Wer sich selbst sucht, findet nichts

Selbst­su­che ist Trend­sport, und die Flos­kel „bei sich selbst sein“ ist zur hand­lungs­lei­ten­den Maxi­me vie­ler Men­schen gewor­den. Ich habe mir lan­ge die Fra­ge gestellt, war­um die Selbst­su­che gera­de heu­te so inten­siv betrie­ben wird. Der fol­gen­de Text ist das Ergeb­nis lan­ger Über­le­gun­gen und vie­ler Gesprä­che zu die­sem The­ma. Ich ver­su­che in dem Text die fol­gen­den Fra­gen zu stel­len und mei­ne (noch recht vor­läu­fi­gen, mit­un­ter the­sen­haf­ten) Ant­wor­ten darzustellen:

  • Gibt es so etwas wie ein „Selbst“ über­haupt? Neue­re For­schun­gen stel­len das ernst­haft in Fra­ge. Was gibt es stattdessen?
  • Wenn es kein „Selbst“ gibt: Was pas­siert, wenn wir danach suchen?
  • Was könn­ten die indi­vi­du­el­len und gesell­schaft­li­chen Kon­se­quen­zen sein, falls das stimmt?

Haben wir ein Selbst, oder sind wir nur Erin­ne­run­gen und Gewohnheiten?

Egal, wo man sich umschaut — ob in Zeit­schrif­ten, Buch­lä­den oder in den sozia­len Netz­wer­ken — die Suche der Men­schen nach sich selbst oder nach einem Sinn in ihrem Leben scheint Kon­junk­tur zu haben. 

Woll­te man eine ein­fa­che Erklä­rung für die­sen Trend fin­den, könn­te man die gesell­schaft­li­chen Ent­wick­lun­gen der letz­ten Jahr­zehn­te nach­zeich­nen und behaup­ten, dass wir so ziem­lich alles abge­schafft haben, was ein­mal grö­ßer war als wir. Ein Glau­be spielt für die meis­ten Men­schen kei­ne bin­den­de Rol­le mehr, und die Auto­ri­tät des Staa­tes mit sei­nen Insti­tu­tio­nen ist geschrumpft. Kir­che und Staat wer­den hier nur stell­ver­tre­tend für die Mar­gi­na­li­sie­rung von Kon­ven­tio­nen genannt — vie­les ist heu­te nicht mehr so selbst­ver­ständ­lich wie noch vor drei­ßig oder vier­zig Jah­ren. Was „man“ wann und wie im Leben zu tun hat, ob „man“ es über­haupt tun soll­te, oder ob man nicht ganz anders leben möch­te (und kann!), liegt heu­te weit­ge­hend im Bereich indi­vi­du­el­ler Ent­schei­dun­gen. Kein Wun­der also, so könn­te man mei­nen, dass heu­ti­ge Men­schen viel eher nach einem Sinn in ihrem Leben suchen als frü­her. 

Spä­tes­tens die huma­nis­ti­schen Psy­cho­lo­gen — und vor ihnen eini­ge Phi­lo­so­phen wie Sören Kier­ke­gaard — haben eine gan­ze „Welt der Erkennt­nis“ um Begrif­fe wie „Selbst“ oder „Selbst­ver­wirk­li­chung“ errich­tet. Was den Men­schen aus­ma­che, so könn­te man ganz grob zusam­men­fas­sen, sei sein Geist, und sein Geist sei das Selbst, und das Selbst ent­ste­he aus einem Ver­hält­nis — indem der Mensch sich zu sich selbst ver­hal­ten kön­ne, sich in ein Ver­hält­nis zu sei­nem Ver­hal­ten set­zen kön­ne, wer­de er sich über die Wir­kun­gen sei­nes Ver­hal­tens bewusst. 

