Der qualitative Forschungsprozess

Para­dig­ma­ti­sche Homogenisierung

Im Grun­de han­delt es sich bei der qua­li­ta­ti­ven Per­spek­ti­ve auf den ers­ten Blick um ein „irgend­wie ande­res“ Para­dig­ma. Wenn sich Men­schen, die Psy­cho­lo­gie stu­diert haben, über For­schungs­me­tho­den unter­hal­ten, tun sie das häu­fi­ger aus dem Blick­win­kel quan­ti­ta­ti­ver For­schungs­me­tho­den und weni­ger häu­fig aus einer qua­li­ta­ti­ven Per­spek­ti­ve. Der Grund dafür ist in der rela­tiv weit­ge­hen­den para­dig­ma­ti­schen Homo­ge­ni­sie­rung der For­schungs­me­tho­den in der Psy­cho­lo­gie zu suchen. Quan­ti­ta­ti­ve Metho­den sind unter einem Groß­teil von Psy­cho­lo­gin­nen und Psy­cho­lo­gen nicht nur plau­si­bel und zustim­mungs­fä­hig, sie sind auch plau­sibler und zustim­mungs­fä­higer als qua­li­ta­ti­ve Metho­den, was sich spä­tes­tens dar­in äußert, dass die Ver­mitt­lung quan­ti­ta­ti­ver Metho­den in psy­cho­lo­gi­schen Stu­di­en­gän­gen selbst­ver­ständ­li­cher ist als die Ver­mitt­lung qua­li­ta­ti­ver Methoden.

Dabei han­delt es sich gar nicht so sehr um ein „ande­res Para­dig­ma“, was ja irgend­wie die Per­spek­ti­ve von „dem einen“ auf „ein ande­res“ Para­dig­ma impli­ziert, son­dern um eine Sicht­wei­se auf die Welt, von der aus man die quan­ti­ta­ti­ve Per­spek­ti­ve eben­falls als eine „ande­re Sicht­wei­se“ bezeich­nen könn­te. Bei­de Per­spek­ti­ven ste­hen für sich, las­sen sich nicht ver­ei­nen (ver­bin­den schon, aber nicht ver­ei­nen). Es ist nicht hilf­reich, etwa zu ver­su­chen, die Güte­kri­te­ri­en der „einen“ auf die „ande­re“ Welt zu über­tra­gen und umge­kehrt. Hilf­rei­cher ist, bei­de Per­spek­ti­ven als das zu betrach­ten, was sie sind: Ver­schie­de­ne Per­spek­ti­ven, sich der Welt zu nähern – und sich dar­aus erge­ben­de Set­tings und Werk­zeu­ge. Und die Welt ist kom­pli­ziert genug, als dass die Anwen­dung bei­der Per­spek­ti­ven Sinn macht — anstel­le lan­ge Dis­kus­sio­nen über die Fra­ge zu füh­ren, war­um die eine Per­spek­ti­ve irgend­wie „bes­ser“ oder „wis­sen­schaft­li­cher“ sei als die ande­re. (Wis­sen­schaft­le­rin­nen und Wis­sen­schaft­ler geben gern vor, um Erkennt­nis­se zu rin­gen, ver­mei­den tat­säch­li­chen Dia­log aber oft mit lan­gen Dis­kus­sio­nen über die ver­meint­lich „rich­ti­ge“ Metho­do­lo­gie oder ver­meint­lich „adäqua­te“ Methoden.)

Was ist eigent­lich Wissenschaft?

