Die deutsche Minderheit auf polnisch denken

In Polen gibt es eine Rei­he von – vor­nehm­lich kul­tu­rel­len – Orga­ni­sa­tio­nen der dort leben­den deut­schen Min­der­heit, für die zu arbei­ten ich hin und wie­der die Freu­de habe. Die­ser Text han­delt von eini­gen inter­es­san­ten Beob­ach­tun­gen über Hei­mat, Iden­ti­tät und den Wan­del der Kultur.

Der Wan­del der Bedeutungen

Die Bedeu­tung der Din­ge ergibt sich aus der Bezie­hung zu ihnen. Die Bedeu­tung wohnt also nicht den Din­gen selbst inne, son­dern ergibt sich „zwi­schen“ den Men­schen und den Din­gen. Mit Blick auf die deut­sche Min­der­heit ist des­halb zu fra­gen, wel­che Bedeu­tung die kul­tu­rel­le Her­kunft für die­je­ni­gen hat, die nach­kom­men, die nicht mehr zur Erleb­nis­ge­ne­ra­ti­on gehö­ren. Hier ist ein Wan­del fest­zu­stel­len. Die „Alten“ sagen, dass die „Jun­gen“ sich nicht mehr für ihre Her­kunft, die Tra­di­tio­nen und so wei­ter inter­es­sie­ren. Vie­len Enkeln sei es wich­ti­ger, die eng­li­sche Spra­che gut zu beherr­schen, als ver­nünf­tig deutsch zu ler­nen. Man wol­le viel­fach lie­ber nach Eng­land gehen, anstatt in der Hei­mat zu bleiben.

Was ist Heimat?

An die­ser Stel­le scheint eine inter­es­san­te Fra­ge auf, näm­lich die nach den unter­schied­li­chen Begrif­fen von „Hei­mat“. Für Ver­trie­be­ne oder Geflo­he­ne ist „Hei­mat“ etwas ande­res als für die dort Geblie­be­nen. Wäh­rend die fer­ne Hei­mat irgend­wann zur ehe­ma­li­gen Hei­mat – und damit zum im Her­zen mehr oder min­der ein­ge­schlos­se­nen Sehn­suchts­ort – wur­de, ent­wi­ckel­te sich die Hei­mat für die ande­ren fort – man leb­te nicht mehr in Deutsch­land, son­dern in Polen. Die nach­fol­gen­den Gene­ra­tio­nen spra­chen immer weni­ger deutsch, auch bedingt durch den zeit­wei­se immensen Druck, dem die Deut­schen in Polen aus­ge­setzt waren. Die Enkel und Uren­kel der Erleb­nis­ge­ne­ra­ti­on sehen sich nun vor allem als Polen – mit deut­schen Vor­fah­ren oder mit einem gewis­sen Inter­es­se an der deut­schen Kul­tur, aber als Polen.

Die spe­zi­fi­schen Welt­sich­ten der ver­schie­de­nen Generationen

Die Erleb­nis­ge­ne­ra­ti­on durf­te sich vie­le Jah­re nicht zum Deutsch­tum beken­nen, nach 1990 konn­ten sie das wie­der und hol­ten nach, was so vie­le Jah­re ver­bo­ten war. Die heu­te jun­ge Gene­ra­ti­on ist aber erst 1990 oder spä­ter gebo­ren. Weder die Sicht­wei­se der Erleb­nis­ge­ne­ra­ti­on – also eine gewis­se Kon­ti­nui­tät deut­scher Kul­tur über die Zeit -, noch die Sozia­li­sa­ti­on der Gene­ra­tio­nen dazwi­schen, die vom Kom­mu­nis­mus „ein­ge­mah­len“ wur­den und sich nicht beken­nen durf­ten, ist für die jün­ge­re Gene­ra­ti­on prä­gend. Die jun­gen Leu­te ver­ste­hen sich eher als Polen mit deut­schen Wur­zeln oder als Polen mit einem gewis­sen Inter­es­se für die deut­sche Kul­tur und das Erbe, auf das es in Schle­si­en oder etwa im Erm­land hin­zu­wei­sen gilt. Aber sie bewah­ren die­ses Erbe auf pol­nisch, vor dem Hin­ter­grund ihrer Iden­ti­tä­ten als Polen und als Men­schen mit deut­schen Wur­zeln und/oder Inter­es­sen. Neben die­sen Inter­es­sen ste­hen, und das eint die­se jun­gen Men­schen mit Ver­tre­tern ihrer Gene­ra­ti­on aus ande­ren Län­dern, auch eini­ge »euro­päi­sche« Inter­es­sen. Der Aus­tausch mit ande­ren Kul­tu­ren scheint vie­len, zumin­dest nach mei­nem Ein­druck, genau­so wich­tig – oder sogar wich­ti­ger – zu sein wie das Inter­es­se für die eige­nen (deut­schen) Wur­zeln oder die Kul­tur der Hei­mat Polen.

