Woraus unsere Welt gemacht ist, wonach wir streben und warum es besser ist, zunächst nichts zu wollen

Wenn wir ver­ste­hen wol­len, was uns antreibt, ist es hilf­reich, an den Anfang zurückzugehen

Vor weni­gen zehn­tau­send Jah­ren waren wir Säu­ge­tie­re wie vie­le ande­re. Irgend­wann haben wir begon­nen, uns zu „erken­nen“, bspw. indem wir uns gegen­sei­tig Schmuck umge­han­gen oder Namen gege­ben haben. Wir waren dann nicht mehr nur ein­zel­ne Exem­pla­re einer Tier­art. Die­se „Erkennt­nis“ ist unmit­tel­bar an die Ent­ste­hung der Spra­che gebun­den. Im Unter­schied zu tie­ri­schen Spra­chen kön­nen wir Sym­bo­le (also bspw. Lau­te oder Laut­fol­gen) auch benut­zen, wenn der ent­spre­chen­de Reiz nicht in der Nähe ist. Ein Tier benutzt bspw. einen Warn­ruf nur, wenn die ent­spre­chen­de Bedro­hung auf­tritt. Tie­ri­sche Laut­spra­chen bestehen zudem aus rela­tiv klei­nen Grup­pen fest­ge­leg­ter Sym­bo­le. Tie­re kön­nen sich in die­sem Sin­ne nichts „aus­den­ken“, Men­schen hin­ge­gen schon. 

Wie ist es dazu gekom­men? Die Ent­ste­hung des Bewusstseins

Tie­ri­sche Lau­te die­nen der Ver­hal­tens­ko­or­di­na­ti­on. Wenn ein Warn­ruf erschallt, gilt es weg­zu­ren­nen, auf Bäu­me zu klet­tern o.ä. Die Ver­bin­dun­gen zwi­schen einem Reiz (bspw. einer Bedro­hung), einer Reak­ti­on dar­auf (bspw. dem Warn­ruf) und wei­te­ren Reak­tio­nen wie­der­um dar­auf (bspw. der Flucht) sind direkt. Irgend­wann haben unse­re Vor­fah­ren begon­nen, Sym­bo­le aber nicht nur in Anwe­sen­heit der Rei­ze zu benut­zen, son­dern in deren Abwe­sen­heit. Was genau die Ursa­che dafür war, weiß die heu­ti­ge Wis­sen­schaft noch nicht genau. Es liegt nahe, dass es sich um eine Wech­sel­wir­kung zwi­schen gering­fü­gi­gen Muta­tio­nen und einer Ver­bes­se­rung der kol­lek­ti­ven Hand­lungs­ko­or­di­na­ti­on und der sich wie­der­um dadurch ver­bes­sern­den Daseins­vor­sor­ge han­delt. Jeden­falls began­nen unse­re Vor­fah­ren, Sym­bo­le nicht mehr nur in einem kon­kre­ten Ver­hal­tens­ab­lauf zu benut­zen, son­dern auch vor oder nach einer kon­kre­ten Situa­ti­on. Sie began­nen also, zu ler­nen und zu pla­nen. Sie kamen in die Lage, durch die Benut­zung der ent­spre­chen­den Laut­kom­bi­na­tio­nen einen Ver­hal­tens­ab­lauf im Nach­hin­ein noch ein­mal nach­zu­voll­zie­hen und mög­li­che Ver­hal­tens­ab­läu­fe vor­weg­zu­neh­men. Durch die­se raum­zeit­li­che „Ent­set­zung“ von einem kon­kre­ten Ver­hal­tens­ab­lauf wur­den Ver­hal­tens­ab­läu­fe qua­si „bewusst“. Der Ver­hal­tens­ab­lauf geschieht nun nicht mehr nur „ein­fach so“, son­dern ich kann mir durch nach­voll­zie­hen­des Erin­nern und vor­weg­neh­men­de Pro­be­ab­läu­fe „etwas ein­fal­len las­sen“. Bewusst­sein ist also nichts ande­res als die Fähig­keit, sich räum­lich und zeit­lich zu einem kon­kre­ten Ver­hal­tens­zu­sam­men­hang in ein Ver­hält­nis zu set­zen. Und Den­ken ist dem­entspre­chend nichts ande­res als Pro­be­han­deln. Indem ich mich zu mei­nem Ver­hal­ten ins Ver­hält­nis set­zen kann, ver­hal­te ich mich nicht nur, son­dern bin in der Lage zu han­deln. Bei der Ent­wick­lung der Spra­che und der Bil­dung des Bewusst­seins han­delt es sich um einen im bes­ten Sin­ne des Wor­tes sozia­len Pro­zess. Ein Indi­vi­du­um allein könn­te sich sei­ner selbst nicht bewusst wer­den, son­dern die Bewusst­heit besteht in der Vor­weg­nah­me der Reak­tio­nen ande­rer. So, wie ein Tier einen Warn­ruf als direk­te Reak­ti­on auf die Anwe­sen­heit einer Bedro­hung aus­stößt, liegt der Sinn des Warn­rufs in der Reak­ti­on ande­rer. So ist es auch mit unse­rer Spra­che und unse­ren Hand­lun­gen. Der Sinn von Hand­lun­gen liegt in der Reak­ti­on ande­rer, und Den­ken besteht in der Simu­la­ti­on bzw. Vor­weg­nah­me der Reak­ti­on ande­rer. Wenn ich das so und so mache, und der ande­re das dann so und so macht, könn­te das und das herauskommen.