Im Grun­de muss man sich zunächst fra­gen, was Wis­sen­schaft eigent­lich ist. Man stel­le sich die Welt unse­rer evo­lu­tio­nä­ren Anpas­sung vor. Es galt dort viel­leicht das Recht des stär­ke­ren Indi­vi­du­ums. Irgend­wann wur­de das Recht des Stär­ke­ren durch Prin­zi­pi­en wie „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ ersetzt. Das mag uns aus heu­ti­ger Sicht zwar bru­tal vor­kom­men, war aber ein Fort­schritt gegen­über jenem „Recht“, mit den Ange­hö­ri­gen der „schul­di­gen“ oder „besieg­ten“ Sei­te ein­fach machen zu kön­nen, was man will. Wenn man ehr­lich ist, sieht man, dass jenes Recht des Stär­ke­ren heu­te auf der Welt kei­nes­wegs aus­ge­stor­ben ist. Man muss sich des­halb fra­gen, was zur Zivi­li­sie­rung führt — und das ist letzt­lich die Zustim­mung zu bestimm­ten Ver­fah­rens­re­geln. Heu­te haben wir Poli­zei, Gerich­te, Media­ti­on und wei­te­re Mög­lich­kei­ten der „Ersatz­kom­mu­ni­ka­ti­on“, um Strei­tig­kei­ten zu klä­ren. Man muss sich die Vor­stu­fen und den lan­gen Weg zu unse­ren heu­ti­gen Insti­tu­tio­nen vor­stel­len. Etwas wird dann zu einer Insti­tu­ti­on, wenn alle Ange­hö­ri­gen des Gel­tungs­be­rei­ches der Insti­tu­ti­on einer­seits der Insti­tu­ti­on zustim­men und ande­rer­seits von die­ser (in etwa) gleich behan­delt wer­den. Gerich­te sind Insti­tu­tio­nen, Behör­den sind Insti­tu­tio­nen, die Poli­zei ist hof­fent­lich auch eine Insti­tu­ti­on — in Deutsch­land sehr wohl, in man­chen ande­ren Län­dern weiß man das nicht so genau; die Kor­rup­ti­on ist wahr­schein­lich der größ­te Feind der Institution.

Wenn man ver­stan­den hat, was eine Insti­tu­ti­on ist, ver­steht man auch in etwa, was die Wis­sen­schaft sein könn­te. Begin­nen wir noch ein­mal in der Welt unse­rer evo­lu­tio­nä­ren Anpas­sung: Irgend­wann haben Men­schen ange­fan­gen, sich zu klei­den. Wir wer­den nie her­aus­fin­den, wie die­se Anfän­ge wirk­lich aus­ge­se­hen haben, aber der Umstand, dass Men­schen kaum oder kein Fell haben, zu Tei­len aber in Brei­ten leben, in denen es zusätz­li­cher Mit­tel bedarf, um die Kör­per­tem­pe­ra­tur kon­stant zu hal­ten, lässt den Ursprung der Klei­dung plau­si­bel erschei­nen. Neh­men wir an, dass jemand über die Ver­wen­dung von Fel­len nach­ge­dacht und ver­schie­de­nes aus­pro­biert hat. Sol­cher­lei Ver­such und Irr­tum wird zu den ers­ten Stu­fen der Halt­bar­ma­chung von Fel­len geführt haben. Spä­ter wur­den dar­aus die Ger­ber, die ihr Wis­sen an immer neue Gene­ra­tio­nen wei­ter­ga­ben und ihr Wis­sen dabei aus­bau­ten, ohne immer gleich an den Anfang von Ver­such und Irr­tum zurück­zu­ge­hen. Durch die Geschich­te hin­durch ergibt sich so eine gewis­se Ent­wick­lung, eine gewis­se „Höher­sti­li­sie­rung“ von Kul­tur­tech­ni­ken. Aus den Ger­bern wur­den spä­ter viel­leicht unse­re heu­ti­gen Che­mi­ker… und so weiter.

