Komplexitätsfallen und Kompetenznotwendigkeiten in IT-Projekten…

Neh­men wir an, Sie haben sich nach vie­len Abwä­gun­gen ent­schie­den, aus Ihrer Miet­woh­nung aus­zu­zie­hen und unter die Haus­ei­gen­tü­mer zu gehen. Sie beschäf­ti­gen sich nun mit den ers­ten wesent­li­chen Fra­gen zum anste­hen­den Bau­pro­jekt und ver­su­chen, sich ein Bild Ihres zukünf­ti­gen Domi­zils zu machen – wel­che Fra­gen erge­ben sich?

  • Wo soll das Haus stehen?
  • Wie und mit wel­chem mone­tä­ren Mit­teln wol­len Sie Ihren Haus­traum finanzieren?
  • Soll es ein Fer­tig­haus wer­den oder doch lie­ber ein Architektenunikat?
  • Wer wird der Part­ner für die Umsetzung?
  • Wer über­wacht und koor­di­niert das Projekt?

Es gibt eine Viel­zahl von Fra­gen, die Ihnen spon­tan ein­fal­len wür­den und die als Basis für die anste­hen­den Her­aus­for­de­run­gen die­nen könn­ten. Die­se sach­li­chen Fra­ge­stel­lun­gen rei­hen sich dabei line­ar anein­an­der und erge­ben einen ver­meint­lich strin­gen­ten Pro­jekt­ver­lauf zur Errei­chung Ihres Zie­les – dem Ein­zug in Ihrem neu­en Heim.

  1. Ent­schei­dung über den Standort…
  2. Ent­schei­dung über die Hausform…
  3. Ent­schei­dung über die Finanzierungsart…
  4. Ent­schei­dung über die Umsetzungspartner…
  5. Behörd­li­che Geneh­mi­gungs­pha­se und Projektplanung…
  6. Ers­ter Spatenstich…
  7. Roh­bau­pha­se…
  8. Innen­aus­bau­pha­se…
  9. Erstel­lung der Außenanlagen…
  10. Ein­zug…

So oder so ähn­lich sehen die gro­ben Pha­sen aus und alle Betei­lig­ten nen­nen Ihnen in die­sen Abschnit­ten ziem­lich genaue Ter­mi­ne und Mei­len­stei­ne, sichern Leis­tun­gen und spe­zi­fi­sche Qua­li­tä­ten zu, die bei genau­em Hin­se­hen nicht zutref­fen kön­nen. Eine Ver­zö­ge­rung hät­te schon zu die­sem Zeit­punkt pro­gnos­ti­ziert wer­den kön­nen. Die­se häu­fi­ge Fehl­be­ur­tei­lung der Rea­li­tät basiert auf der Annah­me, dass tau­sen­de Immo­bi­li­en die­ser Art erstellt wur­den und der exter­ne Beob­ach­ter nur das fer­ti­ge und bewohn­te Haus vor Augen hat. Hier­bei sind es vor allem kom­ple­xe Wech­sel­wir­kun­gen zwi­schen den ein­zel­nen Abschnit­ten, die Ihre Pro­jekt­pla­nung nach­hal­tig beein­flus­sen – und sehr häu­fig Bau­her­ren ver­zwei­feln las­sen, da sie sich dem Vor­stel­lungs­ver­mö­gen entziehen.

Der Pro­jekt­plan endet mit dem Ein­zug, genau­so wie am Ende der meis­ten IT-Vor­ha­ben der „Ein­zug“ der neu­en Soft­ware steht. Sind wir hier wirk­lich am Ende?

Nein, denn in die­ser Betrach­tung wer­den weder zwi­schen­mensch­li­che Frik­tio­nen noch die lang­fris­ti­gen emo­tio­na­len Wir­kun­gen betrach­tet. Die­se Tat­sa­che ergibt sich auch schon aus den zu Beginn gestell­ten Fra­gen, die zwi­schen­mensch­li­che Inter­ak­tio­nen, Abhän­gig­kei­ten und Motiv­la­gen grund­le­gend ausblenden.