Was uns selbst­ver­ständ­lich ist: Kul­tur als Besitz einer Gruppe

Damit war der direk­te Reiz-Reak­ti­ons-Zusam­men­hang ein für alle­mal durch­bro­chen. Der Rest der Geschich­te der Men­schen ist Kul­tur: Wir haben soeben gese­hen, wie es kommt, dass wir uns etwas ein­fal­len las­sen kön­nen. Am Anfang von Hand­lun­gen steht also eine Idee. Einem Indi­vi­du­um fällt etwas ein, indem er Hand­lungs­ver­läu­fe vor­weg­nimmt und dabei leicht vari­iert, die­se mög­li­chen Varia­tio­nen mit ande­ren bespricht und man gemein­sam etwas aus­pro­biert. War die Idee erfolg­reich, wird sie in ähn­li­chen Situa­tio­nen wie­der­holt oder sogar auf ande­re Anwen­dungs­be­rei­che über­tra­gen. Mit der Zeit gewöhnt man sich dar­an, bestimm­te Din­ge auf die­se Wei­se zu tun. Aus einer erfolg­rei­chen Idee wird so lang­sam eine Gewohn­heit. Die ent­spre­chen­den Hand­lungs­ver­läu­fe wer­den so zum Besitz der Grup­pe. Bei län­ge­rem Bestehen der Grup­pe wer­den die­se Din­ge dann wei­ter­ge­ge­ben, und zwar weit über die Zeit der ers­ten Ideen hin­aus. Hand­lungs­ab­läu­fe wer­den also „tra­diert“. Mit der Zeit wer­den die Hand­lungs­ver­läu­fe kom­ple­xer oder ver­än­dern sich, indem Ange­hö­ri­ge spä­te­rer Gene­ra­tio­nen immer wie­der auf das vor­han­de­ne Wis­sen zurück­grei­fen, leich­te Varia­tio­nen vor­neh­men, sich also etwas ein­fal­len las­sen, etwas aus­pro­bie­ren, damit ggf. Erfolg haben, die ent­spre­chen­den Hand­lungs­ver­läu­fe wie­der­um wei­ter­ge­ben usw. So wur­de die mensch­li­che Pra­xis immer kom­ple­xer, konn­ten Men­schen immer mehr „Tech­ni­ken“ anwen­den, wur­den aus den ers­ten Bear­bei­tern von Fel­len lang­sam die Ger­ber und aus den Ger­bern die Che­mi­ker usw. Hier sehen wir auch die Ursa­che für eine Form von Kon­flik­ten, die es gibt, seit dem es Men­schen gibt: Wenn irgend­wann ein­mal etwas zum Besitz der Grup­pe gewor­den ist, ist es selbst­ver­ständ­lich und wird nicht mehr hin­ter­fragt. Man macht das dann so. Es gibt dann jede Form von Besitz­stands­wah­rung, die man sich vor­stel­len kann — vor der Ohr­fei­ge für den Lehr­ling, der sich traut, die umständ­li­chen Vor­ge­hens­wei­sen sei­nes Meis­ters zu hin­ter­fra­gen und eine bes­se­re Idee zu haben über den Mord an For­schern und Erfin­dern bis hin zum Krieg zwi­schen Pro­tes­tan­ten und Katho­li­ken. Mit Inno­va­tio­nen ist es also alles ande­re als ein­fach. Gleich­zei­tig kön­nen wir uns nicht gene­rell nichts ein­fal­len las­sen. Wäh­rend man­che von uns beson­ders gut dar­in sein mögen, sich nichts ein­fal­len zu las­sen, fällt ande­ren dau­ernd etwas ein. Die end­lo­se Aus­ein­an­der­set­zung der­je­ni­gen, die sich etwas ein­fal­len las­sen, mit dem „Besitz der Grup­pe“ bzw. des­sen Besitz­stands­wah­rern ist die Geschich­te unse­rer Kulturen.