Der Ursprung die­ser Ent­wick­lung ist letzt­lich die Spra­che. Bei der Spra­che han­delt es sich um den Gebrauch von signi­fi­kan­ten Sym­bo­len zur Hand­lungs­ko­or­di­na­ti­on. Der Unter­schied zur rei­nen Ver­hal­tens­ko­or­di­na­ti­on ande­rer Säu­ge­tie­re besteht in der Art des Sym­bol­ge­brauchs. Wäh­rend etwa für Warn­ru­fe unter Tie­ren in der Regel der Reiz (bspw. ein Adler) anwe­send sein muss, kön­nen Men­schen ver­mit­tels der Ver­wen­dung signi­fi­kan­ter Sym­bo­le die Anwe­sen­heit des Rei­zes und den Ablauf des dar­auf fol­gen­den Ver­hal­tens simu­lie­ren. Den­ken ist dem­ge­mäß Pro­be­han­deln. Men­schen müs­sen bestimm­te Erfah­run­gen nicht immer wie­der machen, um dar­aus zu ler­nen. Gleich­zei­tig über­schrei­ten eini­ge der mensch­li­chen Lern­ef­fek­te bei Wei­tem die Ebe­ne direk­ter Kon­di­tio­nie­run­gen. Men­schen kön­nen sich etwas ein­fal­len las­sen und etwas aus­pro­bie­ren. Sie kön­nen Erfolg fest­stel­len und die Pro­ze­du­ren zur Her­stel­lung des Erfolgs ver­all­ge­mei­nern und wei­ter­ge­ben. Und vor allem, und das ist das Wesent­li­che: Men­schen kön­nen durch Spra­che nicht nur ein­zeln, son­dern auch im Ver­band han­deln, also im Ver­band Vor­ge­hens­wei­sen aus­wer­ten, simu­lie­ren, vari­ie­ren und die erfolg­ver­spre­chen­den Vari­an­ten weitergeben.

Was ist Hermeneutik?

So ähn­lich kann man sich das bei der Wis­sen­schaft vor­stel­len: Man könn­te bspw. die Her­me­neu­tik, also die Kunst des Aus­le­gens bzw. der Inter­pre­ta­ti­on von Tex­ten, als ein Pro­dukt der lan­gen Aus­ein­an­der­set­zung mit Tex­ten — zunächst vor allem: hei­li­gen Tex­ten — ver­ste­hen. Man ver­tieft sich in den Text, denkt dar­über nach, ver­tieft sich wie­der, denkt noch ein­mal dar­über nach, fin­det in der rea­len Welt Bei­spie­le oder Bele­ge, ver­all­ge­mei­nert die Erkennt­nis­se und kehrt nun ein letz­tes Mal zum Text zurück, um Bele­ge (in die­sem Fall viel­leicht: Zita­te) für das ent­stan­de­ne Bild der Din­ge zu fin­den. Ver­ste­hen Sie? So unge­fähr kön­nen wir uns die extrem lang­sa­me und feh­ler­an­fäl­li­ge und vor allem auto­ri­täts­ver­zerr­te Erkennt­nis­ent­wick­lung in den frü­he­ren Buch­wis­sen­schaf­ten — allen vor­an in der Theo­lo­gie — vorstellen.

Erkun­dung vs. Überprüfung

Aber so geht es eben heu­te auch noch: Wenn ich einen Text ver­ste­hen will, muss ich den Text lesen, muss ich mich dem Text nähern, mich wie­der ent­fer­nen, den Text durch die Ver­knüp­fung mit ande­ren Dingen/Texten/Anwendungsbeispielen/Vergleichsobjekten usw. ver­ste­hen ler­nen, ver­schie­de­ne Fra­gen an den Text rich­ten, mich wie­der annä­hern, die Welt oder einen Aus­schnitt der Welt durch den Text hin­durch betrachten…

Ich muss mei­ne Erkennt­nis­se sam­meln und sys­te­ma­ti­sie­ren und durch Anwen­dung am Text über­prü­fen. Durch das Lesen eines Tex­tes ist mir etwas klar­ge­wor­den. Ich voll­zie­he nach, wie mir das klar gewor­den ist — in der Regel durch etwas, das in dem Text vor­kommt und in mei­nem Leben oder in mei­nen Gedan­ken ein Echo her­vor­ruft. Dann prü­fe ich durch erneu­te Lek­tü­re, ob das, was mir klar gewor­den zu sein scheint, einem zwei­ten Blick stand­hält. Dann suche ich nach wei­te­ren Bei­spie­len, ich ver­su­che zu ver­all­ge­mei­nern. Mir fal­len Quer­ver­bin­dun­gen zu ande­ren Gedan­ken oder Phä­no­me­nen oder Bei­spie­len auf. Viel­leicht bin ich wirk­lich auf etwas gekom­men, das sich all­ge­mein­gül­tig oder begrenzt all­ge­mein­gül­tig for­mu­lie­ren lässt.