Die­se Bewusst­wer­dung pas­siert durch den­ken­des Vor­weg­neh­men des eige­nen Ver­hal­tens und der poten­ti­el­len Kon­se­quen­zen beim Gegen­über. Den­ken ist Pro­be­han­deln (Freud) — je nach Ver­lauf die­ses Pro­be­han­delns kann sich der Mensch ent­schei­den. Er muss sich nicht ver­hal­ten, son­dern er hat die Wahl zwi­schen ver­schie­de­nen Optio­nen. Dar­in liegt der Unter­schied zwi­schen Ver­hal­ten und Han­deln. Der sich so mit sich selbst ver­stän­di­gen­de Mensch sieht sich im Lau­fes des Lebens vie­len Wider­sprü­chen, Kon­flik­ten und sons­ti­gen Wid­rig­kei­ten aus­ge­setzt — er ist also fort­wäh­rend in einem Gespräch mit sich selbst über sei­ne Hand­lungs­op­tio­nen. Oft­mals sind die Optio­nen so begrenzt oder wer­den Ent­schei­dun­gen so ungüns­tig getrof­fen, dass Hand­lun­gen nicht zu den erwünsch­ten Kon­se­quen­zen füh­ren oder der Mensch sogar lei­det. Weni­ger abs­trakt aus­ge­drückt: Man kann in alle mög­li­chen wider­sprüch­li­chen Situa­tio­nen, unter Druck oder gar in Unter­drü­ckung gera­ten — und man wird, so lan­ge man kann, ver­su­chen, unter den gege­be­nen Umstän­den zu han­deln. Der Sinn ist dann das Ergeb­nis der vie­len Ver­su­che, das Selbst mit den Kon­se­quen­zen, die sich aus den Umstän­den und den eige­nen Hand­lun­gen erge­ben, in Ein­klang zu bringen.

Neue­re For­schun­gen aller­dings wer­fen die Fra­ge auf, ob es so etwas wie ein „Selbst“ über­haupt gibt. Wer nach sich selbst suche, fin­de nichts (was die mit­un­ter zu beob­ach­ten­de, bei­na­he ver­zwei­fel­te „Selbstro­ta­ti­on“ eini­ger Selbst-Sucher erklä­ren könn­te). Die über­ra­schen­de Behaup­tung der For­scher um Nick Cha­ter: Wir haben weder ein dau­er­haf­tes „Selbst“, noch so etwas wie ein „Unter­be­wusst­sein“, son­dern wir „erfin­den“ uns qua­si immer wie­der neu — und zwar auf der Grund­la­ge von Erin­ne­run­gen und Gewohn­hei­ten, wobei es höchst „belie­big“ (situa­tions- und emo­ti­ons­ab­hän­gig sowie getrig­gert durch Vor­in­for­ma­tio­nen) sei, wel­che Erin­ne­run­gen gera­de zu Rate gezo­gen wür­den und wel­che nicht. Das Ein­zi­ge, was hin­ge­gen (rela­tiv) kon­stant blei­be, sei­en die Gewohn­hei­ten. Das, was wir „Selbst“ nen­nen, ent­ste­he jeweils aus der aktu­el­len Situation.

Das steht im kras­sen Gegen­satz zu dem, was die meis­ten Psy­cho­lo­gen, Phi­lo­so­phen und Ver­tre­ter ande­rer Geis­tes­wis­sen­schaf­ten den­ken: „Ich weiß doch, wer ich bin, und ich kann mich doch erin­nern, was ich ges­tern gedacht habe! Ich bin doch nicht belie­big!“ Es gibt lan­ge psy­cho­lo­gi­sche, päd­ago­gi­sche usw. Tra­di­tio­nen, die den Begriff „Selbst“ ver­wen­den und im Prin­zip die fol­gen­de Auf­fas­sung vertreten:

Bevor ein Mensch gebo­ren wird, gibt es eini­ge gene­ti­sche und hor­mo­nel­le Ein­flüs­se, die sei­ne Per­sön­lich­keit vor­prä­gen. Als dann bil­det sich sei­ne Per­sön­lich­keit durch eine Inter­ak­ti­on zwi­schen Anla­ge- und Umwelt­fak­to­ren aus. In den ers­ten Lebens­jah­ren ist die Inter­ak­ti­on mit den Eltern aus­schlag­ge­bend, spä­ter kom­men Erzie­her, Leh­rer, Mit­schü­ler und ande­re Inter­ak­ti­ons­part­ner hin­zu. Die Ent­wick­lung eines Men­schen wird als kom­ple­xer Pro­zess von Ein­fluss­nah­me und Prä­gung auf der einen Sei­te und eige­nen Hand­lungs­ver­su­chen, ‑erfol­gen und ‑miss­erfol­gen auf der ande­ren Sei­te ver­stan­den. Die Hand­lun­gen des her­an­wach­sen­den Men­schen wer­den jeweils von Reak­tio­nen oder „Rück­mel­dun­gen“ durch sein Umfeld beglei­tet. Das Ergeb­nis sind blei­ben­de Mus­ter des Erle­bens und Han­delns, also die Per­sön­lich­keit eines Men­schen. Aus den Umfeld­re­ak­tio­nen bzw. „Rück­mel­dun­gen“ auf die eige­nen Hand­lun­gen bil­det ein Mensch mit der Zeit ein „Selbst­kon­zept“. Die­ses Selbst­kon­zept ent­hält bei­spiels­wei­se die Mus­ter, wie der betref­fen­de Mensch mit Angst umgeht, ob sie oder er sich selbst mag, ein offe­ner oder eher reser­vier­ter Mensch ist, emo­tio­nal sta­bi­ler oder weni­ger sta­bil ist usw. Im Grun­de stre­be jeder Mensch, das sagen spä­tes­tens die huma­nis­ti­schen Psy­cho­lo­gen, nach der Ent­fal­tung sei­ner selbst. 