Was vie­le von uns stre­ben lässt: Die Ent­ste­hung von Hier­ar­chie und Status

Mit dem Wis­sen um die­se grund­le­gen­den anthro­po­lo­gi­schen Zusam­men­hän­ge las­sen sich nun all jene Din­ge, die Men­schen für wich­tig hal­ten kön­nen, jeweils in ihrer Ent­ste­hung erklä­ren. Man braucht sich dazu nur die ent­spre­chen­den Ent­ste­hungs­zu­sam­men­hän­ge, die Gewohn­heits­bil­dun­gen bis hin zum Besitz der Grup­pe und die vie­len sich dar­auf auf­bau­en­den Kon­flik­te vor­stel­len. Indem Men­schen sich ver­stän­di­gen konn­ten, lern­ten sie. Das Wis­sen wur­de von Gene­ra­ti­on zu Gene­ra­ti­on wei­ter­ge­ge­ben und immer kom­ple­xer bzw. ange­pass­ter. Dadurch wur­de die Daseins­vor­sor­ge bes­ser, wodurch wie­der­um die Grup­pen grö­ßer wur­den. In Grup­pen von 25 oder 30 Indi­vi­du­en kennt jeder jeden, und die Koope­ra­ti­on mag noch ver­gleichs­wei­se hier­ar­chie­frei mög­lich sein. Spä­tes­tens mit der durch den begin­nen­den Acker­bau ent­ste­hen­den Teil­sess­haf­tig­keit wuch­sen die mensch­li­chen Grup­pen auf 100 Indi­vi­du­en und dar­über an. Da die Hand­lungs­ko­or­di­na­ti­on unter 100 oder mehr Per­so­nen kaum mehr direkt erfol­gen kann, ent­stand mit dem Häupt­lings­tum die ers­te Hier­ar­chie­form. Die aus meh­re­ren Teil­sip­pen bestehen­den Noma­den­grup­pen wähl­ten das Ober­haupt einer der Teil­grup­pen zum Häupt­ling, der fort­an für die Schlich­tung von Kon­flik­ten, die Ver­tei­lung von Res­sour­cen usw. ver­ant­wort­lich war. Das war die ers­te wesent­li­che Stu­fe der Hier­ar­chie­bil­dung. Spä­tes­tens ab die­sem Punkt spie­len der sozia­le Sta­tus bzw. sozia­le Unter­schie­de eine wesent­li­che Rolle.