Die Lebens­rea­li­tät der jun­gen Gene­ra­ti­on sieht ganz anders aus als die der mitt­le­ren oder gar der älte­ren Gene­ra­ti­on. Und die­se jün­ge­re Gene­ra­ti­on defi­niert ihre Iden­ti­tät auf eige­ne Wei­se, und sie soll­te auch die Mög­lich­keit dazu bekom­men. Die Älte­ren tun ihren Enkeln einen Gefäl­len, wenn sie Geschich­ten erzäh­len. Die Wer­te einer Gemein­schaft und die Weis­heit des Lebens ste­cken in Geschich­ten. Wenn man Wer­te und Iden­ti­tät pro­kla­miert oder gar ver­langt, erreicht man oft das Gegen­teil. Iden­ti­tät schreibt sich fort, ver­än­dert sich – man kann nichts gegen die Ver­än­de­rung tun, man kann nur mittun, indem man sei­ne eige­ne Sicht der Din­ge erzählt.

Man kann Geschich­te auf vie­ler­lei Wei­se ver­ste­hen – als Mahl­strom, der am Ende alles ver­schlingt, und dem man sich so lan­ge es geht ent­ge­gen­stel­len muss, oder als end­lo­se Ket­te von Ereig­nis­sen, die erst in der Rück­schau Sinn machen – wir begrei­fen Ver­än­de­run­gen oft erst dann, wenn sie schon lan­ge wir­ken. Mit letz­te­rer Sicht­wei­se gibt man sich und sei­nen Nach­fah­ren die grö­ße­re Chan­ce, etwas zu bewah­ren. Es ist dann ein Bewah­ren ohne Zwang, und das ist eine Fähig­keit, die Euro­pa wirk­lich gut gebrau­chen kann – vor­aus­ge­setzt natür­lich, man stellt Euro­pa nicht in Fra­ge. Tut man das, dann machen die hier vor­ge­tra­ge­nen Argu­men­te frei­lich kei­nen Sinn.

Ent­schei­den­de Fragen

Es geht für die deut­sche Min­der­heit heu­te dar­um, sich zu fra­gen, wie sich die Zukunft gestal­ten lässt. Eine mög­li­che Ant­wort liegt mei­nes Erach­tens dar­in, die deut­sche Min­der­heit auf pol­nisch zu den­ken. Wem das zunächst fremd vor­kommt, der ver­set­ze sich ein­mal ins heu­ti­ge Ost­deutsch­land, zum Bei­spiel in die Nie­der­lau­sitz. Dort leben zwar noch Sor­ben, aber es wer­den weni­ger. Es ist gut und rich­tig, wenn sich die­je­ni­gen, die noch sor­bisch spre­chen, auf ihre Tra­di­tio­nen besin­nen und die­se so lan­ge wei­ter­tra­gen, wie sie kön­nen. Aber selbst in den Dör­fern, wo vie­le zwar noch sor­bi­sche Fami­li­en­na­men tra­gen, aber nie­mand mehr sor­bisch spricht, ist des­halb die sor­bi­sche Kul­tur noch lan­ge nicht ver­schwun­den. Sie wirkt fort, auch wenn die nicht mehr „hör­bar“ ist.

Ein kon­kre­ter Weg, die Fra­ge nach der Zukunft zu stel­len, wäre, sich vor­zu­stel­len, wer in zehn oder mehr Jah­ren die­je­ni­gen sein wer­den, die sich für die deut­sche Iden­ti­tät und Geschich­te etwa in Masu­ren oder in Ober­schle­si­en inter­es­sie­ren. Als nächs­tes kann man dann fra­gen, was genau die­se Men­schen inter­es­sie­ren wird. Wenn man dar­auf Ant­wor­ten gefun­den hat, kann man bereits heu­te Schrit­te ein­lei­ten, um als Orga­ni­sa­tio­nen der deut­schen Min­der­heit genau das zu ermög­li­chen. Eini­ge Beispiele:

  1. Wenn sich jun­ge Men­schen zwar für ihre Iden­ti­tät und Her­kunft inter­es­sie­ren, dies aber auf eine Wei­se tun, die sich von der Art und Wei­se der Erleb­nis­ge­ne­ra­ti­on unter­schei­det, ist die Struk­tur der Zukunft mög­li­cher­wei­se ein nicht mehr an ört­li­che Ver­eins­struk­tu­ren mit tra­di­ti­ons­ori­en­tier­ten Begeg­nungs- und Kul­tur­pro­gram­men gebun­de­nes, regio­na­les Netz­werk, das auch euro­pä­isch ori­en­tier­te Pro­jek­te (Jugend­aus­tausch, iden­ti­täts­be­zo­ge­ne Ver­an­stal­tun­gen) anbie­tet und – los­ge­löst von der ört­li­chen Anbin­dung an die Bevöl­ke­rung einer bestimm­ten Stadt – ein regio­na­les inter­net­ba­sier­tes Netz­werk orga­ni­siert, in dem auf regio­na­le Ver­an­stal­tun­gen hin­ge­wie­sen wer­den und Aus­tausch statt­fin­den kann. Man kann die bis­he­ri­gen, orts­be­zo­ge­nen Orga­ni­sa­tio­nen wei­ter­füh­ren, muss aber damit leben, dass vie­le die­ser Orga­ni­sa­tio­nen mit dem Aus­ster­ben der Erleb­nis­ge­ne­ra­ti­on geschlos­sen wer­den. Neue, regio­nal grö­ße­re oder über­grei­fen­de Orga­ni­sa­tio­nen mit an der künf­ti­gen „Ziel­grup­pe“ aus­ge­rich­te­ten Inhal­ten wären mei­nes Erach­tens eine viel­ver­spre­chen­de Opti­on. Eini­ge Orga­ni­sa­tio­nen haben dies bereits erkannt und rich­ten einen Teil ihrer Akti­vi­tä­ten seit eini­ger Zeit dar­auf aus.
  2. In den ver­gan­ge­nen Jahr­zehn­ten haben vie­le Ange­hö­ri­ge der deut­schen Min­der­heit ihre Hei­mat­re­gio­nen ver­las­sen. Womög­lich will ein Teil die­ser Men­schen zurück­keh­ren, etwa wenn es um die Fra­ge geht, wo man sei­nen Lebens­abend ver­brin­gen möch­te. Die „ange­stamm­te Hei­mat“ (oder: die „Hei­mat der Kind­heit“) hat für vie­le Men­schen einen höhe­ren Wert als die „beruf­li­che Hei­mat“ der mitt­le­ren Lebens­jahr­zehn­te. Es wäre durch­aus ein span­nen­der Ver­such, mit geziel­ten „Rück­keh­rer­ak­tio­nen“ auf die­se Men­schen zuzu­ge­hen – etwa in der Art, wie das man­che ost­deut­sche Regio­nen tun. In Zei­ten der inter­net­ba­sier­ten sozia­len Netz­wer­ke wäre das noch nicht ein­mal sehr teuer.
  3. Der Tou­ris­mus der Erleb­nis­ge­ne­ra­ti­on wird nach­las­sen, nicht aber der all­ge­mei­ne Tou­ris­mus und der­je­ni­ge aus Inter­es­se an einer Kul­tur­land­schaft, die lan­ge deutsch geprägt war. Die Fra­ge wäre, wie man hier­auf reagie­ren könn­te. Wer weiß bes­ser über die Orte, ihre Geschich­te, ihre Kul­tur Bescheid, als die Men­schen, die dort leben?

Die Orga­ni­sa­tio­nen der deut­schen Min­der­heit wer­den sich in den kom­men­den zehn Jah­ren stark ver­än­dern. Eini­ge Orga­ni­sa­tio­nen wer­den aus Mit­glie­der­man­gel schlicht geschlos­sen, ande­re wer­den wei­ter bestehen. Die Fra­ge, an der sich vie­les ent­schei­det, lau­tet, wie die heu­ti­gen Ent­schei­der mit dem jet­zi­gen Wan­del umgehen.

Jörg Hei­dig

Von Jörg Heidig

Jörg Heidig, Jahrgang 1974, nach Abitur und Berufsausbildung in der Arbeit mit Flüchtlingen zunächst in Deutschland und anschließend für mehrere Jahre in Bosnien-Herzegowina tätig, danach Studium der Kommunikationspsychologie, anschließend Projektleiter bei der Internationalen Bauausstellung in Großräschen, seither als beratender Organisationspsychologe, Coach und Supervisor für pädagogische Einrichtungen, soziale Organisationen, Behörden und mittelständische Unternehmen tätig. 2010 Gründung des Beraternetzwerkes Prozesspsychologen. Lehraufträge an der Hochschule der Sächsischen Polizei, der Dresden International University, der TU Dresden sowie der Hochschule Zittau/Görlitz.