Seit den Sech­zi­ger, spä­tes­tens aber seit den Acht­zi­ger Jah­ren beob­ach­ten man­che For­scher eine zuneh­men­de Beschleu­ni­gung von Arbeits- und Lebens­ab­läu­fen, eine Mar­gi­na­li­sie­rung kol­lek­ti­ver Nor­men und eine Fle­xi­bi­li­sie­rung vor­mals fes­te­rer Bezie­hun­gen (bspw. schnel­le­re Part­ner­wech­sel), ein­her­ge­hend mit gewis­sen Auf­lö­sungs- oder Fle­xi­bi­li­sie­rungs­ten­den­zen bei den Selbst­kon­zep­ten. Richard Sen­nett sprach bereits 1989 von einer „Kor­ro­si­on des Cha­rak­ters“ (deutsch: „Der fle­xi­ble Mensch“) und David Brooks mein­te vor weni­gen Jah­ren, dass wir zuneh­mend zu „Lebens­lauf­op­ti­mie­rern“ wür­den, die immer weni­ger in der Lage sei­en, Sinn in der demü­ti­gen Hin­wen­dung zu ande­ren Men­schen zu fin­den. Ich selbst beob­ach­te seit eini­gen Jah­ren eine zuneh­men­de „Selbstro­ta­ti­on“, also eine Suche nach dem Selbst als Selbst­zweck und nicht mehr als Suche nach einem Zweck des eige­nen Lebens, der sich ja mehr oder weni­ger nur durch die Hin­wen­dung zu ande­ren Men­schen oder in mit ande­ren Men­schen geteil­ten Zie­le fin­den lässt.

Inso­fern pas­sen die oben genann­ten neue­ren For­schun­gen auf über­ra­schen­de Wei­se zum Zeit­geist, indem sich die Welt so beschleu­nigt hat, dass es uns kaum mehr mög­lich ist, ein „Selbst“ über den Ver­lauf eines Lebens hin­weg kon­sis­tent zu hal­ten. Sät­ze wie „Du bist die Sum­me der­je­ni­gen Men­schen, mit denen Du am meis­ten redest.“ pas­sen irgend­wie bes­ser zu den heu­ti­gen Men­schen, als dies noch vor weni­gen Jahr­zehn­ten der Fall gewe­sen sein mag, als kol­lek­ti­ve Gewohn­hei­ten, gesell­schaft­li­che Nor­men usw. noch weit stär­ker aus­ge­prägt waren. Man kann heu­te wäh­len, wer und was und wie man sein möch­te, und kann, bspw. in sozia­len Netz­wer­ken, für die ent­spre­chen­den Rück­mel­dun­gen sor­gen. 

Schau­en wir uns ein­mal den Pro­zess der Bil­dung von Gewohn­hei­ten näher an: 

  1. Alles beginnt mit einem Ver­such. War der Ver­such erfolg­reich, so wird er wie­der­holt, Man lernt nur, wenn etwas miss­lingt oder zum ers­ten Mal gelingt.
  2. Bleibt der Ver­such in ähn­li­chen Situa­tio­nen auf Dau­er erfolg­reich, wird dar­aus ein Mus­ter. 
  3. Aus dem Mus­ter wird mit der Zeit eine Gewohn­heit. 
  4. Gewohn­hei­ten wer­den mit der Zeit so selbst­ver­ständ­lich, dass sie kaum mehr hin­ter­fragt wer­den können.