Was uns glau­ben lässt: Die Siche­rungs­me­cha­nis­men der Hierarchie

Durch den Acker­bau ver­bes­ser­te sich die Ver­sor­gungs­la­ge für den ein­zel­nen Men­schen nicht unbe­dingt, weil eine getrei­de­ba­sier­te Ernäh­rung weni­ger gesund ist, aber die Ver­sor­gung grö­ße­rer Grup­pen wur­de ein­fa­cher — wodurch die ohne­hin schon grö­ße­ren Grup­pen wei­ter wuch­sen. Die Über­schüs­se ermög­lich­ten eine zuneh­men­de Funk­ti­ons­tei­lung inner­halb der Grup­pen, was die Hand­lungs­ko­or­di­na­ti­on — und damit auch die Kul­tur — kom­ple­xer mach­te und die Hier­ar­chie ver­stärk­te. Die Herr­scher der immer grö­ßer wer­den­den Sied­lun­gen wur­den nun unter­stützt von diver­sen „funk­tio­na­len Stell­ver­tre­tern“ (den Vor­läu­fern unse­rer heu­ti­gen Ver­wal­tungs­struk­tu­ren) und erfan­den Mecha­nis­men zur Siche­rung der Herr­schaft, etwa klei­nen Grup­pen von Men­schen, die für die Durch­set­zung ihrer Ent­schei­dun­gen zustän­dig waren (die Vor­läu­fer unse­rer heu­ti­gen Poli­zei oder auch des Mili­tärs). Die sozia­le Kom­ple­xi­tät — und damit ver­bun­den die Viel­falt der sozia­len Schich­ten bzw. der sozia­len Unter­schie­de — nahm wei­ter zu. Dann erfan­den die Herr­scher etwas, das ihre Herr­schaft noch stär­ker sicher­te als die Vor­läu­fer der Ver­wal­tung und des Mili­tärs, näm­lich die Reli­gi­on. Waren die Ahnen der jewei­li­gen Grup­pen in den klei­ne­ren Gemein­schaf­ten noch gleich, wur­den nun Unter­schie­de zwi­schen den Ahnen der Herr­scher und den Ahnen der ande­ren gemacht. Weil die Ahnen der Herr­scher beson­ders waren (die Stadt grün­de­ten, die „Väter“ des jewei­li­gen Vol­kes waren o.ä.), legi­ti­mier­ten sie qua­si die Herr­schaft ihrer Nach­kom­men, soll­ten ihre Geis­ter beson­ders ver­ehrt wer­den usw. Damit wur­den sozia­le Unter­schie­de zemen­tiert, und es wur­den Gewohn­hei­ten bzw. Selbst­ver­ständ­lich­kei­ten (qua­si retro­spek­tiv) geschaf­fen, die den Sta­tus quo „für alle Zei­ten“ zemen­tie­ren soll­ten. Ent­fal­te­te ein sol­cher „Ein­fall“ erst ein­mal Wir­kung und wur­den die dar­aus sich erge­ben­den Unter­schie­de erst ein­mal über eini­ge Gene­ra­tio­nen hin­weg wei­ter­ge­ge­ben, waren sie so selbst­ver­ständ­lich, dass sie „uni­ver­sel­le Gül­tig­keit“ besa­ßen. So erklärt sich auch, war­um jede der grö­ße­ren Städ­te Meso­po­ta­mi­ens ihre eige­ne Viel­falt an Göt­tern hat­te. Aus „glei­chen Vor­fah­ren“ wur­den „beson­de­re Vor­fah­ren“, aus „beson­de­ren Vor­fah­ren“ wur­den die „Väter“ oder „Müt­ter“ des Vol­kes, wur­den Göt­tin­nen und Göt­ter, die man ver­ehr­te, und die in einer jeweils grup­pen- oder kul­tur­spe­zi­fi­schen „grau­en Vor­zeit“ ein­mal ver­fügt hat­ten, wie die Din­ge zu sein hat­ten. Spä­tes­tens jetzt waren Hier­ar­chie, sozia­ler Sta­tus und Reli­gi­on so fest in den Kul­tu­ren ver­an­kert, dass sie selbst­ver­ständ­lich und damit nicht hin­ter­frag­bar waren.

