Von Säugetieren, die glaubten, sie seien geschaffen worden: Über die Frage, was uns auf dem Weg zu einer tatsächlich globalen Verantwortung im Weg steht

Unse­re Sehn­sucht stammt aus unse­rem Bewusstsein

Unser Bewusst­sein ist eine Muta­ti­on oder ein Feh­ler, ein Poten­ti­al oder eine Erleuch­tung — wie Sie wol­len: all das und noch viel mehr ist irgend­wie wahr. Wir sind schul­dig und unschul­dig zugleich — schul­dig, unse­rem Lebens­raum ange­tan zu haben, was wir ihm ange­tan haben; unschul­dig dar­an, nicht geschaf­fen wor­den, son­dern ein­fach ent­stan­den zu sein. Am Ende sind wir Säu­ge­tie­re, die sich etwas ein­bil­den können.

Wir haben uns dazu gebracht zu den­ken, dass wir eine Auf­ga­be haben

Kein Gott hat uns geschaf­fen. Gott selbst ist ein Arte­fakt. Als wir zur Spra­che kamen, wur­de uns lang­sam klar, dass wir anders sind als ande­re Säu­ge­tie­re, dass wir ande­re Tie­re jagen oder beherr­schen und anschlie­ßend essen kön­nen, weil wir bes­ser orga­ni­siert sind. Es wur­de uns klar, dass wir anders sind, weil wir man­che Din­ge bes­ser konn­ten — aber wir konn­ten uns das (noch) nicht erklä­ren. Was lag dann näher, als uns qua­si mit uns selbst zu erklä­ren? In der Hilf­lo­sig­keit unse­res mit der Spra­che auf­bre­chen­den Bewusst­seins haben wir uns zur Ursa­che und Legi­ti­ma­ti­on glei­cher­ma­ßen erklärt. Alles, was es dazu brauch­te, war die Unter­stel­lung einer Absicht. So wie wir selbst absichts­voll han­deln kön­nen, haben wir die­ses ent­schei­den­de Merk­mal unse­rer Art zur absichts­vol­len Ursa­che erklärt.

Unser Auf­trag an uns selbst: Macht Euch die Erde untertan

So, wie wir etwas her­stel­len kön­nen, unter­stell­ten wir, selbst geschaf­fen wor­den zu sein — wodurch sich ergibt, dass der Mensch der „Herr“ der Erde sein soll (qua­si eine Selbst-Legi­ti­ma­ti­on, die auf Selbst-Erkennt­nis oder Selbst-Beob­ach­tung beruht). Die Erfah­rung der Beherr­schung oder min­des­tens des signi­fi­kan­ten Ein­flus­ses auf die Welt hat­ten wir ja schon. Nun kam qua­si noch die Erklä­rung hin­zu: So, wie wir ver­mit­tels der Spra­che den Din­gen eine Bedeu­tung ver­lei­hen, haben wir uns selbst auch eine Bedeu­tung ver­passt. Wir sind nicht ein­fach nur Säu­ge­tie­re, son­dern durch den Akt der Schöp­fung mit Plan und Absicht zu etwas Beson­de­rem gemacht wor­den.

Das „anthro­po­zen­tri­sche Problem“

Wir den­ken, dass alles eine Bedeu­tung hat, weil wir mit allem, was uns irgend­wie betrifft, eine Bedeu­tung ver­bin­den. Und da wir auf­grund unse­rer Exis­tenz, derer wir uns ja bewusst sind, anneh­men, dass wir auch eine Bedeu­tung haben, mei­nen wir all­zu schnell, dass alles wegen uns statt­fin­det. Wir sind viel­leicht ein „glück­li­cher Fall“ im Sin­ne eines evo­lu­tio­nä­ren Zufalls, der zu etwas geführt hat, das einen wesent­li­chen Unter­schied macht — aber wir han­deln, als gäbe es hin­ter all dem eine Absicht.

