Wie viele Menschen können wir integrieren?

Der fol­gen­de Text ist eine Zusam­men­fa­sung mei­nes Bei­trags zum Sym­po­si­um „Tran­sit­zo­nen und Inte­gra­ti­on“, das am 03.12.2016 an der Hoch­schu­le Zittau/Görlitz statt­fand. Das Sym­po­si­um war eine gemein­sa­me Ver­an­stal­tung des KIB-Insti­tuts und des TRAWOS-Instituts.

Las­sen Sie mich, bevor ich begin­ne, eini­ge Begrif­fe bestim­men. Ange­sichts der Pola­ri­sie­run­gen, mit denen die Dis­kus­sio­nen um Flucht und Migra­ti­on, ganz zu schwei­gen von Inte­gra­ti­on, heu­er geführt wer­den, hal­te ich das für not­wen­dig. Ich beab­sich­ti­ge nicht, die fol­gen­den Begrif­fe abschlie­ßend zu defi­nie­ren, ich will ledig­lich eine – hof­fent­lich hilf­rei­che – Grund­la­ge zum Ver­ständ­nis und zur Ein­ord­nung mei­ner Aus­füh­run­gen schaffen.

Zunächst hal­te ich es für hilf­reich, zwi­schen Flucht und Migra­ti­on zu unter­schei­den, wobei ich unter Flucht all jene Bewe­gun­gen ver­ste­he, die von Krie­gen und ande­ren men­schen­ge­mach­ten Bedro­hungs­la­gen, Kat­atro­phen usw. her­vor­ge­ru­fen wer­den. Wir wer­den uns in den kom­men­den Jahr­zehn­ten bei­spiels­wei­se mit den bis­wei­len dras­ti­schen Fol­gen des Kli­ma­wan­dels aus­ein­an­der­zu­set­zen haben. Unter Migra­ti­on sind mei­nes Erach­tens hin­ge­gen all jene Bewe­gun­gen zu ver­ste­hen, die aus Grün­den der Ver­bes­se­rung der wirt­schaft­li­chen oder beruf­li­chen Lage, der Gesund­heits­ver­sor­gung oder ande­rer, eher all­ge­mei­ner Lebens­um­stän­de statt­fin­den. Für Flücht­lin­ge gel­ten ande­re gesetz­li­che Grund­la­gen als für Migran­ten. Hat man, wie in Deutsch­land der Fall, eher eine schutz­ori­en­tier­te Flücht­lings­ge­setz­ge­bung und weni­ger eine Ein­wan­de­rungs­ge­setz­ge­bung, gibt es einen nicht uner­heb­li­chen Anteil Migra­ti­on, die als Flucht dar­ge­stellt wird. Ich gebe zudem gern zu, dass die Gren­zen zwi­schen bei­den Begrif­fen bis­wei­len schwer aus­zu­ma­chen sind. So mag es aus dem glei­chen Land Flücht­lin­ge (etwa mit dem Tod bedroh­te Blog­ger) und Migran­ten (etwa Men­schen, die kei­ner unmit­tel­ba­ren Bedro­hungs­la­ge aus­ge­setzt waren) geben.

Des Wei­te­ren soll­ten wir uns ver­deut­li­chen, was bei Flucht oder Migra­ti­on geschieht. Ein Mensch ver­lässt dabei sei­ne Hei­mat und betritt ein Land, dem die Selbst­ver­ständ­lich­kei­ten sei­ner Hei­mat nicht gel­ten. Dies scheint erst ein­mal kei­ne beson­ders dra­ma­ti­sche Fest­stel­lung zu sein. Es sei denn, wir ver­deut­li­chen uns, was das genau bedeu­tet. Wenn ein Mensch auf­wächst, lernt er nicht nur die Spra­che an und für sich. Viel­mehr erlernt ein Mensch Bedeu­tun­gen und ihren Gebrauch. Dass in Deutsch­land Pünkt­lich­keit vie­len Men­schen bei­spiels­wei­se wich­ti­ger ist als kör­per­li­che Unver­sehrt­heit (trotz ver­gleichs­wei­se dich­ten Ver­kehrs haben wir auf vie­len Stre­cken kein Tem­po­li­mit, was man­che Anthro­po­lo­gen mit einer höhe­ren Wer­tig­keit der Pünkt­lich­keit in Ver­bin­dung brin­gen), ist die­sen Men­schen selbst­ver­ständ­lich. Das heißt, es ist nicht hin­ter­frag­bar, pünkt­lich sein zu müs­sen, und es ist in der Kon­se­quenz für man­chen Auto­fah­rer (vor sich selbst) legi­tim, die Ver­kehrs­re­geln zu bre­chen. Sol­che Selbst­ver­ständ­lich­kei­ten sind Teil der Kul­tur, und Kul­tur ist der Besitz einer Grup­pe, die ich ver­las­se, wenn ich flie­he oder ander­wei­tig migrie­re. Kul­tur ist kein Kon­zept, das man erler­nen könn­te. Das wol­len uns man­che Rat­ge­ber weis­ma­chen, aber Kul­tur reicht viel tie­fer als das, was beschreib­bar ist. Die Tech­ni­ken einer ande­ren Kul­tur zu erler­nen, geht weit über das flie­ßen­de Spre­chen einer ande­ren Spra­che hin­aus. Im Kern besteht eine Kul­tur aus – kaum beschreib­ba­ren – Annah­men über den Men­schen, die Zeit, den Raum etc. Wir müs­sen uns nun vor­stel­len, dass uns unse­re Kul­tur umhüllt – wir wis­sen ganz selbst­ver­ständ­lich, wie man etwas macht, wie man auf­ein­an­der zugeht, was sich in bestimm­ten Situa­tio­nen schickt und was nicht. Men­schen, die das Gebiet unse­rer Kul­tur betre­ten, wis­sen dies nicht. Ein Sprach­kurs ist nur eine Art not­wen­di­ge Vor­aus­set­zung, für das Erler­nen von Kul­tur hin­rei­chend ist er – so inten­siv er sein mag – zunächst nicht.