Wenn sich die Aus­gangs­si­tua­ti­on ändert, ist es sehr wahr­schein­lich, dass den­noch ver­sucht wird, mit dem gewohn­ten Mus­ter dar­auf zu reagie­ren. Ein simp­les Bei­spiel: Eine Bezie­hung beginnt, die bei­den Part­ner stel­len sich auf­ein­an­der ein, es bil­den sich Mus­ter bei der Bewäl­ti­gung des All­tags oder der Lösung von Pro­ble­men. Dann beginnt einer der bei­den Part­ner, sich zu ver­än­dern (bspw. durch einen neu­en Job), viel­leicht ändern sich mit der Zeit Inter­es­sen oder Prio­ri­tä­ten, und es ent­ste­hen Kon­flik­te in der Part­ner­schaft, etwa indem der sich ver­än­dern­de Part­ner das gewach­se­ne Rol­len­ge­fü­ge infra­ge stellt. Der ande­re Part­ner wird nun wahr­schein­lich ver­su­chen, auf „neue“ Kon­flik­te mit „alten“ Mus­tern zu reagie­ren, was ggf. zur Eska­la­ti­on beiträgt.

Man kann gesell­schaft­li­che Kon­ven­tio­nen als kol­lek­ti­ve Selbst­ver­ständ­lich­kei­ten oder Gewohn­hei­ten betrach­ten. Jede Orga­ni­sa­ti­on und jede Kul­tur besteht aus sol­chen kaum hin­ter­frag­ba­ren Gewohn­hei­ten. Es las­sen sich nun zwei ver­schie­de­ne Arten und Wei­sen des Umgangs mit kol­lek­ti­ven Gewohn­hei­ten beobachten:

  1. Men­schen, die ihre Gewohn­hei­ten nicht hin­ter­fra­gen: Die­se Men­schen wach­sen in ein gewis­ses Milieu mit bestimm­ten Regeln hin­ein, funk­tio­nie­ren in den Regeln und Gebräu­chen der jewei­li­gen Gemein­schaft mehr oder weni­ger gut, hin­ter­fra­gen nichts und bre­chen nicht aus. Das Mit­tel­al­ter mit sei­nen star­ren Stän­den mag ein pas­sen­des Bei­spiel aus der deut­schen Geschich­te sein. Wenn das Umfeld und die Regeln sta­bil blei­ben, muss ein Mensch nicht viel den­ken: Er tut die Din­ge so, wie er sie tut, weil man sie eben so tut, und wenn es ein Pro­blem oder eine Aus­nah­me gibt, wer­den die Rege­lungs­in­stan­zen der jewei­li­gen Gemein­schaft (Häupt­ling, Ältes­ten­rat, Geist­li­che oder ähn­li­che Funk­ti­ons­trä­ger oder Räte) ange­ru­fen, um den Sach­ver­halt zu klä­ren oder Ent­schei­dun­gen zu treffen.
  2. Men­schen, die ihre Gewohn­hei­ten hin­ter­fra­gen: Es hat im Lau­fe der Geschich­te immer wie­der Men­schen gege­ben, die sich nicht mit dem jewei­li­gen Sta­tus quo zufrie­den gege­ben, son­dern die­sen den­kend hin­ter­fragt haben. Betrifft die Hin­ter­fra­gung bspw. Pro­ze­du­ren (also wie man bspw. in einem bestimm­ten Berufs­feld etwas tut oder nicht tut), dann könn­te man die­se Hin­ter­fra­ger als „Inno­va­to­ren“ bezeich­nen. Hin­ter­fra­gen Men­schen jedoch die Grund­re­geln oder die Ver­fasst­heit eines Gemein­we­sens, dann sind sie wohl am Ehes­ten als „Rebel­len“ zu bezeich­nen. Begin­nen letz­te­re, ihre Hin­ter­fra­gung in Wor­te zu fas­sen und fin­den die­se Wor­te bei ande­ren Men­schen Anklang, kann dies zu indi­vi­du­el­len oder kol­lek­ti­ven Hand­lun­gen füh­ren, die den Sta­tus quo nicht nur den­kend, son­dern auch han­delnd infra­ge stel­len. Das führt zu Kon­flik­ten. Die Geschich­te der Mensch­heit ist voll von Bei­spie­len für sol­che Konflikte.