Die schein­ba­re Über­le­gen­heit der (quan­ti­ta­ti­ven) Methode

Die Fra­ge ist, was den Unter­schied zwi­schen „qua­si-plau­si­bler Lebens­weis­heit“ und tat­säch­li­cher Erkennt­nis aus­macht. Vie­le kön­nen sich mit Tex­ten oder ande­ren Daten­quel­len beschäf­ti­gen, ohne jemals die Ebe­ne des­sen zu ver­las­sen, was wir schon wis­sen. Viel­leicht ist es eine Kom­bi­na­ti­on aus Glücks­fall und Kunst­fer­tig­keit, wirk­lich etwas Neu­es zu finden.

In jedem Fall blei­ben qua­li­ta­ti­ve Vor­ge­hens­wei­sen einer gewis­sen Unwäg­bar­keit, wenn nicht Belie­big­keit, unter­wor­fen. Viel­leicht ist das der Umstand, der qua­li­ta­ti­ve Metho­den so anfäl­lig für Kri­tik macht: Wie über­le­gen wirkt vor die­sem Hin­ter­grund die Ent­de­ckung der expe­ri­men­tel­len Methode!

Die Über­le­gen­heit der Metho­de sei an einem Bei­spiel illus­triert: Zu Beginn der Manage­ment-Leh­re war man auf gelin­gen­de Bei­spie­le ange­wie­sen. Im Unter­neh­men X haben genau die­se Prin­zi­pi­en zum Erfolg geführt. Im Unter­neh­men Y müs­se man daher nur die­se Prin­zi­pi­en anwen­den, um… Was aber im Unter­neh­men X viel­leicht tat­säch­lich zum Erfolgt geführt hat, kann, muss aber nicht, auch für Unter­neh­men Y gel­ten. Viel­leicht war die Aus­gangs­la­ge ver­gleich­bar, viel­leicht han­del­te es sich sogar um Unter­neh­men aus der glei­chen Bran­che, den­noch hat die Über­tra­gung der Rezep­te aus Unter­neh­men X in dem ande­ren Unter­neh­men nicht zum Erfolg geführt — oder doch, aber die Erklä­rung des Erfolgs oder Nicht­er­folgs war nicht nur von den her­aus­ge­ar­bei­te­ten Prin­zi­pi­en abhän­gig, son­dern von einer viel kom­ple­xe­ren Zusam­men­wir­kung unter­schied­lichs­ter Faktoren.

Best prac­ti­ce vs. Empirie

Das ist der Unter­schied zwi­schen Best-Prac­ti­ce-Ana­ly­sen und tat­säch­li­chen empi­ri­schen Ergeb­nis­sen: Das plau­si­bels­te Bei­spiel ist viel­leicht die Arbeit von Fre­de­ric Win­slow Tay­lor, der die Arbeit an Best-Prac­ti­ce-Bei­spie­len durch eine auf vie­le Fäl­le anwend­ba­re Metho­de der sys­te­ma­ti­schen — irgend­wie qua­si-expe­ri­men­tel­len — Beob­ach­tung ersetzt hat: Man neh­me einen durch­schnitt­li­chen Arbei­ter, vari­ie­re die Arbeits­be­din­gun­gen (bspw. Licht, Arbeits­zeit), die Arbeits­mit­tel (bspw. die Grö­ße der Schau­fel) oder die Kon­di­tio­nen (bspw. Lohn, freie Tage) und fin­de her­aus, unter wel­cher Bedin­gungs­kon­stel­la­ti­on die Leis­tung dau­er­haft am höchs­ten ist. Die (belie­bi­ge, schwer ver­all­ge­mei­ner­ba­re) Metho­de der Suche nach den „rich­ti­gen“ Prin­zi­pi­en (best prac­ti­ce), wur­de durch metho­di­sche Ermitt­lung all­ge­mein­gül­ti­ger Prin­zi­pi­en (aus­ge­drückt in Zah­len) ersetzt.