Das Sta­tus­stre­ben als „selbst­ver­ständ­li­che Priorität“ 

Aus die­ser Zeit stammt das mensch­li­che Stre­ben nach Sta­tus und Domi­nanz bzw. ent­spre­chen­den Sym­bo­len, die den Sta­tus ver­kör­pern. Je grö­ßer das Haus, je glän­zen­der der Schmuck, je grö­ßer die Zahl der Skla­ven, je höher der Turm, je grö­ßer die Her­den und so wei­ter und so wei­ter. Vie­le Men­schen suchen ihr Glück dem­entspre­chend in äuße­ren Din­gen (Sta­tus, Macht, Geld usw.), wobei die­se äuße­ren Anrei­ze so selbst­ver­ständ­lich sind, dass sie kaum hin­ter­fragt wer­den. Macht und Sta­tus sind nicht ein­fach irgend­wann „erfun­den“ wor­den, son­dern haben sich an vie­len ver­schie­de­nen Orten durch vie­le „klei­ne Ein­fäl­le“ ent­wi­ckelt, genau­so wie Reli­gio­nen nicht ein­fach irgend­wann „behaup­tet“ oder „geschaf­fen“ oder „gestif­tet“ wur­den. Aber zu einer Idee kommt die nächs­te, man­ches wird wei­ter­ge­ge­ben, fes­tigt sich, ver­liert irgend­wann den Bezug zum Ent­ste­hungs­kon­text, wird zum Mythos — bleibt aber Macht­in­stru­ment und wird in die­sem Zusam­men­hang ab und an „umge­schrie­ben“ oder „abge­schafft“. Aber selbst wenn sich der Inhalt ändert — der Mecha­nis­mus selbst bleibt in der Welt. Aber Macht und Sta­tus kom­men sel­ten so blank daher, wie sie hier beschrie­ben wer­den. Es gab und gibt auch immer Gegen­be­we­gun­gen, die das Gegen­teil behaup­ten, also die Gleich­heit der Men­schen (vor Gott) oder den Zusam­men­halt oder die Lie­be beto­nen. Der „Käl­te“ des Stre­bens nach Sta­tus oder Macht wird gern die „Wär­me“ der Lie­be oder des Zusam­men­halts ent­ge­gen­ge­setzt. Da sol­che Ideen eine gewis­se Anzie­hungs­kraft besit­zen, fin­det man nicht sel­ten Kom­bi­na­tio­nen bei­der Bestre­bun­gen. Wäh­rend äußer­lich die Nächs­ten­lie­be (im Chris­ten­tum) oder die Gleich­heit (im Kom­mu­nis­mus) betont wird, bewir­ken die Orga­ni­sa­tio­nen an und für sich (oft eben­so unbe­ab­sich­tigt wie unbe­merkt für ihre Mit­glie­der) den Erhalt von Macht und Status.