Ich mei­ne des Wei­te­ren, dass man Kul­tur nicht leh­ren kann, son­dern durch kon­kre­te Inter­ak­ti­on erler­nen muss. Es hilft nur bedingt, wenn mir jemand erklärt, wie die Ange­hö­ri­gen einer bestimm­ten Kul­tur „ticken“. Wenn ich wirk­lich wis­sen will, wie eine Kul­tur funk­tio­niert, wenn ich die Tech­ni­ken der betref­fen­den Kul­tur erler­nen will, dann muss ich dies anhand der kul­tur­spe­zi­fi­schen Reak­tio­nen der Ange­hö­ri­gen der betref­fen­den Kul­tur tun. Durch die schlich­te Erläu­te­rung weiß ich noch nicht, wie sich das anfühlt, was ich kon­kret tun muss.

Wenn wir uns nun vor­stel­len, dass Kul­tur eine Art „Umhül­lung“, bestehend aus Sym­bo­len und den Regeln zu ihrem Gebrauch und Ver­ständ­nis, dar­stellt, dann bedeu­tet Flucht oder Migra­ti­on, eine Umhül­lung (Hei­mat) zu ver­las­sen und eine neue, frem­de Umhül­lung zu betre­ten. Man kann ein Land ver­las­sen und sich in einem ande­ren zu inte­grie­ren ver­su­chen. Man kann in einer Art Tran­sit zwi­schen bei­den Län­dern ver­har­ren oder sich in dem neu­en Land einen Ort suchen, an dem man mög­lichst umfas­send von sei­ner ursprüng­li­chen Kul­tur umge­ben ist. Wir wol­len die­se unter­schied­li­chen Gra­de des Ver­las­sens, des Ankom­mens und des „Schwe­bens“ dazwi­schen als „Tran­sit­zo­nen“ bezeichnen.

Wie bereits ange­deu­tet, hal­te ich es für hilf­reich, zwi­schen Flucht und Migra­ti­on zu unter­schei­den. Auf­grund des grö­ße­ren Bedeu­tung des Flücht­lings­schut­zes in der deut­schen Rechts­la­ge haben wir es in der täg­li­chen Pra­xis mit einer Ver­mi­schung bei­der Arten zu tun – Migran­ten geben sich (aus indi­vi­du­ell oft recht ver­ständ­li­chen Grün­den) als Flücht­lin­ge aus. Als exem­pla­ri­scher Beleg mag die Aus­sa­ge der lei­ten­den Per­son einer gro­ßen Erst­auf­nah­me­ein­rich­tung gel­ten, nach der etwa die Hälf­te der Ankom­men­den tat­säch­lich eine Geschich­te über Krieg, Ver­fol­gung, Bedro­hung und Not zu erzäh­len hät­ten. Die ande­re Hälf­te käme mit, weil sie es könn­te. Das Pro­blem dabei: Bei uns kom­men Men­schen aus ande­ren Län­dern und dem­entspre­chend mit ande­ren Selbst­ver­ständ­lich­kei­ten an. Wir ken­nen ihren Sym­bol­ge­brauch nicht, wir kön­nen oft gar nicht wis­sen, was wahr ist und was erfun­den. Und bei den erfun­de­nen Geschich­ten gibt es ver­ständ­li­che Not­lü­gen, min­des­tens aber auch instru­men­tel­le Not­lü­gen und getarn­te Inter­es­sen bis hin zur Tar­nung der Absicht, im Ziel­land schwe­re bis schwers­te Straf­ta­ten zu bege­hen. Wir kön­nen es nicht wis­sen, müs­sen es aber prü­fen (zumin­dest das ent­spre­chen­de Bun­des­amt und die betref­fen­den Gerich­te). Dabei gesche­hen Feh­ler – und zwar in bei­de Rich­tun­gen. Des Wei­te­ren sind Trends zu beob­ach­ten – Men­schen aus bestimm­ten Län­dern kom­men in bestimm­ten Zeit­räu­men gehäuft, was teil­wei­se mit den Ereig­nis­sen in den betref­fen­den Län­dern nicht voll­stän­dig zu plau­si­bi­li­sie­ren ist.