Es ist immer nur heute

Ange­nom­men, an den soeben dar­ge­stell­ten Zwei­feln an der Exis­tenz eines „Selbst“ ist etwas dran, dann „ver­wirk­li­chen“ wir uns nicht im Sin­ne der Ent­fal­tung von etwas, das bereits in uns ange­legt ist, son­dern wir „aktua­li­sie­ren“ uns nur, indem wir je nach Situa­ti­ons­er­for­der­nis, Gefühls­la­ge und bereits akti­vier­ten Gedächt­nis­in­hal­ten Erin­ne­run­gen abru­fen und kom­bi­nie­ren. Bestimm­te, häu­fig ver­wen­de­te Erin­ne­run­gen spie­len dabei viel­leicht eine domi­nan­te­re Rol­le als ande­re, sel­te­ner akti­vier­te Erin­ne­run­gen. Die­ses ste­te „Wie­der­erken­nen“ ver­mit­telt uns ein Gefühl von Kon­ti­nui­tät und Iden­ti­tät. Da jeder Mensch sei­ne eige­nen Erin­ne­run­gen hat, hat er auch ent­spre­chend das Gefühl, ein ein­zig­ar­ti­ges Indi­vi­du­um zu sein. Aber, so die For­scher um Nick Cha­ter, der Geist sei flach, und die „Tie­fe“ des Selbst sei eine Illusion.

Im Prin­zip ist, salopp for­mu­liert, immer nur heu­te. Wenn man sich nun jene „alten“ Zei­ten mit kol­lek­tiv ver­bind­li­che­ren Kon­ven­tio­nen vor­stellt, dann leuch­tet ein, dass Men­schen in jenen Zei­ten eine gewis­ser­ma­ßen „fes­te­re“, kon­ti­nu­ier­li­che­re und weni­ger ver­än­der­li­che Iden­ti­tät hat­ten als in unse­ren Zei­ten. Die heu­ti­gen iden­ti­täts­bil­den­den Pro­zes­se sind dich­ter — wir inter­agie­ren mehr in kür­ze­rer Zeit, wir ver­än­dern uns schnel­ler, wir haben mehr Optio­nen, und wir ver­än­dern uns nicht zuletzt auch des­halb, „weil wir es kön­nen“, sprich, weil wir die Mög­lich­keit dazu haben und uns kol­lek­ti­ve Regeln, Ver­bo­te und Tabus kaum mehr hin­dern. Bin ich mit einem Arbeit­ge­ber unzu­frie­den oder in einer Part­ner­schaft unglück­lich, kann ich gehen — zumin­dest mit weit gerin­ge­ren „Kos­ten“ und Kon­se­quen­zen als frü­her. 

Die Gewohn­hei­ten sind also weni­ger ver­bind­lich und „kurz­fris­ti­ger“ als noch vor weni­gen Jahr­zehn­ten. Gleich­zei­tig beschleu­nigt sich das Leben, die Optio­nen und die poten­ti­el­len Inter­ak­ti­ons- oder Iden­ti­fi­ka­ti­ons­part­ner wer­den mehr. Das hat zur Fol­ge, dass ich mich an „gefühlt mehr“ (fak­tisch: unter­schied­li­che­re, weni­ger gleich­ar­ti­ge Din­ge) erin­nern kann. Ich kann durch die Wahl derer, mit denen ich spre­che und die mich beein­flus­sen, bestim­men, wer ich bin. Da aber die Inter­ak­ti­ons­part­ner und Vor­bil­der — „Influen­cer“ 😉 — mehr wer­den und häu­fi­ger wech­seln, wer­de ich „fle­xi­bler“ — zuge­spitzt for­mu­liert: je nach Kon­text und Erin­ne­rung bin ich mal die­se oder jene Ver­si­on von mir.

Es ist also nicht nur „immer nur heu­te“, weil ich mich in jeder Situa­ti­on auf der Grund­la­ge mei­ner Gewohn­hei­ten aus mei­nen Erin­ne­run­gen neu zusam­men­set­ze. Son­dern es wird immer mehr „immer nur heu­te“, weil ich mich immer öfter — mit immer reich­hal­ti­ge­ren „Vor­la­gen“ und Optio­nen aus­ge­stat­tet — auf der Grund­la­ge einer immer gerin­ge­ren „Gewohn­heits­in­ten­si­tät“ aus einer Aus­wahl immer viel­fäl­ti­ge­rer Erin­ne­run­gen zusam­men­set­zen kann. 