An die Stel­le der (begrenz­ten) exem­pla­ri­schen Ver­all­ge­mei­ner­bar­keit trat die tat­säch­li­che Ver­all­ge­mei­ner­bar­keit — bis klar wur­de, dass der Kata­log der berück­sich­tig­ten Fak­to­ren nicht voll­stän­dig war (und man begann, Fak­to­ren wie die indi­vi­du­el­le Moti­va­ti­on, die Qua­li­tät der Bezie­hung zur vor­ge­setz­ten Per­son usw. zu berück­sich­ti­gen; alles Din­ge, die man dann mit Hil­fe quan­ti­ta­ti­ver For­schung gut abbil­den und wei­ter­ent­wi­ckeln konnte).

Wie über­le­gen wirkt anhand die­ses Bei­spiels also die quan­ti­ta­ti­ve Metho­de gegen­über der irgend­wie „hum­peln­den“ fall­be­zo­ge­nen oder qua­li­ta­ti­ven Vor­ge­hens­wei­se? Die Ant­wort auf die­se Fra­ge lau­tet: Tay­lor hät­te sei­ne Metho­de wahr­schein­lich nie ent­deckt — er hät­te womög­lich nicht die ent­spre­chen­den Ideen gehabt — wenn es vor­her nicht eine Fül­le an bis dahin ver­füg­ba­rem Wis­sen gege­ben hät­te. Man ist also, so könn­te man ver­mu­ten, nur in eine nächs­te Ebe­ne des Wis­sens vor­ge­drun­gen, weil man die bis dato gege­be­nen Ebe­nen mit den bis dato vor­han­de­nen Metho­den hin­rei­chend erfasst hatte.

Die Quint­essenz des qua­li­ta­ti­ven Paradigmas

Hal­ten wir fest: Die der qua­li­ta­ti­ven Vor­ge­hens­wei­se zugrun­de lie­gen­den Metho­den sind zwar älter und irgend­wie unwäg­ba­rer und wir­ken im Ver­gleich zur quan­ti­ta­ti­ven Metho­de unter­le­gen, gleich­zei­tig wird aber deut­lich, dass quan­ti­ta­ti­ve Metho­den erst dann grei­fen kön­nen, wenn man schon genug weiß, um Fra­gen zu stel­len, die mit Hil­fe grö­ße­rer Zah­len beant­wort­bar sind.

Die Quint­essenz des qua­li­ta­ti­ven Para­dig­mas lässt sich viel­leicht wie folgt zusam­men­fas­sen: Um etwas Neu­es zu erfah­ren, ist die Ana­ly­se eines ein­zel­nen Falls oder die Befra­gung einer klei­nen Anzahl von kom­pe­ten­ten (erfah­re­nen) Ange­hö­ri­gen eines bestimm­ten Berei­ches hilf­rei­cher, als die Ana­ly­se grö­ße­rer Zahlen.

Die Ana­ly­se grö­ße­rer Zah­len kann gera­de im Fal­le neu­er oder unge­wöhn­li­cher Phä­no­me­ne den Blick trü­ben. Wenn man das Phä­no­men bereits kennt, kann man es natür­lich durch die Ana­ly­se grö­ße­rer Zah­len genau­er beschrei­ben. Aber wenn sich das Phä­no­men aus ver­schie­de­nen Grün­den der gro­ßen Zahl ent­zieht (durch rela­ti­ve Neu­heit oder bspw. auch durch den Umstand, dass es kaum mög­lich ist, dar­über zu spre­chen, weil es viel­leicht noch kei­ne Begrif­fe dafür gibt oder das Phä­no­men einem Tabu unter­liegt), dann erscheint es umso plau­si­bler, das Phä­no­men erst ein­mal zu erkun­den und zu ver­su­chen, das Typi­sche herauszuarbeiten.

Das kann man viel­leicht als Ziel qua­li­ta­ti­ver For­schung for­mu­lie­ren: Die Erkun­dung von etwas, über das wir noch zu wenig wis­sen oder über das wir noch nicht ange­mes­sen spre­chen kön­nen, weil das Wesent­li­che noch nicht ganz klar ist. Wir ver­su­chen mit qua­li­ta­ti­ver For­schung also, das Typi­sche her­aus­zu­ar­bei­ten. Nicht umsonst ist in qua­li­ta­ti­ven Metho­den oft von Typen­bil­dung die Rede.