Dar­über hin­aus ist die Basis eine linea­re Pla­nung, die nicht hin­rei­chend die Ver­netzt­heit des Gesamt­sys­tems berück­sich­tigt und die Not­wen­dig­keit ent­schei­dungs­re­le­van­ter Füh­rung bei dyna­mi­schen Ver­än­de­run­gen in den ver­schie­de­nen Pha­sen außer Acht lässt. Dabei gilt es, bei einer begrenz­ten Ver­füg­bar­keit von Infor­ma­tio­nen zur Ent­schei­dungs­be­wer­tung den Gesamt­kom­plex und die zuge­hö­ri­gen Men­schen zusam­men­zu­hal­ten. Die Ver­ant­wort­li­chen müs­sen ver­ste­hen, dass es kei­nen kom­ple­xen Pro­jekt­plan geben kann , der ein mehr­jäh­ri­ges Vor­ha­ben abschlie­ßend und risi­ko­frei abbildet.

Betrach­ten wir das gan­ze vor dem Hin­ter­grund typi­scher IT- Projekte:

Die Fra­gen zu Beginn von kom­ple­xen IT-Vor­ha­ben ähneln unse­rer Erfah­rung nach sehr den Fra­gen des Haus­bau­bei­spiels. Es ste­hen vor allem Sach­er­wä­gun­gen im Mit­tel­punkt, die auch der Annah­me fol­gen, dass die­se Soft­ware schon tau­sen­de Male in ähn­li­cher Wei­se durch den gewähl­ten Part­ner ein­ge­führt wurde.

Die Finan­zie­rung steht, das Pro­jekt­team ist aus­ge­wählt, die Aus­schrei­bung wur­de durch­ge­führt, die Erwar­tun­gen, Pro­zes­se sowie Funk­tio­nen defi­niert – das Las­ten­heft liegt vor. Nach den ers­ten Inter­view­run­den prä­sen­tiert der Lie­fe­rant einen sehr dezi­dier­ten Pro­jekt­plan, mit allen Ter­mi­nen und Mei­len­stei­nen bis zum Go-Live.

Der Pro­jekt­plan basiert auf den Infor­ma­tio­nen der Aus­schrei­bungs­pha­se, dem Las­ten­heft und den Zusät­zen der Initi­al­ge­sprä­che. Er basiert defi­ni­tiv nicht auf kul­tu­rel­len Erwä­gun­gen, für die etwa Fra­gen rele­vant wären wie:

  • „Wie ist die Geschich­te des Unternehmens?“
  • „Wel­che Bedeu­tung hat die der­zei­ti­ge Softwarelandschaft?“
  • „Wel­che infor­mel­len Struk­tu­ren gibt es?“
  • „Wie funk­tio­niert die Kom­mu­ni­ka­ti­on im Unternehmen?“
  • „Wie gehen die Men­schen mit Wis­sen um, wie wird geführt und wel­che Betei­li­gungs­kul­tur liegt vor?“

Ins­be­son­de­re die­se Fra­gen erge­ben einen geschlos­se­nen Blick auf die Pro­zes­se und vor allem auch – unter Anwen­dung der rich­ti­gen Fra­ge­tech­nik – auf die infor­mel­len Abläu­fe. Die­se sol­len zwar nicht in der neu­en Soft­ware abge­bil­det wer­den, aber die­se zu igno­rie­ren erzeugt spä­tes­tens bei der Ein­füh­rung der neu­en Soft­ware spe­zi­fi­sche Widerstände.

Vor­han­de­ne Abwehr­hal­tun­gen gegen das Vor­ha­ben gilt es, früh­zei­tig zu iden­ti­fi­zie­ren und nicht zu unter­drü­cken, son­dern zu bearbeiten.

Ins­be­son­de­re die Fra­ge nach der pas­sen­den Lei­tung sol­cher Vor­ha­ben ist pro­jekt­ent­schei­dend, denn es ist bekann­ter­ma­ßen nicht immer der Archi­tekt der bes­te Pro­jekt­lei­ter beim Haus­bau. Für fach­li­che Spe­zia­lis­ten, die zwar ein Bild des End­pro­duk­tes haben, ist es oft schwie­rig, sich auf die dazwi­schen­lie­gen­den Pha­sen und die damit ein­her­ge­hen­den Pro­ble­me der Kom­ple­xi­tät ein­zu­stel­len. So mag es zeich­ne­ri­sche Lösun­gen geben, die für den Archi­tek­ten aus gestal­te­ri­scher Sicht bril­lant sind, aller­dings funk­tio­na­len Kri­te­ri­en kaum stand­hal­ten. So ähn­lich geht es auch vie­len IT-Projektleitern.

