Die sich verschiebenden Grundlinien des menschlichen Denkens

Ein Blick aus dem Dessauer Bauhaus am 17. März 2013
Ein Blick aus dem Des­sau­er Bau­haus am 17. März 2013

I
Als ich in den Neun­zi­ger Jah­ren zum ers­ten Mal das Bau­haus besuch­te, war ich beein­druckt, wie genau die Archi­tek­ten und Künst­ler unser heu­ti­ges Ver­ständ­nis von Ästhe­tik und Raum­nut­zung vor­weg­ge­nom­men haben, oder bes­ser: wie nach­hal­tig sie es geprägt haben. Seit­her hat­te ich bei mei­nen spo­ra­di­schen Besu­chen immer wie­der den Ein­druck, dass der »Bau­haus-Gedan­ke« wei­te­re Lebens­be­rei­che erobert hat, bis er heu­er voll­ends im Main­stream ange­kom­men ist. Heu­ti­ge Ein­rich­tungs­ka­ta­lo­ge las­sen sich als »folk­lo­ri­sier­te« Spie­ge­lun­gen der Bau­haus-Ästhe­tik lesen. Man kann das als spä­ten, kurz vor dem Ver­glü­hen des Indus­trie­zeit­al­ters popu­lär gewor­de­nen Aus­druck der Moder­ne ver­ste­hen. Eine gleich­sam infla­tio­nä­re Ver­brei­tung von Gedan­ken kurz vor ihrer Mar­gi­na­li­sie­rung – etwa so, wie die indus­tri­el­le Logik kurz vor ihrer Ablö­sung durch ande­re Leit­bil­der noch in mög­lichst vie­le Lebens­be­rei­che getra­gen wird, etwa als Qua­li­täts­ma­nage­ment-Gedan­ke in Kran­ken­häu­ser oder als neu­es Steue­rungs­mo­dell in die öffent­li­che Ver­wal­tung, obwohl nach wie vor kein Mensch weiß, wie man die Leis­tun­gen eines Arz­tes oder eines Katas­ter­be­am­ten ver­nünf­tig den Geld­strö­men zuord­nen soll (Peter Dru­cker; genau sagt Dru­cker: “The pro­blem with ser­vice-busi­ness accoun­ting is simp­le. Whe­ther it‘s a depart­ment store or a uni­ver­si­ty or a hos­pi­tal, we know how much money comes in and we know how much money goes out. We even know whe­re it goes. But we can­not rela­te expen­dit­ures to results. Nobo­dy knows how.”).
Die Post­mo­der­ne war schon da, bevor wir es gemerkt haben. Der ent­spre­chen­de Wer­te­wan­del war längst gesche­hen. Wir den­ken zwar in vie­len Berei­chen noch indus­tri­ell, aber die Wer­te haben sich bereits ver­än­dert, es mani­fes­tiert sich nur eben erst Jah­re, manch­mal Jahr­zehn­te später.

