber zu Zuspit­zun­gen kom­men, die nichts mehr mit dem (begründ­ba­ren) Ent­ste­hungs­zu­sam­men­hang zu tun haben. Dann frisst die Revo­lu­ti­on ihre Kinder.

Der zivi­li­sa­to­ri­sche Fir­niß ist dünn, und als Deut­sche schau­en wir auf ein ent­setz­li­ches Bei­spiel dafür zurück, was pas­siert, wenn eine irra­tio­nal den­ken­de und han­deln­de Ban­de erst legi­ti­miert wird und danach erst so rich­tig loslegt.

Ist der ame­ri­ka­ni­sche Prä­si­dent wirk­lich der, als der er gern hin­ge­stellt wird? 

Mitt Rom­ney hat heu­te sinn­ge­mäß get­wit­tert, dass die die Prin­zi­pi­en der Demo­kra­tie wich­ti­ger sind als die Ein­zel­in­ter­es­sen der Per­son des Prä­si­den­ten. Bis­her ist nicht zu erken­nen, dass sol­che Argu­men­te beim Amts­in­ha­ber irgend­et­was bewir­ken — immer­hin hat er vor der Wahl ein­ge­stan­den, ein schlech­ter Ver­lie­rer zu sein, heu­er redet er jedoch davon, dass man ihm die Wie­der­wahl steh­len könn­te. Aber die Hand­lungs­wei­sen des gegen­wär­ti­gen Prä­si­den­ten der Ver­ei­nig­ten Staa­ten waren all­zu oft einer­seits stark pola­ri­sie­rend, ande­rer­seits aber „vie­les gleich­zei­tig“ oder eben „viel­deu­tig genug“, als dass es am Ende doch nicht so schlimm kam, wie eine ernst­haf­te Inter­pre­ta­ti­on sei­ner Rhe­to­rik nahe­ge­legt hätte.

Psy­cho­lo­gi­sche Erklä­rung des Kon­flikt­ver­hal­tens des Präsidenten

So ist das mit zur Domi­nanz nei­gen­den Nar­ziss­ten — ihr Ego befin­det sich in einer Art Dau­er­krieg, aber mit ein biß­chen Abstand pas­siert dann oft nicht all­zu viel. Ihr Eska­la­ti­ons­ver­hal­ten ist oft eben­so pro­phy­lak­tisch (also „vor­beu­gen­de Eska­la­ti­on“) wie rache­durs­tig (nach­ge­setz­te Ent­wer­tung eigent­lich glimpf­lich ver­lau­fe­ner Situa­tio­nen bzw. der dar­an betei­lig­ten Per­so­nen). Aber wenn man davon aus­geht, dass ein Mensch eigent­lich will, was er tut, und es eben weni­ger dar­um geht, was er sagt, führt das zu einer ande­ren Ein­schät­zung der Per­son des amtie­ren­den Prä­si­den­ten: Er hat bei Wei­tem nicht so viel Blöd­sinn gemacht, wie sei­ne Wor­te bis­wei­len hät­ten erwar­ten las­sen. Im Gegen­teil: Betrach­tet man die Bilanz nüch­tern, ist das Ergeb­nis — zumin­dest in Bezug auf glo­ba­le Kon­flik­te — gar nicht so schlecht. Aber, auch das sei hin­zu­ge­fügt: Psy­cho­lo­gi­sche Erklä­run­gen oder gar Dia­gno­sen hel­fen in die­sem Fall nichts. Das „Pro­blem“ ist poli­tisch ent­stan­den und muss auch poli­tisch bear­bei­tet werden.

Gift für die Demokratie

Inso­fern bleibt zu hof­fen, dass die Zustim­mung zu den Regeln und Pro­ze­du­ren an und für sich erhal­ten bleibt. Infra­ge­stel­lung aus sach­li­cher Moti­va­ti­on her­aus ist für die Wei­ter­ent­wick­lung gut. Instru­men­tel­le Infra­ge­stel­lung zur Siche­rung der eige­nen Vor­tei­le oder zur Durch­set­zung irra­tio­na­ler Hand­lungs­zie­le hin­ge­gen stellt alles auf den Kopf.

Auch alles auf den Kopf zu stel­len kann ein Ziel sein — wird es offen erklärt, weiß man wenigs­tens, wor­an man ist, dann spitzt sich die Dyna­mik ggf. zum offe­nen Kon­flikt zu. Wird es aber im Gesche­hen ein­fach nur instru­men­tell gedreht und gewen­det, wie es eben passt, wird die Hin­ter­fra­gung zum PR-Instru­ment und höhlt das, was zustim­mungs­fä­hig ist, aus und macht es unglaub­wür­dig — zum Leid­we­sen der Demo­kra­tie. Inso­fern wer­den wir wohl kaum einen Bür­ger­krieg um das Wei­ße Haus zu sehen bekom­men (was ja hier und da auch schon befürch­tet wird), aber das Ver­trau­en in unse­re Regeln und Pro­ze­du­ren, das lässt wei­ter nach.

Text: Jörg Hei­dig

Titel­bild: Eli­sa Kallinger