Die Absicht ist eine Unterstellung

Was wir ver­ste­hen soll­ten, ist, dass wir Säu­ge­tie­re sind und nicht geschaf­fen wur­den, son­dern dass die Annah­me des „Geschaf­fen­wor­den­seins“ qua­si eine gene­ra­li­sier­te Unter­stel­lung ist. Weil wir einen Unter­schied machen kön­nen — etwas ver­än­dern oder schaf­fen kön­nen — unter­stel­len wir, dass ande­rer­seits uns das genau­so wider­fah­ren sein muss. Der Schöp­fer ist, fol­gen wir Nietz­sche, eine gene­ra­li­sier­te Pro­jek­ti­on des­sen, was wir sind oder gern sein wol­len — ver­mischt mit unse­ren nai­ven Ant­wor­ten auf die Fra­ge, wo wir her­kom­men. Wir sind qua­si „Natur­pro­duk­te“, aber wir müs­sen uns das irgend­wie erklä­ren. Wir sind schöp­fe­risch tätig, also muss es qua­si auch jeman­den gege­ben haben, der uns geschaf­fen hat. Inso­fern ste­cken wir in unse­rem eige­nen Gedan­ken­ge­fäng­nis fest. Wir kön­nen den Gedan­ken nicht los­las­sen, dass da ein Ursprung, ein Grund oder eine Absicht ist.

Was wäre, wenn wir unser selbst­ge­bau­tes Gefäng­nis verlassen?

Wenn wir die­sen Gedan­ken los­lie­ßen, wären wir immer noch Säu­ge­tie­re — nur eben mit SEHR effi­zi­en­ten Fähig­kei­ten zur Koor­di­na­ti­on von Hand­lun­gen. Dann wären wir nicht wegen einer schöp­fe­ri­schen Absicht hin­ter allem anders als ande­re Säu­ge­tie­re, son­dern es ergä­be sich „ein­fach nur“ eine Ver­ant­wor­tung aus den Fol­gen unse­res Tuns wegen der an sich absichts­los ent­stan­de­nen, aber bis­wei­len ent­setz­li­chen Effi­zi­enz unse­res Han­delns. Wir haben eine Ver­ant­wor­tung für unse­re Umwelt (= die „Schöp­fung“) wegen unse­rer Hand­lungs­fä­hig­keit und wegen der Fol­gen unse­rer bis­he­ri­gen Selbst-Legi­ti­ma­ti­on („Macht Euch die Welt unter­tan“). Wenn die­se Über­le­gun­gen nicht ganz abwe­gig sind, haben wir uns womög­lich sowohl unse­re „Mis­si­on“ als auch deren „Legi­ti­ma­ti­on“ durch eine unbe­wuss­te Pro­jek­ti­on (zunächst vie­le Geis­ter, dann eine Rei­he von Göt­tern, spä­ter ein Gott) selbst mit auf den Weg gegeben.

Wir sind alles, was da ist — und wir haben genau des­halb eine Ver­ant­wor­tung, die wir noch anneh­men müssen

Wenn wir die­se Pro­jek­tio­nen auf­ge­ben, dann ver­schwin­den auch unse­re Phan­ta­sien von einem höhe­ren Sinn oder davon, von irgend­wem oder irgend­et­was „geret­tet“ zu wer­den. Wir sind alles, was da ist. Wenn wir unse­re Mythen von „Schöp­fung“, „Ursprung“ und „Absicht“ auf­ge­ben, erhal­ten wir die Chan­ce zu einer gänz­lich ande­ren — viel­leicht „tat­säch­lich glo­ba­len“ und „wirk­lich bewuss­ten“ — Sicht auf die Welt. Damit wür­den wir die Vor­aus­set­zung für ein neu­es, womög­lich grund­le­gend „ande­res“ Level der Hand­lungs­ko­or­di­na­ti­on schaf­fen. Denn dann gibt es nur noch homo sapi­ens und kei­ne Unter­schie­de mehr (Haut­far­be, Glau­be und was wir uns sonst noch so aus­den­ken). Dann könn­ten wir uns dar­um küm­mern, was wirk­lich wich­tig ist, näm­lich die sich aus der Effi­zi­enz unse­rer Hand­lungs­ko­or­di­na­ti­on erge­ben­den Folgen.

Jörg Hei­dig

PS: Ich habe die­sen Text einer Rei­he von Erst­le­sern gezeigt und inter­es­san­te Gesprä­che dar­über geführt. Aus die­sen Gesprä­chen ergab sich eine wesent­li­che Fra­ge, die ich zum The­ma eines wei­te­ren Tex­tes machen möch­te, näm­lich: War­um glau­ben Menschen?