Wissensentwicklung

Ken­nen Sie die Geschich­te vom Erfin­der des Schach­spiels? Der war stolz auf sei­ne Erfin­dung und lief zu sei­nem Herr­scher, um sei­ne Erfin­dung vor­zu­füh­ren. Der wie­der­um war begeis­tert und sag­te dem Erfin­der, er kön­ne einen Lohn für sei­ne Erfin­dung bestim­men. Der Erfin­der mein­te, er hät­te gern die Men­ge Rei­ses, die zusam­men­kommt, wenn man den Fel­dern des Schach­bret­tes Reis­kör­ner nach dem fol­gen­den Mus­ter zuord­net – auf dem ers­ten Feld 1, auf dem zwei­ten 2, auf dem drit­ten 4, auf dem vier­ten 8 und so wei­ter jeweils dop­pelt so vie­le wie auf dem vor­her­ge­hen­den Feld. Was dem Herr­scher dar­auf­hin als lächer­li­cher Lohn vor­kam, stell­te sich als nie zu erbrin­gen­de Men­ge her­aus: der Reis­hau­fen auf dem 64. Feld wäre grö­ßer als der höchs­te Berg der Erde. Bis zum 32. Feld bewegt sich die Men­ge Rei­ses noch in Dimen­sio­nen, die auf grö­ße­ren Fel­dern anzu­bau­en ist; ab dem 33. Feld, also beim Über­gang auf die zwei­te Hälf­te des Schach­bretts, wird die Men­ge für mensch­li­che Ver­hält­nis­se zu groß. In ihrem sehr lesens­wer­ten Buch “Race against the Machi­ne” haben Bryn­jolfs­son & McA­fee, Wirt­schafts­wis­sen­schaft­ler am MIT, die­se Meta­pher auf die aktu­el­le tech­no­lo­gi­sche Ent­wick­lung ange­wen­det: Bis­her habe die tech­ni­sche Ent­wick­lung auf der ers­ten Hälf­te des Schach­bretts statt­ge­fun­den, was aber pas­siert, wenn die Ent­wick­lung auf die zwei­te Hälf­te des Schach­bret­tes gerät? Ver­lie­ren die Men­schen dann das “Ren­nen gegen die Maschi­ne” oder gibt es ande­re Mög­lich­kei­ten der Gestal­tung des Ver­hält­nis­ses zwi­schen Men­schen und Maschi­nen in der Zukunft?

Es stellt sich die Fra­ge, ob es sich mit dem Wis­sen ähn­lich ver­hält wie mit der Rech­ner­ka­pa­zi­tät: Letz­te­re ver­dop­pelt sich etwa alle ander­halb Jah­re (Moore’s Law; vgl. Bryn­jolfs­son & McA­fee 2011); ers­te­res ver­dop­pelt sich je nach Dis­zi­plin etwa genau­so schnell oder etwas lang­sa­mer, nimmt jeden­falls ähn­lich rapi­de zu. Frei­lich könn­te man fra­gen, ob alles, was da publi­ziert, gesagt oder prä­sen­tiert wird, wirk­lich die Bezeich­nung Wis­sen ver­dient. Ohne das hier aus­zu­dis­ku­tie­ren, bleibt fest­zu­hal­ten: Es wird schnell mehr, und es ist nicht mehr über­schau­bar. Nun ist die Fra­ge, wie man sich da Über­blick ver­schafft. In der didak­ti­schen Dis­kus­si­on kommt man an die­ser Stel­le zu der Fra­ge, ob man tat­säch­lich Wis­sen ver­mit­telt oder lie­ber die Kom­pe­tenz, sich selbst zu ori­en­tie­ren. Und das nicht nur nach dem Mot­to: “Man muss es nicht wis­sen, aber man muss wis­sen, wo es steht.”, son­dern als eine Art Ori­en­tie­rungs­ge­spür, als Ahnung davon, wie Ler­nen funk­tio­niert, als Kom­pe­tenz, sich neue Land­schaf­ten zu erschlie­ßen und sie im Sin­ne der “Wis­sen-schafft” weiterzuentwickeln.

Von Jörg Heidig

Jörg Heidig, Jahrgang 1974, nach Abitur und Berufsausbildung in der Arbeit mit Flüchtlingen zunächst in Deutschland und anschließend für mehrere Jahre in Bosnien-Herzegowina tätig, danach Studium der Kommunikationspsychologie, anschließend Projektleiter bei der Internationalen Bauausstellung in Großräschen, seither als beratender Organisationspsychologe, Coach und Supervisor für pädagogische Einrichtungen, soziale Organisationen, Behörden und mittelständische Unternehmen tätig. 2010 Gründung des Beraternetzwerkes Prozesspsychologen. Lehraufträge an der Hochschule der Sächsischen Polizei, der Dresden International University, der TU Dresden sowie der Hochschule Zittau/Görlitz.