Methoden der Interviewführung

Die womög­lich offens­te Form des Inter­views ist die des nar­ra­ti­ven Inter­views, bei dem vor allem Wert auf eine geeig­ne­te Form des Ein­stiegs („Erzähl­auf­for­de­rung“) gelegt wird und die inter­view­en­de Sei­te sich ansons­ten stark zurück­hält. Wenn man sich aus­ge­hend vom nar­ra­ti­ven Inter­view als der womög­lich offens­ten Inter­view­va­ri­an­te ein Spek­trum bis hin zu fes­te­ren, eher „geschlos­se­nen“ Inter­view­va­ri­an­ten vor­stellt, dann bil­det ein Exper­ten­in­ter­view mit Leit­fa­den wahr­schein­lich das ande­re Ende des Spek­trums. Man kann Inter­view­for­men jeden­falls auf einem Spek­trum zwi­schen „offen & nicht oder wenig struk­tu­riert“ und „geschlos­sen & stark struk­tu­riert“ ord­nen. Wäh­rend man beim nar­ra­ti­ven Inter­view die inter­view­te Per­son in den Mit­tel­punkt stellt und die Din­ge, wel­che die Per­son zu sagen hat, mög­lichst wenig vor­struk­tu­rie­ren oder „trig­gern“ möch­te, geht man beim Leit­fa­den­in­ter­view davon aus, dass man sich dem Gegen­stand des Inter­es­ses soweit annä­hern kann, als dass man die Fra­gen für das Inter­view bereits for­mu­lie­ren und ord­nen kann.

Im Prin­zip ergibt sich die Wahl einer geeig­ne­ten Inter­view­me­tho­de aus dem For­schungs­in­ter­es­se und aus der Fra­ge, wie weit man sich vor­her an den For­schungs­ge­gen­stand annä­hern konn­te oder woll­te („unschar­fe Annä­he­rung“). Auf der einen Sei­te kann man nicht nichts über einen For­schungs­ge­gen­stand wis­sen oder den­ken. Eine „for­sche­ri­sche tabu­la rasa“ gibt es nicht, wie wir in einem ande­ren Text zu die­ser Vor­le­sung schon gese­hen hat­ten. Also muss man sich bei aller ggf. beab­sich­tig­ten Offen­heit des Inter­es­ses zumin­dest des­sen, was man schon weiß oder denkt, bewusst sein, damit man in den Daten (Inter­views, Beob­ach­tun­gen, Doku­men­te) nicht nur Facet­ten des­sen sieht, was man bereits weiß oder denkt. Es ist wie gesagt nicht ein­fach, im Zuge qua­li­ta­ti­ver For­schung nicht nur etwas über sich selbst und wie man selbst die Din­ge sieht, son­dern tat­säch­lich etwas über die Din­ge, die man betrach­tet, zu sagen.

In der Welt der qua­li­ta­ti­ven For­schung gibt es denn auch lan­ge und bis­wei­len stark pola­ri­sier­te Dis­kus­sio­nen bspw. über die Fra­ge, wel­che Metho­den „wirk­lich offen“ sei­en oder zum Bei­spiel auch, wel­che Metho­den „eigent­lich schon quan­ti­ta­tiv“ sei­en. Aus Sicht der­je­ni­gen, die etwas fes­te­re, stär­ker struk­tu­rier­te Metho­den bevor­zu­gen, erschei­nen offe­ne­re Metho­den schnell „belie­big“. Aus Sicht der­je­ni­gen, die ggf. offe­ne­re Metho­den bevor­zu­gen, erschei­nen fes­te­re Metho­den schnell „quan­ti­ta­tiv“. Aber so, wie es bspw. in der Päd­ago­gik nicht „die eine gute Metho­de“ gibt, son­dern sich die Wahl der Metho­den immer am kon­kre­ten Kind und sei­nen Vor­aus­set­zun­gen und Fähig­kei­ten, am Set­ting (bspw. Schu­le oder 1:1‑Förderung), an den Res­sour­cen der Eltern usw. ori­en­tie­ren soll­te, rich­tet sich die Wahl der Inter­view­me­tho­de nach dem For­schungs­ge­gen­stand und der Art des Forschungsinteresses.