II
Wer vor 1989 in Ost­deutsch­land leb­te, hat noch die »alte Ober­flä­chen­struk­tur« des Lan­des ken­nen­ge­lernt. Das Deutsch­land der Zwan­zi­ger und Drei­ßi­ger Jah­re stand, was sei­ne Ober­flä­chen­ge­stalt betraf, am Schei­de­weg zwi­schen dem Agrar- und dem Indus­trie­zeit­al­ter. Zwar war die Indus­trie schon da, aber die Struk­tur des Lan­des und zum Teil auch der Städ­te, ent­sprach noch dem land­wirt­schaft­lich gepräg­ten, früh­in­dus­tri­el­len Zeit­al­ter. Danach hat sich die Ober­flä­chen­struk­tur Ost­deutsch­lands zwar stark gewan­delt – es ent­stan­den Orte wie Eisen­hüt­ten­stadt nach plan­wirt­schaft­li­cher, gan­ze Bran­chen zen­tra­li­sie­ren­der Denk­art, und es wur­den vie­le länd­li­che Struk­tu­ren einer Zwangs­ver­ge­mein­schaf­tung unter­zo­gen (ein­schließ­lich der ent­spre­chen­den Bau­wei­sen). Aber das Sys­tem »Ost­zo­ne« war zu arm, um tie­fer grei­fen­de Ver­än­de­run­gen der Ober­flä­chen­struk­tur vor­zu­neh­men. Stra­ßen führ­ten in der Regel immer noch in die Orts­mit­te und wie­der hin­aus, und man hat­te, eini­ge Pres­ti­ge­vor­ha­ben und die beson­ders stark zer­stör­ten Orte aus­ge­nom­men, schlicht zu wenig Geld, um das Ant­litz der Orte voll­stän­dig zu ver­än­dern. So blie­ben vie­le Orte so, wie sie vor dem Krieg zuge­schnit­ten waren, und vie­le Betrie­be blie­ben in ihren ursprüng­li­chen Gebäu­den, teil­wei­se sogar mit den alten Anlagen.
Nach­dem die zumeist maro­de Indus­trie still­ge­legt und die meis­ten Innen­städ­te halb­wegs wie­der­her­ge­rich­tet waren, ver­wun­dert es des­halb wenig, wenn man­che Tou­ris­ten in den spä­te­ren Neun­zi­gern den Ein­druck hat­ten, durch den schö­ne­ren, weil ori­gi­nale­ren – meint: his­to­ri­schen Struk­tu­ren ent­spre­chen­de­ren – Teil Deutsch­lands zu rei­sen, wenn sie im Osten unter­wegs waren.

III
Ich kann mich noch gut an die tie­fe, mir zunächst schwer ver­ständ­li­che Irri­ta­ti­on erin­nern, als ich zum ers­ten Mal die Ver­ei­nig­ten Staa­ten besuch­te. Ich fand mich in Texas in der Gegend um Dal­las und Fort Worth in einem dif­fu­sen Gewirr wie­der: klei­ne, aus­ein­an­der geris­se­ne, fast zer­sie­del­te Orte neben rie­si­gen Ein­kaufs­zen­tren, die man nur nach lan­gen Fahr­ten auf High­ways, die um alles her­um, aber nir­gend­wo hin zu füh­ren schie­nen, erreich­te. Hier und da ende­te das Gewirr, und es zeig­te sich wei­tes Land, zuwei­len wur­de eine »Down­town« sicht­bar. Damals war es irri­tie­rend, aber als ich Ende der Neun­zi­ger von einem mehr­jäh­ri­gen Aus­lands­auf­ent­halt nach Deutsch­land zurück­kehr­te, fand ich die­se Tex­tur – Umge­hungs­stra­ßen, die zu klot­zi­gen Ein­kaufs­zen­tren führ­ten – auch in Ost­deutsch­land wie­der, und zwar gleich zuhauf. Die Ver­kaufs­flä­che im Osten war inner­halb weni­ger Jah­re umstruk­tu­riert wor­den – es ging von mehr oder min­der klei­nen Läden und ein paar Kauf­hal­len ohne gro­ßen Über­gang direkt in das Zeit­al­ter der Malls. Mit allen Fol­gen für die Innen­städ­te und um den Preis immer glei­cher Ketten.
So erscheint Ost­deutsch­land heu­te in sei­ner Ober­flä­chen­struk­tur sehr pola­ri­siert – pit­to­res­ke Innen­städt­chen neben – mitt­ler­wei­le oft gar nicht mehr so neu­en und hüb­schen – Ein­kaufs­kom­ple­xen neu­er Mach­art. Und bevor der Ein­kaufs­zen­tris­mus gera­de in den klei­ne­ren Städ­ten am demo­gra­phi­schen Fak­tor ein­geht, wird er schnell noch in die denk­bar am wenigs­ten dafür geeig­ne­ten Ecken getra­gen, wie eine jüngst in Zit­tau geführ­te Dis­kus­si­on zeigt.