Pro­to­ty­pi­sche Bei­spie­le (außer­halb der Psy­cho­lo­gie) sind viel­leicht (a) Dar­wins Ent­de­ckung evo­lu­tio­nä­rer Pro­zes­se (Selek­ti­on und Muta­ti­on) — durch die Anschau­ung der Welt ent­stan­den Ver­mu­tun­gen, die durch neu­er­li­che Anschau­ung der Welt irri­tiert oder belegt wur­den, bis die all­ge­mei­ne Erkennt­nis kla­rer wur­de (die sich Dar­win zunächst nicht zu ver­öf­fent­li­chen trau­te) oder (b) Are­ndts Beschrei­bung der Unmög­lich­keit der Assi­mi­la­ti­on deut­scher Juden im 19. Jahr­hun­dert anhand der Ana­ly­se einer ein­zel­nen Biographie.

Man bedarf zur Her­aus­ar­bei­tung des Typi­schen nicht der gro­ßen Zahl, im Gegen­teil: anhand der gro­ßen Zahl kann das pro­to­ty­pi­sche Phä­no­men irgend­wie „grau“ oder „ver­wäs­sert“ oder „wenig greif­bar“ wir­ken. Man muss die Welt erst gut genug begrif­fen haben, um sie in Zah­len gut beschrei­ben zu kön­nen. Immer dann, wenn man meint, dass die Welt noch nicht gut genug begrif­fen sei, ist es ggf. hilf­reich, sich jener älte­ren und weni­ger treff­si­che­ren, dafür aber eben für die­sen Anwen­dungs­fall pas­sen­de­ren Metho­de der erkun­den­den Annä­he­rung zu bedienen.

Der qua­li­ta­ti­ve Forschungsprozess

„Die wah­re For­schungs­me­tho­de gleicht einer Flug­bahn. Sie hebt ab von der Grund­la­ge ein­zel­ner Beob­ach­tun­gen, schwebt durch die dün­ne Luft phan­ta­sie­vol­ler Ver­all­ge­mei­ne­rung und ver­senkt sich dann wie­der in neue Beob­ach­tun­gen, die durch ratio­na­le Inter­pre­ta­ti­on geschärft sind.“

Alfred North Whit­ehead (1987, S. 34)

Wenn die­se Betrach­tung stimmt, dann geht es in den­je­ni­gen Fäl­len, in denen wir noch nicht genug über die betref­fen­de empi­ri­sche Welt wis­sen, um ver­mit­tels quan­ti­ta­ti­ver Metho­den adäqua­te Beschrei­bun­gen zu lie­fern, um die Erkun­dung (Explo­ra­ti­on) der betref­fen­den Welt mit­hil­fe geeigneter 

  • Beob­ach­tun­gen (etwa: teil­neh­men­de Beob­ach­tung) oder 
  • Befra­gun­gen (z.B. einer Rei­he für die betref­fen­de Welt kom­pe­ten­ter Per­so­nen) oder 
  • Ana­ly­sen (bspw. von Doku­men­ten aus dem rea­len Ver­wen­dungs­zu­sam­men­hang in dem betref­fen­den Kontext).

Die­se Erkun­dung ähnelt eher einer her­me­neu­ti­schen Vor­ge­hens­wei­se (Wech­sel aus Annä­he­rung und Distan­zie­rung, spä­ter Ein­be­zie­hung neu­er Bei­spie­le zur Schär­fung der Erkennt­nis­se) als einer quan­ti­ta­tiv-empi­ri­schen Pro­ze­dur, die eher prü­fend vor­geht, wes­halb in letz­te­rem Fall die Fra­gen bereits for­mu­lier­bar sein müs­sen, die man anhand der Aus­zäh­lung von Merk­ma­len bzw. anhand der gro­ßen Zahl beant­wor­ten möch­te. Der ers­ten Pha­se der Erkun­dung folgt die eben­so krea­ti­ve wie vor­sich­ti­ge Ver­all­ge­mei­ne­rung, die durch erneu­te Annä­he­rung an das bis­her vor­han­de­ne Mate­ri­al geschärft wird. Spä­ter wer­den wei­te­re Beob­ach­tun­gen, Befra­gun­gen oder Doku­men­ten­ana­ly­sen ange­stellt, um das bis­her Erkann­te wei­ter zu schär­fen, zu sät­ti­gen und zu überprüfen.