Es erge­ben sich in Fol­ge des­sen sehr oft linea­re Pro­jekt­plä­ne, die auf den ers­ten Blick nur abge­ar­bei­tet wer­den müs­sen. Die­se Plä­ne gehen aller­dings davon aus, dass die ein­zel­nen Pha­sen sich kaum gegen­sei­tig beein­flus­sen. Es gibt berühm­te Fäl­le in der Geschich­te, die die­ser Annah­me auf­ge­ses­sen sind. Haben Sie sich mal mit den Gescheh­nis­sen bei der Tscher­no­byl-Kata­stro­phe am 26.4.1986 aus­ein­an­der­ge­setzt? Nein? Das soll­ten Sie tun, denn die han­deln­den Per­so­nen waren alles fach­li­che Spe­zia­lis­ten. Und trotz ein­deu­ti­ger Warn­si­gna­le wur­den vor­ge­schrie­be­ne Rou­ti­nen über­gan­gen und der geplan­te Test­lauf line­ar abgearbeitet.

Auch IT-Vor­ha­ben sind kei­ne rei­nen IT-Pro­jek­te, son­dern viel­mehr Orga­ni­sa­ti­ons­ver­än­de­run­gen, die einer spe­zi­fi­schen Dyna­mik fol­gen. Die Füh­rungs­an­for­de­run­gen und Kom­mu­ni­ka­ti­ons­not­wen­dig­kei­ten kön­nen nicht den typi­schen Orga­ni­sa­ti­ons­rou­ti­nen fol­gen, da das Sys­tem sich so nicht hin­rei­chend auf die vor­han­de­ne Kom­ple­xi­tät des Vor­ha­bens ein­stel­len kann. Es bedarf der Fähig­keit der „Rück­wärts­pla­nung“ und Berück­sich­ti­gung spe­zi­fi­scher Even­tua­li­tä­ten, wobei hier Ent­schei­dungs­wil­len trotz teil­wei­se dif­fu­ser Infor­ma­ti­ons­la­ge gefragt ist.

Die Kom­ple­xi­tät von IT- Pro­jek­ten ergibt sich weni­ger aus den fach­lich-tech­ni­schen Fra­ge­stel­lun­gen, son­dern viel­mehr aus den mensch­li­chen Inter­ak­tio­nen und der Ver­netzt­heit der pha­sen­be­zo­ge­nen Einzelmerkmale.

Somit erge­ben sich spe­zi­fi­sche Kom­pe­ten­zen für die Verantwortlichen:

  • Pla­nungs­fä­hig­keit im Sin­ne der Bewer­tung von mehrdimensionalen
  • Abhän­gig­kei­ten (Zie­le, Struk­tur, Pro­zess, Kom­mu­ni­ka­ti­on und Kultur)
  • Weni­ger Fach­spe­zia­list als Orga­ni­sa­ti­ons­spe­zia­list Weni­ger Steuerung
  • der fach­li­chen Pro­jek­t­an­tei­le und Pha­se, son­dern Fähigkeit
  • ent­ste­hen­de Kon­flik­te anzu­spre­chen und zu bear­bei­ten Ver­mitt­lung der
  • Bedeu­tung und Erzeu­gung von Invol­viert­heit bei den
  • Gesamt­ver­ant­wort­li­chen Fähig­keit zur Dar­stel­lung des
  • orga­ni­sa­to­ri­schen Nutzenpotentials

Wenn die­se Fak­to­ren berück­sich­tigt wer­den, dann wird der auf­ge­stell­te Fahr­plan nicht zur Agen­da eines Sanie­rungs­pro­jek­tes, son­dern zu einer erfolg­rei­chen Ver­än­de­rung einer Orga­ni­sa­ti­on unter Nut­zung tech­ni­scher Möglichkeiten.

Kim Klei­nert

Von Jörg Heidig

Jörg Heidig, Jahrgang 1974, nach Abitur und Berufsausbildung in der Arbeit mit Flüchtlingen zunächst in Deutschland und anschließend für mehrere Jahre in Bosnien-Herzegowina tätig, danach Studium der Kommunikationspsychologie, anschließend Projektleiter bei der Internationalen Bauausstellung in Großräschen, seither als beratender Organisationspsychologe, Coach und Supervisor für pädagogische Einrichtungen, soziale Organisationen, Behörden und mittelständische Unternehmen tätig. 2010 Gründung des Beraternetzwerkes Prozesspsychologen. Lehraufträge an der Hochschule der Sächsischen Polizei, der Dresden International University, der TU Dresden sowie der Hochschule Zittau/Görlitz.