Dann las­se ich immer weni­ger „grö­ßer als ich“ sein, und mein „Ich“ wird immer mehr zum Dreh- und Angel­punkt mei­ner Betrach­tun­gen — was die immer inten­si­ve­re Suche vie­ler Men­schen nach sich selbst erklärt. 

Da die­ses „Selbst“ aber nicht in dem Sin­ne „exis­tiert“, son­dern es immer wie­der neu zusam­men­ge­setzt wird, ver­lie­re ich mit zuneh­men­der Optio­nen- und Ein­fluss­viel­falt durch wach­sen­de Inter­ak­ti­ons­dich­te und Inter­ak­ti­ons­part­ner­fre­quenz (Job­wech­sel, Part­ner­wech­sel, Inter­ak­tio­nen in sozia­len Medi­en usw.) bei gleich­zei­tig zurück­ge­hen­der Anzahl und „Fes­tig­keit“ von Gewohn­hei­ten das immer mehr aus dem Blick, was ich mein „Selbst“ nenne. 

Durch die dann ggf. ein­set­zen­de inten­si­ve­re Suche nach dem Selbst ver­stär­ke ich noch ein­mal die Ein­fluss-Sei­te (gehe auf Rei­sen, buche einen Coach, lese Bücher, chat­te auf sozia­len Platt­for­men über sol­che Fra­gen) und ent­bin­de mich noch wei­ter von Gewohn­hei­ten (löse mich aus Kon­tex­ten, die mich zu sehr ein­schrän­ken, zie­he um, suche mir einen neu­en Job, tren­ne mich, suche inten­si­ver und schnel­ler wech­selnd nach neu­en Part­nern usw.). 

Das kann dann leicht zu einem Teu­fels­kreis wer­den, an des­sen Ende man vor lau­ter Ver­zweif­lung und Hilf­lo­sig­keit eso­te­ri­schen Heils­ver­spre­chen aufsitzt.

Wenn man annimmt, dass die­se Gedan­ken nicht gänz­lich abwe­gig sind, dann stellt sich die Fra­ge nach den Konsequenzen.

Die Spal­tung der Welt?

Auf einer gesell­schaft­li­chen Ebe­ne könn­te das Gesag­te bedeu­ten, dass wir es mit einer regel­rech­ten „Spal­tung der Welt“ zu tun haben. Wäh­rend die einen noch über fes­te­re Gewohn­hei­ten ver­fü­gen und des­halb weni­ger „flui­de“ Ich-Aktua­li­sie­run­gen bil­den, ändern die ande­ren ihre Sicht­wei­sen auf sich selbst zuneh­mend schnel­ler und fle­xi­bler, und zwar je nach Ein­fluss­stär­ke bestimm­ter (neu­er) Inter­ak­ti­ons­part­ner. Wäh­rend jene auf schnel­le Ver­än­de­run­gen gewohnt lang­sam reagie­ren, neh­men die­se neue Optio­nen wahr und pas­sen sich an — wech­seln schnel­ler den Job, die Part­ner­schaft, die Lebens­zie­le, die Freun­des­krei­se. Wäh­rend jene auf die zuneh­men­de Ver­net­zung der Welt, die Ver­viel­fäl­ti­gung der Optio­nen und die Beschleu­ni­gung des Lebens viel­leicht mit Skep­sis reagie­ren, sind die beschrie­be­nen Ent­wick­lun­gen für die­se gleich­sam das Was­ser, in dem sie schwim­men — und das durch ihre Hand­lun­gen immer „flüs­si­ger“ wird. Aus die­sen Ent­wick­lun­gen sind bereits, so will ich ver­mu­ten, zwei grund­le­gend ver­schie­de­ne Welt­bil­der gewor­den — mit gänz­lich unter­schied­li­chen Hand­lungs­mus­tern. Frei­lich beschrei­be ich hier Extrem­fäl­le, und die Rea­li­tät lässt sich wahr­schein­lich anhand eines Spek­trums zwi­schen den beschrie­be­nen Polen darstellen.

Auf einer indi­vi­du­el­len Ebe­ne könn­te das Gesag­te bedeu­ten, dass das, was wir unser Selbst nen­nen, immer fra­gi­ler und anfäl­li­ger für neue Ein­flüs­se wird. Wir kön­nen uns nicht nur nicht fin­den, son­dern die Suche bewirkt zudem das Gegen­teil. Woll­te man dem etwas ent­ge­gen­set­zen, wür­de man viel­leicht bei Marc Aurel fün­dig, der in sei­nen „Selbst­be­trach­tun­gen“ vor­ge­schla­gen hat, dass das Selbst am Ehes­ten aus Prin­zi­pi­en bestehen soll­te. Mit Gewohn­hei­ten und Prin­zi­pi­en setzt man der Varia­bi­li­tät der stän­di­gen Aktua­li­sie­rung etwas entgegen.