Der ver­meint­li­che Gegen­ent­wurf: Lie­be, Hin­ga­be und das Selbst

Wie auch immer die „Gegen­stre­bung“ ent­stan­den ist und wozu sie im Lau­fe der Geschich­te ggf. „miss­braucht“ wur­de — irgend­wann sind Men­schen auf die Idee gekom­men, dass sie sich weni­ger „außen“ ori­en­tie­ren, als den Sinn viel lie­ber „innen“ suchen soll­ten. Die Ursa­che mag dar­in lie­gen, dass vie­le Men­schen immer wie­der ver­stan­den haben, dass jene äuße­ren Din­ge vor dem Hin­ter­grund tief grei­fen­der Gedan­ken oder vor dem Hori­zont eines gan­zen Lebens nichts bedeu­ten, nach dem Mot­to: „Wir neh­men nichts mit. Wir wer­den als Ein­zel­ne gebo­ren und ster­ben als Ein­zel­ne.“ Die­se Men­schen haben viel­leicht nicht ein­fach hin­ge­nom­men, was ist bzw. wie es eben funk­tio­niert, son­dern sie haben viel­leicht einen „Sinn“ gesucht — und gemeint, ihn ent­we­der in der Abkehr von Macht und Sta­tus („Revo­lu­ti­on!“) oder „innen“ zu fin­den — in der Hin­ga­be (zu Gott), in der Lie­be (zu ande­ren), in Gefüh­len (ande­ren oder uns selbst gegen­über), in der Tran­szen­denz und so wei­ter. Vie­len Men­schen sind heu­te bei­spiels­wei­se Gedan­ken geläu­fig, dass etwa jedem Men­schen ein unver­wech­sel­ba­rer Kern inne­wohnt, der sich ent­fal­ten möch­te, auf den man mit­tels Acht­sam­keit auf­pas­sen müs­se und so wei­ter. Die­se Bestre­bung führt zwar weg von der Fokus­sie­rung auf äuße­re Din­ge, aber sie setzt dem nur ein neu­es Stre­ben ent­ge­gen. Indem sich der Fokus auf die Innen­sicht ver­la­gert, kon­zen­trie­ren sich Men­schen auf ihre Gefüh­le. Man kann grö­ße­re Tei­le der Psy­cho­lo­gie als eine „Ver­wis­sen­schaft­li­chung“ die­ses Gegen­ent­wurfs lesen. Waren bspw. die Tay­lo­ris­ten und die Beha­vio­ris­ten eher auf „Ver­hal­tens­steue­rung“ durch äuße­re Anrei­ze aus, haben die Huma­nis­ten die­ser „kal­ten“ Sicht­wei­se das Selbst und sei­ne Ver­wirk­li­chung ent­ge­gen­ge­setzt. Einer „kal­ten“ ver­na­tur­wis­sen­schaft­lich­ten Sicht auf den Men­schen wird seit­her gern eine irgend­wie „wär­me­re“ oder „mensch­li­che­re“ Geis­tes­wis­sen­schaft ent­ge­gen­ge­hal­ten. Wenn man nur „bei sich“ sei, „acht­sam“ sei, wür­de man sei­nen Kern schon fin­den. Im Zuge sei­ner Ent­wick­lung wür­den einem alle mög­li­chen Prä­gun­gen und Nar­ben zuge­fügt, die letzt­lich zu Anpas­sun­gen (Abwehr­me­cha­nis­men, Ver­krüm­mun­gen, „fal­sche“ Selbst­bil­der) und damit weg vom „eigent­li­chen“ Selbst führ­ten. Aber auch die­se Suche führt in eine Art Getrie­ben­sein, die jenem nach Sta­tus oder Macht gar nicht so unähn­lich ist. Gefüh­le ver­än­dern sich und schwan­ken bis­wei­len. Frei­lich waren gesell­schaft­li­che (oder reli­giö­se, staat­li­che, von einer Auto­ri­tät aus­ge­hen­de usw.) Kon­ven­tio­nen „hart“, aber sie bestimm­ten den Rah­men, in denen Gefüh­le aus­zu­drü­cken und aus­zu­le­ben mög­lich war. Freud kam auf sei­ne Ideen nicht zuletzt durch die inten­si­ve Unter­su­chung der Hys­te­rie — einem Phä­no­men, das sich als Reak­ti­on auf all­zu star­ke Ein­schrän­kung bei gleich­zei­ti­ger Ahnung des Poten­ti­als der Ent­fal­tung ver­ste­hen lässt. Heu­te haben wir uns eine Welt geschaf­fen, in der man sich ent­fal­ten kann (zumin­dest in den west­li­chen Gesell­schaf­ten). Gleich­zei­tig führt die Mög­lich­keit der Ent­fal­tung, fürch­te ich, nur zu einer Ver­stär­kung der Such­be­we­gun­gen. Man ach­tet mehr auf sei­ne Gefüh­le, geht eher weg, wenn man etwas nicht erträgt. Man hat mehr Hand­lungs­mög­lich­kei­ten und ist wei­test­ge­hend frei von Zwang.