Neh­men wir als Bei­spiel ein­mal den For­schungs­ge­gen­stand „Orga­ni­sa­ti­on“. Einer­seits gibt es bereits viel über das Phä­no­men „Orga­ni­sa­ti­on“ zu wis­sen. So kann bspw. die Anthro­po­lo­gie gut beschrei­ben, wie der Mensch zur Spra­che gekom­men ist, und wie dadurch aus einer rei­nen Ver­hal­tens­ko­or­di­na­ti­on die Hand­lungs­ko­or­di­na­ti­on wur­de und damit Hand­lung­ab­läu­fe immer kom­ple­xer (orga­ni­sier­ter) wur­den und sich im Lau­fe der Zeit ver­schie­de­ne For­men orga­ni­sier­ten Han­delns her­aus­ge­bil­det haben. Des Wei­te­ren kann man Orga­ni­sa­tio­nen aus dem Blick­win­kel ver­schie­de­ner Dis­zi­pli­nen (bspw. Betriebs­wirt­schafts­leh­re oder Arbeits­psy­cho­lo­gie) recht umfas­send quan­ti­ta­tiv beschrei­ben. Man kann bspw. die Moti­va­ti­on des Per­so­nals mes­sen oder die Zufrie­den­heit mit dem Arbeit­ge­ber oder den Belas­tungs­grad bei ver­schie­de­nen Tätig­kei­ten. Gleich­zei­tig wis­sen wir über das Phä­no­men Orga­ni­sa­ti­on noch so wenig, dass Schein (2006, S. 299) zu dem Schluss kommt, dass wir uns noch in einer Art vor-Dar­wi­ni­scher Ent­wick­lungs­pha­se des Wis­sens über Orga­ni­sa­tio­nen befin­den. An ande­rer Stel­le mein­te Schein des Wei­te­ren, dass es des­halb not­wen­dig sei, Orga­ni­sa­tio­nen auch wei­ter qua­li­ta­tiv zu untersuchen.

”Deep down I think orga­niza­ti­on stu­dies is still in a pre-Dar­wi­ni­an sta­te of deve­lo­p­ment. We do not yet know what the key cate­go­ries of varia­bles are around which to build our field, but the search for them is gre­at fun.“ (Schein 2006, S. 299)

Es ist also vom For­schungs­ge­gen­stand und vom ver­füg­ba­ren Wis­sen abhän­gig, ob qua­li­ta­tiv (erkun­dend) oder quan­ti­ta­tiv (prü­fend) vor­ge­gan­gen wer­den soll­te. Des Wei­te­ren ist es eben­falls vom For­schungs­ge­gen­stand und vom Grad der unschar­fen Annä­he­rung abhän­gig, wel­che Erhe­bungs­me­tho­de (teil­neh­men­de Beob­ach­tung, Inter­views, Doku­men­ten­ana­ly­se) wir wäh­len bzw. ob wir inner­halb des ver­füg­ba­ren Metho­den­spek­trums eher offe­ne­re oder fes­te­re Vari­an­ten bevor­zu­gen soll­ten. Wis­sen wir bspw. über ein Phä­no­men an und für sich bereits rela­tiv viel, möch­ten aber den kon­kre­ten Umgang damit in einem spe­zi­fi­schen Kon­text erfor­schen, so kommt es dar­auf an, was wir bereits über den Umgang mit die­sem Phä­no­men in dem betref­fen­den Kon­text wis­sen. So weiß man zum Bei­spiel bereits rela­tiv viel über emo­tio­na­le Reak­ti­ons­mus­ter unter Stress­be­din­gun­gen und die ent­spre­chen­den Bewäl­ti­gungs­stra­te­gien im All­ge­mei­nen, und sicher ist die­se Fra­ge auch in der Arbeits­psy­cho­lo­gie, also im Kon­text des mensch­li­chen Han­delns in Orga­ni­sa­tio­nen, bereits viel­fach beant­wor­tet wor­den. Aber es gibt vie­le sehr spe­zi­fi­sche Berei­che oder Orga­ni­sa­ti­ons­for­men, in denen man bis vor Kur­zem noch so wenig wuss­te, dass man mit erkun­den­der qua­li­ta­ti­ver For­schung sehr erhel­len­de Ergeb­nis­se erzie­len konn­te, wie das zum Bei­spiel Peg­gy Szy­men­der­ski für das The­ma emo­tio­na­le Reak­ti­ons- und Bewäl­ti­gungs­mus­ter im Umgang mit belas­ten­den Situa­tio­nen bei der Poli­zei vor nicht all­zu lan­ger Zeit gezeigt hat.

Die For­sche­rin hat übri­gens Inter­views geführt, und zwar einer­seits erzähl­ge­nerie­ren­de und ande­rer­seits leit­fa­den­ge­stütz­te Inter­views. Man kann die offe­ne­ren und fes­te­ren Vari­an­ten also ver­bin­den, indem man offen beginnt und nach einer offe­nen Pha­se einen vor­her erar­bei­te­ten Leit­fa­den durchgeht.