Der Über­gang von der Explo­ra­ti­on zur Schär­fung und dann wei­ter zur Sät­ti­gung und zur Über­prü­fung ist dabei flie­ßend. Wenn ein Kon­zept gesät­tigt ist, ist es in gewis­ser Wei­se bereits über­prüft, wes­halb bspw. im Rah­men des Ver­fah­rens der Groun­ded Theo­ry gilt: Wenn etwas gesät­tigt ist (= in wei­te­ren Erhe­bungs­schrit­ten nichts Neues/Korrigierendes mehr hin­zu­kommt), kann es auch als wahr gel­ten. Ande­re qua­li­ta­ti­ve Metho­den wäh­len nicht die Sät­ti­gung als Wahr­heits­kri­te­ri­um, son­dern die Zustim­mung: Stimmt die befragte/beobachtete/analysierte Per­son den Erkennt­nis­sen der Ana­ly­se zu, kön­nen die­se als (exemplarisch/subjektiv) wahr gel­ten. Im Sin­ne der oben von Whit­ehead beschrie­be­nen Flug­bahn ist fest­zu­hal­ten, dass sowohl die Erkun­dung als auch die Über­prü­fung mit den glei­chen Metho­den erfol­gen — in den Begrif­fen Blu­mers han­delt es sich hier um die Explo­ra­ti­on und die Inspek­ti­on. Ich mache prak­tisch qua­si immer das glei­che — ich erkun­de — durch den Auf­wuchs der Erkennt­nis­se ent­steht aber eben jene (exem­pla­ri­sche) Ver­all­ge­mei­ne­rung, die ich (oft zunächst noch unbe­wusst) anhand wei­te­rer Beob­ach­tun­gen, Befra­gun­gen oder Ana­ly­sen bereits schär­fe, spä­ter sät­ti­ge oder sogar bele­ge. Inner­halb des qua­li­ta­ti­ven Para­dig­mas rei­chen die Bele­ge anhand der bereits gewähl­ten Metho­de aus, was man ja wahl­wei­se durch Sät­ti­gung oder Zustim­mung nachweist.

Vie­le For­sche­rin­nen oder For­scher ent­schei­den sich hier jedoch für eine Kom­bi­na­ti­on der Metho­den — qua­li­ta­ti­ve Metho­den für die Explo­ra­ti­on, quan­ti­ta­ti­ve für die Über­prü­fung. Man erhebt qua­si neue Erkennt­nis­se durch Explo­ra­ti­on und über­prüft sie mit­hil­fe quan­ti­ta­ti­ver Metho­den. Die­se Kom­bi­na­ti­on ist in der Welt psy­cho­lo­gi­scher For­schung oft zustim­mungs­fä­hi­ger als eine rein qua­li­ta­ti­ve Vorgehensweise. 

Jörg Hei­dig

PS: Wie wesent­li­che qua­li­ta­ti­ve Bei­trä­ge zur psy­cho­lo­gi­schen For­schung aus­se­hen kön­nen, zeigt aus Sicht des Ver­fas­sers die­ses Bei­trags Peg­gy Szy­men­der­ski mit ihrer Arbeit über den emo­tio­na­len Umgang mit Belas­tun­gen bei der Polizei.

Von Jörg Heidig

Jörg Heidig, Jahrgang 1974, nach Abitur und Berufsausbildung in der Arbeit mit Flüchtlingen zunächst in Deutschland und anschließend für mehrere Jahre in Bosnien-Herzegowina tätig, danach Studium der Kommunikationspsychologie, anschließend Projektleiter bei der Internationalen Bauausstellung in Großräschen, seither als beratender Organisationspsychologe, Coach und Supervisor für pädagogische Einrichtungen, soziale Organisationen, Behörden und mittelständische Unternehmen tätig. 2010 Gründung des Beraternetzwerkes Prozesspsychologen. Lehraufträge an der Hochschule der Sächsischen Polizei, der Dresden International University, der TU Dresden sowie der Hochschule Zittau/Görlitz.