Am Ende haben wir aber kei­ne ande­re Mög­lich­keit, als den Ein­zel­fall zu prü­fen. Unse­re Wer­te ver­bie­ten, Hil­fe zu ver­wei­gern. Das Pro­blem ist fest­zu­stel­len, wem wir wei­ter­hin hel­fen und wem nicht. Wir kön­nen sicher nicht jedem hel­fen, denn es gibt eine nicht gerin­ge Men­ge Men­schen, die das aus­nut­zen wür­den – von den Abhän­gig­kei­ten, die dadurch ent­ste­hen wür­den, ganz zu schwei­gen. Es wäre also dumm, die Gren­zen nicht zu kon­trol­lie­ren, auch wenn wir nicht alles kon­trol­lie­ren kön­nen. Es geht um die Signa­le, die dies aus­sen­det. Ande­rer­seits haben wir denen, die dar­um ersu­chen, erst ein­mal zu hel­fen. Wir dür­fen nie­man­dem Hil­fe ver­wei­gern, wenn er dar­um bit­tet. Wir kön­nen aber wohl sei­ne Umstän­de prü­fen – bei allen Feh­lern, die dabei pas­sie­ren. Es gibt kei­ne ande­re Mög­lich­keit. Die Fra­ge ist aller­dings sehr wohl, wie schnell wir dies tun und wie kon­se­quent bzw. mit wel­chen Konsequenzen.

Was pas­siert, wenn wir nicht schnell entscheiden? 

Im Grun­de ist es ein ein­fa­ches Sche­ma: jemand kommt an, stellt einen Asyl­an­trag und wird aner­kannt oder nicht. Wenn die betref­fen­de Per­son als Flücht­ling aner­kannt wird, gibt es wie­der zwei Mög­lich­kei­ten: die betref­fen­de Per­son bleibt eine Wei­le hier und kehrt, wenn der Krieg oder die ander­wei­tig bedroh­li­che Situa­ti­on abflaut, in ihr Hei­mat­land zurück – oder sie bleibt hier. Wenn die betref­fen­de Per­son bleibt, gibt es wie­der­um zwei Mög­lich­kei­ten: sie inte­griert sich/wird inte­griert oder sie inte­griert sich nicht/wird nicht inte­griert. In letz­te­rem Fall gerät die Per­son in eine Art „Lim­bo“, also in eine Art unbe­stimm­ter Zwi­schen­welt. Die „Lösung“ ist dann oft, in ein „Ghet­to“ zu zie­hen. Von Inte­gra­ti­on kann dann kei­ne Rede mehr sein.

Der „psy­cho­lo­gi­sche Ver­lauf“ die­ses Nicht-Ankom­mens ist nicht unähn­lich dem, was Lang­zeit­ar­beits­lo­sen pas­siert: einer Pha­se der Erho­lung nach den mit­un­ter unvor­stell­ba­ren Stra­pa­zen der Flucht folgt eine Pha­se des Opti­mis­mus, der Offen­heit, der Hoff­nung. Wird die­se Zeit jedoch mit War­ten auf den Bescheid ver­bracht, dämpft sich die Stim­mung bereits. Es gibt weni­ge Din­ge, die einem Men­schen die Hoff­nung schnel­ler und effek­ti­ver rau­ben kön­nen, als Unge­wiss­heit. Kann ich blei­ben? Muss ich zurück? Wenn ich blei­be, was kann ich machen?