IV
Wir bemer­ken Ver­än­de­run­gen nicht in ihrem gan­zen Aus­maß, son­dern zumeist nur im ganz Klei­nen und ins­be­son­de­re dann, wenn sie uns selbst betref­fen. Und selbst wenn wir Ver­än­de­run­gen bewusst regis­trie­ren, erfas­sen wir die gan­ze Trag­wei­te oft erst im Nach­hin­ein. So wird vie­len Men­schen nach einer Tren­nung klar, wann der Tren­nungs­pro­zess eigent­lich begon­nen hat. Es gibt aber auch Ver­än­de­run­gen, die sehr lang­sam von­stat­ten gehen und in ihrer Dau­er den Hori­zont eines Lebens mit­un­ter deut­lich über­schrei­ten. In die­sen Fäl­len machen wir das, was wir in unse­rer Kind­heit ken­nen­ge­lernt haben, unbe­wusst zum Aus­gangs­punkt unse­res Den­kens. Anthro­po­lo­gen nen­nen die­ses Phä­no­men Shif­ting-Base­line-Syn­dro­me. Es wur­de zuerst bei Fischern beob­ach­tet und beschreibt die “Eichung” der Wahr­neh­mung jeder neu­en Gene­ra­ti­on von Fischern auf die jeweils in der Jugend wahr­ge­nom­me­nen Fisch­men­gen. Bei ent­spre­chen­den Befra­gun­gen erzähl­ten Fischer unter­schied­li­cher Gene­ra­tio­nen, dass das Fischen, als sie jung waren und ihren Vätern zusa­hen, noch etwas ganz ande­res gewe­sen sei. Wie viel Fisch es damals noch gege­ben hät­te, und wie ein­fach das Fischen trotz der sei­ner­zeit pri­mi­ti­ve­ren Tech­nik gewe­sen sei. Jef­frey Bols­ter beschreibt in sei­nem Buch “The mor­tal sea” sehr ein­drucks­voll, wie sich die Fisch­men­gen nicht erst seit eini­gen Jahr­zehn­ten, son­dern bereits seit Jahr­hun­der­ten dra­ma­tisch ver­än­dert haben, und wie sich aber gleich­zei­tig die Beob­ach­tun­gen jeder Gene­ra­ti­on von Neu­em an die schwin­den­den Fisch­be­stän­de anpass­ten. Bei immer effek­ti­ve­rer Tech­nik blieb das Fischen so ein ein­träg­li­ches Geschäft. Es habe unter Fischern durch­aus Beob­ach­tun­gen des dra­ma­ti­schen Rück­gangs und ent­spre­chen­de Beden­ken gege­ben, aber die­sen Stim­men sei nie genug Gewicht bei­gemes­sen wor­den. Viel­mehr sei die Wis­sen­schaft noch bis zur Mit­te des ver­gan­ge­nen Jahr­hun­derts davon aus­ge­gan­gen, dass die See “unsterb­lich” sei.

Was folgt daraus?
Die Geschich­te bzw. die Ent­wick­lung im All­ge­mei­nen, so scheint es, ist ein der­art kom­ple­xer Pro­zess, in den wir auf­grund der Begren­zun­gen unse­rer kogni­ti­ven Kapa­zi­tä­ten gleich­sam Bezugs­punk­te ein­schla­gen, um uns die Wahr­neh­mung zu ver­ein­fa­chen und das Gesche­hen um uns her­um über­haupt “denk­bar” zu machen. Dass uns die Kom­ple­xi­tät ver­un­si­chert wie eine Wild­nis ihre ers­ten Besu­cher, liegt auf der Hand. Aus die­ser Sicht kann man unse­re Vor­lie­be für Sta­bi­li­tät und sta­ti­sche Model­le als Fol­ge einer fun­da­men­ta­len Erschüt­te­rung unse­res Sicher­heits­be­dürf­nis­ses ver­ste­hen. Das heißt, wir brau­chen Denk­wei­sen, die mit der all­ge­gen­wär­ti­gen Unge­wiss­heit kom­ple­xer Ent­wick­lun­gen umge­hen kön­nen. Die­se Pro­zess­kom­pe­tenz bedeu­tet vor allem Beobachtungs‑, Refle­xi­ons- und Dialogfähigkeit.

