Der Unterschied zwischen Selbstreflexion und Selbstrotation

Hat ein unsi­che­rer Mensch den Mut, der (erlern­ten) Welt irgend­wann sei­ne eige­ne Deu­tung ent­ge­gen­zu­set­zen? Das macht den Unter­schied zwi­schen Selbst­re­fle­xi­on und Selbstro­ta­ti­on. Wer unsi­cher bleibt und nicht wagt, wird wei­ter um sich selbst rotie­ren, in den Äuße­run­gen der ande­ren krampf­haft nach Signa­len des Ver­ständ­nis­ses und der Akzep­tanz suchen, die dann in ein (simu­lier­tes, kaum ech­tes) Selbst-Ver­ständ­nis und eine simu­lier­te Selbst-Akzep­tanz umge­wan­delt wer­den. Mit der Fol­ge, dass der Ver­dacht, man könn­te nicht echt sein, immer stär­ker wird.

Anders for­mu­liert: Gera­de in Hel­fer­be­ru­fen sind unsi­che­re Men­schen über­durch­schnitt­lich häu­fig ver­tre­ten. Für vie­le ist die Rol­le des Hel­fers oder der Hel­fe­rin so etwas wie ein „kom­pen­sa­to­ri­sches Selbst­bild“. Sie sind sich im rea­len Leben selbst nicht genug, mögen sich nicht, wie sie sind. Oder sie sind in sozia­len Situa­tio­nen unsi­cher, wis­sen bspw. in vie­len Situa­tio­nen nicht, wie sie han­deln sol­len. Erle­ben sie dann, wie es ist, ande­ren Men­schen zu hel­fen, wer­den sie plötz­lich ruhi­ger: Nun sind sie wer, haben eine Rol­le, spü­ren Dank­bar­keit. Die­je­ni­gen Inha­ber von Hel­fer­be­ru­fen, auf die das zutrifft, soll­ten genug Selbst­re­fle­xi­on betrie­ben haben, um dies nicht nur zu wis­sen, son­dern im Griff zu haben.

Nicht umsonst gehört eine tüch­ti­ge Por­ti­on Selbst­er­fah­rung zu jeder guten psy­cho­lo­gi­schen oder sozi­al­päd­ago­gi­schen Aus­bil­dung – scha­de, dass das in den letz­ten bei­den Jahr­zehn­ten zuguns­ten der rei­nen Wis­sens- und Metho­den­ver­mitt­lung immer weni­ger gewor­den ist.

Mei­ne Befürch­tung ist, dass vie­le nur so tun, als sei­en sie reflek­tiert – die beschäf­ti­gen sich mit sich selbst mit dem Ziel der Selbst­be­stä­ti­gung, nicht der Selbst­er­kennt­nis. Da liegt der Unterschied.

Jörg Hei­dig

Von Jörg Heidig

Jörg Heidig, Jahrgang 1974, nach Abitur und Berufsausbildung in der Arbeit mit Flüchtlingen zunächst in Deutschland und anschließend für mehrere Jahre in Bosnien-Herzegowina tätig, danach Studium der Kommunikationspsychologie, anschließend Projektleiter bei der Internationalen Bauausstellung in Großräschen, seither als beratender Organisationspsychologe, Coach und Supervisor für pädagogische Einrichtungen, soziale Organisationen, Behörden und mittelständische Unternehmen tätig. 2010 Gründung des Beraternetzwerkes Prozesspsychologen. Lehraufträge an der Hochschule der Sächsischen Polizei, der Dresden International University, der TU Dresden sowie der Hochschule Zittau/Görlitz.