Das Pro­blem ist, dass die Zeit­fens­ter der Moti­vier­bar­keit, der Hoff­nung usw. oft viel kür­zer sind, als allein die Ver­fah­ren zur Ent­schei­dung über den Auf­ent­halts­sta­tus brau­chen. Die Fol­ge ist ein lang­sa­mes Abglei­ten in die Hoff­nungs­lo­sig­keit – die Psy­che schützt sich selbst durch Teil­nahms­lo­sig­keit – oder die betref­fen­den Men­schen begin­nen, sich mit Hil­fe ihrer Com­mu­ni­ties in Deutsch­land selbst zu orga­ni­sie­ren. Auch dies kann zum Gelin­gen füh­ren – oder nicht.

Die nicht gelin­gen­den Ankom­mens­pro­zes­se stel­len bzgl. der ankom­men­den Gene­ra­ti­on in der Regel kein Pro­blem dar: die Her­kunfts­kul­tur bleibt wirk­sam, und in den ent­spre­chen­den „Ghet­tos“ kann man leben, ohne Teil der Kul­tur des Ziel­lan­des zu wer­den. Man ver­bleibt in Wer­ten und Spra­che des Her­kunfts­lan­des. Schwie­ri­ger ist es für die Nach­kom­men die­ser nicht ange­kom­me­nen Men­schen: für sie ist weder die Her­kunfts­kul­tur bin­dend (teil­wei­se schon, aber nicht mehr voll­stän­dig sozia­li­sie­rend, weil die Insti­tu­tio­nen des Her­kunfts­lan­des feh­len) noch die Kul­tur des Ziel­lan­des, was ein dop­pel­tes Nicht-Ankom­men, eine Art „Hei­mat­lo­sig­keit“ bedeu­tet. Dies wird dann in eini­gen Fäl­len zu einem Vaku­um, das nur zu emp­fäng­lich für radi­ka­le Ten­den­zen ist.

Ähn­li­che Din­ge gesche­hen jenen, die nicht ankom­men kön­nen, weil ihre Asyl­an­trä­ge abge­lehnt wer­den, der Abschie­bung aber bestimm­te Hin­der­nis­se ent­ge­gen­ste­hen. Die­se Men­schen wer­den – teil­wei­se jah­re­lang – mehr oder min­der bewusst in jenen „Lim­bo“ ver­la­gert („Dul­dung“), der bei­na­he zwangs­läu­fig in Ver­zweif­lung (pas­siv) oder – selbst­or­ga­ni­sier­te – Gegen­re­ak­tio­nen (aktiv) füh­ren muss.

All dies sind Argu­men­te dafür, deut­lich schnel­le­re Ver­fah­ren zu orga­ni­sie­ren und Ein­wan­de­rungs­ge­set­ze zu ver­ab­schie­den. Es ist aber auch ein Appell an die­je­ni­gen, die Inte­gra­ti­on leis­ten kön­nen – es liegt viel mehr Arbeit vor uns, als die Ver­tre­ter einer – an und für sich ja zunächst ein­mal gut gemein­ten – Will­kom­mens­kul­tur womög­lich geahnt haben. Gera­de ange­sichts des Umstands, dass es sehr lan­ge dau­ert, bis ich Spra­che und Kul­tur erler­ne – auch wenn mir die Kul­tur dabei ent­ge­gen­kom­men mag – sind wesent­lich grö­ße­re Anstren­gun­gen not­wen­dig, als wir bis­her rea­li­sie­ren. Wir soll­ten die Inte­gra­ti­on nicht der Bun­des­agen­tur für Arbeit, den Job­cen­tern und den Jugend­äm­tern über­las­sen. Es braucht viel Inter­ak­ti­on mit ganz nor­ma­len Deut­schen – Hand­werks­meis­tern etwa. Und es braucht womög­lich eine bewuss­te­re Steue­rung des Zuzugs und der Inte­gra­ti­on, was auch heißt, dass wir eine Ant­wort auf die Fra­ge brau­chen, wie vie­le Men­schen wir auf­neh­men wol­len und kön­nen – und wie vie­le davon wir inte­grie­ren wol­len und können.

Jörg Hei­dig

Von Jörg Heidig

Jörg Heidig, Jahrgang 1974, nach Abitur und Berufsausbildung in der Arbeit mit Flüchtlingen zunächst in Deutschland und anschließend für mehrere Jahre in Bosnien-Herzegowina tätig, danach Studium der Kommunikationspsychologie, anschließend Projektleiter bei der Internationalen Bauausstellung in Großräschen, seither als beratender Organisationspsychologe, Coach und Supervisor für pädagogische Einrichtungen, soziale Organisationen, Behörden und mittelständische Unternehmen tätig. 2010 Gründung des Beraternetzwerkes Prozesspsychologen. Lehraufträge an der Hochschule der Sächsischen Polizei, der Dresden International University, der TU Dresden sowie der Hochschule Zittau/Görlitz.