In vie­len prak­ti­schen Anwen­dungs­fäl­len bedarf es neben der Offen­heit noch einer Rei­he wei­te­rer Steue­rungs­in­stru­men­te, etwa, wenn neben dem offe­nen Inter­es­se bereits auch eini­ge kon­kre­te Fra­gen fest­ste­hen. Die Kom­bi­na­ti­on erzähl­ge­nerie­ren­der Fra­gen mit einem Leit­fa­den wie bei Szy­men­der­ski ist die eine Opti­on. Eine ande­re Opti­on wäre das pro­blem­zen­trier­te Inter­view nach Wit­zel (1985, 2000). Hier wird die Inter­view­si­tua­ti­on als kom­mu­ni­ka­ti­ves Gesche­hen auf­ge­fasst wird und der inter­view­en­den Sei­te und ihren Fra­gen eine ent­spre­chend „akti­ve, das Gespräch mit­ge­stal­ten­de Explo­ra­ti­ons­funk­ti­on“ (Mey & Mruck 2010, S. 425) zukommt. Neben einer Erzähl­auf­for­de­rung sind all­ge­mei­ne Son­die­run­gen (Sach­nach­fra­gen und Erzähl­auf­for­de­run­gen) und spe­zi­fi­sche Son­die­run­gen mög­lich. Letz­te­re sind auf gesprächs­psy­cho­lo­gi­schen Model­len beru­hen­de Tech­ni­ken der Inter­view­füh­rung wie Nach­fra­gen auf der Grund­la­ge des Vor­wis­sens der inter­view­en­den Per­son, Rück­for­mu­lie­run­gen wie in der kli­en­ten­zen­trier­ten Gesprächs­füh­rung, klä­ren­de Ver­ständ­nis­fra­gen und sogar Konfrontationen.

„Die an die Gesprächs­psy­cho­the­ra­pie ange­lehn­te Zurück­spie­ge­lung von Äuße­run­gen der Befrag­ten stützt deren Selbst­re­fle­xi­on und eröff­net ihnen die Mög­lich­keit, ihre eige­ne Sicht­wei­se zu behaup­ten und die Unter­stel­lun­gen des Inter­view­ers zu kor­ri­gie­ren (kom­mu­ni­ka­ti­ve Vali­die­rung).“ (Wit­zel 2000, Absatz 16; sie­he dazu auch Wit­zel 1985, S. 247f.).

„Kon­fron­ta­tio­nen kön­nen wei­te­re Detail­lie­run­gen von Sicht­wei­sen der Befrag­ten
för­dern. Aller­dings muss ein gutes Ver­trau­ens­ver­hält­nis her­ge­stellt wor­den sein, um kei­ne Recht­fer­ti­gun­gen zu pro­vo­zie­ren.“ (Wit­zel 2000)

Das pro­blem­zen­trier­te Inter­view kennt kei­nen fes­ten Ablauf, und eine ent­spre­chen­de Vor­be­rei­tung in Gestalt eines Leit­fa­dens bil­det idea­ler­wei­se ledig­lich eine „Hin­ter­grund­fo­lie“ (Wit­zel 2000) bzw. Gedächt­nis­stüt­ze oder einen Ori­en­tie­rungs­rah­men und dient letzt­lich nur der Siche­rung der Ver­gleich­bar­keit meh­re­rer Interviews.

Jörg Hei­dig

Wei­ter­füh­ren­de Quellen: 

Eine ein­fa­che Über­sicht zu ver­schie­de­nen Inter­view­for­men, ähn­lich der Sys­te­ma­tik in die­sem Text. 

Ein Text aus ver­schie­de­nen Per­spek­ti­ven zu der Fra­ge, wie vie­le qua­li­ta­ti­ve Inter­views genug sind.

Von Jörg Heidig

Jörg Heidig, Jahrgang 1974, nach Abitur und Berufsausbildung in der Arbeit mit Flüchtlingen zunächst in Deutschland und anschließend für mehrere Jahre in Bosnien-Herzegowina tätig, danach Studium der Kommunikationspsychologie, anschließend Projektleiter bei der Internationalen Bauausstellung in Großräschen, seither als beratender Organisationspsychologe, Coach und Supervisor für pädagogische Einrichtungen, soziale Organisationen, Behörden und mittelständische Unternehmen tätig. 2010 Gründung des Beraternetzwerkes Prozesspsychologen. Lehraufträge an der Hochschule der Sächsischen Polizei, der Dresden International University, der TU Dresden sowie der Hochschule Zittau/Görlitz.