Aber was pas­siert? Wir bemer­ken eher, dass wir unglück­lich sind. Wir tren­nen uns öfter. Wir kün­di­gen öfter. Wir tun mehr von dem, was wir eigent­lich wol­len. Aber bekom­men wir mehr von dem, was wir damit bezwe­cken? Pus­te­ku­chen! Anstatt glück­li­cher zu wer­den, gera­ten wir in einen Wett­be­werb der Selbstro­ta­ti­on. Wir wer­den nar­ziss­ti­scher, sonst nichts. Dem frü­he­ren: „Wir suchen Sta­tus und wer­den abhän­gig von der Jagd nach äuße­ren Din­gen.“ set­zen wir nur ein: „Wir suchen uns selbst und wer­den nar­ziss­tisch, gleich­sam zum Spiel­ball unse­rer selbst.“ ent­ge­gen. (Viel­leicht waren die Exis­ten­tia­lis­ten nur eine Zwi­schen­form auf dem Weg von der Ablö­sung von den Reli­gio­nen, Kon­ven­tio­nen usw. über das Selbst hin zu der Ein­sicht, dass auch jene inne­ren Din­ge kei­nen Sinn an sich haben und kei­nen Halt bie­ten.) Die Kon­ven­tio­nen waren kon­den­sier­te Gewohn­hei­ten, und als sol­che haben sie immer­hin Halt gege­ben — wenn auch nur als Stre­ben nach Sta­tus in Ver­bin­dung mit Gedan­ken­lo­sig­keit, denn die eine Ein­sicht stimmt ja: Wir neh­men nichts mit. Was wäre, wenn es all das gar nicht gibt? Wenn sowohl die Jagd nach äuße­ren als auch die Suche nach inne­ren Din­gen nur in eine hoh­le Rota­ti­ons­be­we­gung führt — spi­ral­för­mig viel­leicht, weil ja man­che im Jagen oder Suchen bes­ser sind als ande­re, aber eben gera­de dar­um sich immer wei­ter beschleunigend?

Was wür­de pas­sie­ren, wenn wir uns von all dem frei mach­ten? 

Spon­tan mag den Leser oder die Lese­rin der Gedan­ke erei­len: Wenn man nichts will, dann ist alles irgend­wie sinn­los. Viel­leicht stimmt das ja. Viel­leicht ist alles irgend­wie sinn­los. Der Natur und dem Uni­ver­sum ist es jeden­falls egal, ob es uns gibt oder nicht. Wir machen den Unter­schied für uns selbst — und für die Men­schen in unse­rer Umge­bung und für die Umwelt, für die wir ver­ant­wort­lich sein wol­len. Sonst nichts. Frü­her kam die Auto­ri­tät von den Herr­schern und den Reli­gio­nen. Auch das sind Arte­fak­te wie ein Ham­mer oder ein Auto. Das haben sehr lan­ge jedoch nur weni­ge von uns ver­stan­den. Die Ein­sicht besteht mög­li­cher­wei­se dar­in, sich von allem frei zu machen — von den äuße­ren wie von den inne­ren Din­gen — und ein­zu­se­hen, dass bei­de Kate­go­rien kei­nen Sinn an und für sich haben, son­dern unse­re Illu­sio­nen sind — und dass wir immer Illu­sio­nen brau­chen, weil Illu­sio­nen gewohnt und damit ein­fa­cher sind. Die wirk­li­che Frei­heit bestün­de dann dari, zunächst nichts zu wol­len — und uns dann zu fra­gen, was wir wol­len. Denn es gibt nichts ande­res als das, wor­auf wir uns eini­gen — in der Lie­be, in der Gesell­schaft und letzt­lich auch in Bezug auf unse­ren Pla­ne­ten. Das ist alles. Wenn man so will, sind wir Gott, denn was aus uns und die­sem Pla­ne­ten wird, liegt letzt­lich an uns, zumin­dest, wenn wir Teil der Natur blei­ben wollen.

Jörg Hei­dig

Von Jörg Heidig

Jörg Heidig, Jahrgang 1974, nach Abitur und Berufsausbildung in der Arbeit mit Flüchtlingen zunächst in Deutschland und anschließend für mehrere Jahre in Bosnien-Herzegowina tätig, danach Studium der Kommunikationspsychologie, anschließend Projektleiter bei der Internationalen Bauausstellung in Großräschen, seither als beratender Organisationspsychologe, Coach und Supervisor für pädagogische Einrichtungen, soziale Organisationen, Behörden und mittelständische Unternehmen tätig. 2010 Gründung des Beraternetzwerkes Prozesspsychologen. Lehraufträge an der Hochschule der Sächsischen Polizei, der Dresden International University, der TU Dresden sowie der Hochschule Zittau/Görlitz.