Am Ehes­ten ist das Gesag­te als ein Votum für den Dia­log zwi­schen den am jewei­li­gen Gesche­hen Betei­lig­ten – den Gene­ra­tio­nen, Frak­tio­nen, Abtei­lun­gen, ein­zel­nen Ent­schei­dern etc. – zu lesen. Feh­len siche­re und sta­bi­le Vor­stel­lun­gen als Grund­la­ge für Pro­gno­sen, wird ein mehr oder min­der dau­ern­der Aus­tausch- bzw. Dia­log­pro­zess an die­se Stel­le tre­ten (müs­sen).

Zwei­tens hat das Gesag­te eine ethi­sche Dimen­si­on, denn nicht alles, was heu­ti­ge Men­schen für rea­lis­tisch und ange­mes­sen hal­ten, ist auch ver­nünf­tig. Frei­lich ist Wirt­schaft­lich­keit not­wen­dig, aber die Grund­li­ni­en des dies­be­züg­li­chen Den­kens haben sich immer wie­der ver­scho­ben. Vie­le for­dern des­halb, Manage­ment sol­le ethi­scher und ver­ant­wor­tungs­vol­ler wer­den; Mana­ger soll­ten wie­der mehr wie Unter­neh­mens­eig­ner han­deln. Im Gegen­satz zu den zumeist von eher kurz­fris­ti­gen Erfol­gen abhän­gi­gen Mana­gern zie­hen Unter­neh­mens­eig­ner die Basis­li­ni­en ihres Den­kens auch aus der Tra­di­ti­on, aus der Geschich­te ihres Unter­neh­mens. Ein Unter­neh­mens­eig­ner wird mit sei­ner Fami­lie und sei­ner Regi­on ver­bun­den blei­ben und sei­ne Maß­stä­be dem Kor­rek­tiv loka­ler Zusam­men­künf­te aus­set­zen. All das schützt ihn nicht voll­kom­men vor der Bewe­gung der Basis­li­ni­en, aber er kann Ange­mes­sen­heit und das pure Stre­ben nach Wachs­tum weit bes­ser aus­ein­an­der hal­ten. Und nie­mand bestraft ihn, wenn er Maß hält.

Drit­tens wirft der Text ein inter­es­san­tes Licht auf die in den letz­ten Jahr­zehn­ten nicht sel­ten als inef­fi­zi­ent, über­holt und extrem reform­be­dürf­tig ver­ur­teil­te öffent­li­che Ver­wal­tung, denn ihr eigent­li­cher Zweck und damit ihre “Kern­kom­pe­tenz”, die ratio­na­le und kor­rup­ti­ons­freie Umset­zung von gesetz­li­chen Bestim­mun­gen, könn­te in den kom­men­den Jah­ren von gro­ßer Bedeu­tung sein. Wer etwa soll Gerech­tig­keit bei den not­wen­dig erschei­nen­den Kor­rek­tu­ren der Grund­li­ni­en des Den­kens sichern? Wer könn­te eine sol­che Kor­rek­tur über­haupt ratio­nal und gere­gelt durch­füh­ren, wenn nicht eine Büro­kra­tie im guten Sin­ne, also eine eben­so ratio­na­le wie schlan­ke, regel­ge­lei­te­te und trotz­dem refle­xi­ve (heißt: ler­nen­de, mode­rie­ren­de), in jedem Fall aber kor­rup­ti­ons­freie Steuerungsinstanz?

Jörg Hei­dig

Von Jörg Heidig

Jörg Heidig, Jahrgang 1974, nach Abitur und Berufsausbildung in der Arbeit mit Flüchtlingen zunächst in Deutschland und anschließend für mehrere Jahre in Bosnien-Herzegowina tätig, danach Studium der Kommunikationspsychologie, anschließend Projektleiter bei der Internationalen Bauausstellung in Großräschen, seither als beratender Organisationspsychologe, Coach und Supervisor für pädagogische Einrichtungen, soziale Organisationen, Behörden und mittelständische Unternehmen tätig. 2010 Gründung des Beraternetzwerkes Prozesspsychologen. Lehraufträge an der Hochschule der Sächsischen Polizei, der Dresden International University, der TU Dresden sowie der Hochschule Zittau/Görlitz.