Führt Selbst-Suche in die Verzweiflung?

Viel­leicht ist es eine Iro­nie unse­rer Zeit, dass wir die Mar­gi­na­li­sie­rung von Kon­ven­tio­nen als Befrei­ung emp­fin­den. Wie bit­te? Die Kon­ven­tio­nen wur­den doch nicht ohne Grund redu­ziert, denn ein grö­ße­rer Teil der frü­her rigi­den Nor­men und Tabus haben ja zu leid­vol­len Kon­se­quen­zen geführt. Wie vie­le von häus­li­cher Gewalt betrof­fe­ne Frau­en konn­ten sich nicht tren­nen, weil sie mate­ri­el­le Not oder sozia­le Äch­tung erfah­ren hät­ten — oder schlicht, weil der Pfar­rer gesagt hat, dass man das nicht macht, dass man nicht trennt, was Gott zusam­men­ge­fügt hat? Das ist nur ein Bei­spiel. Die heu­te gerin­ge­re Dis­kri­mi­nie­rung bestimm­ter Grup­pen oder die weit­ge­hend vor­han­de­ne Frei­heit von Zwang mögen zu zahl­rei­chen wei­te­ren Bei­spie­len füh­ren. Aber, und dar­in liegt mei­nes Erach­tens eben eine gewis­se Iro­nie, die Mar­gi­na­li­sie­rung von Kon­ven­tio­nen ver­ur­sacht zusam­men mit der heu­te zu beob­ach­ten­den Beschleu­ni­gung des Lebens, der Ver­dich­tung von Inter­ak­tio­nen und der stei­gen­den Viel­falt von Optio­nen „offe­ne­re“ oder „fle­xi­ble­re“ Ich-Aktua­li­sie­run­gen, die es den Betrof­fe­nen umso schwe­rer machen zu sagen, wer sie selbst sind oder was sie wol­len. Die Fol­ge sind häu­fi­ge­re „Lebens­ent­schei­dun­gen“, und im Extrem­fall mag das in die Unfä­hig­keit mün­den, sich län­ger zu bin­den. Wenn nichts mehr „grö­ßer ist als wir“, wird das Lust­prin­zip zum letz­ten ver­blei­ben­den Maß­stab des Han­delns, was in Ver­bin­dung mit den beschrie­be­nen Ent­wick­lun­gen (Beschleu­ni­gung, Ver­dich­tung, Optio­nen­viel­falt) zu einer Per­fo­ra­ti­on des­sen führt, was wir bis­her als „Selbst“ bezeich­net haben. Hal­ten die­se Men­schen aber an dem Bild eines „Selbst“ fest, führt das bei zuneh­men­der Aktua­li­sie­rungs­fre­quenz oder „Ich-Viel­falt“ zu „Selbst-Ent­frem­dung“ und damit zur Suche nach dem Selbst und/oder zu Verzweiflung.

Was tun wir, wenn es kein Selbst gibt?

Eine Mög­lich­keit wäre, der Rea­li­tät ins Gesicht zu bli­cken und anzu­er­ken­nen, dass es so etwas wie ein fes­tes Selbst nicht gibt — und die Illu­si­on eines Selbst immer weni­ger her­stell­bar und halt­bar ist. Das hat Fol­gen für die Vor­stel­lun­gen vom Leben — fes­te Arbeits­ver­hält­nis­se über Jahr­zehn­te hin­weg, Part­ner­schaf­ten, die ein Leben lang hal­ten, all das wür­de dann kon­se­quen­ter­wei­se auf den Prüf­stand gehö­ren. Aber so rea­lis­tisch oder prag­ma­tisch zu sein, tut weh. Nicht umsonst wer­den mit sin­ken­der Erfolgs­wahr­schein­lich­keit die ent­spre­chen­den Vor­stel­lun­gen und Ritua­le „sym­bol­träch­ti­ger“ oder auch „schwüls­ti­ger“. Man betrach­te nur man­che Hoch­zei­ten, die eher per­fek­ten Insze­nie­run­gen ähneln als einer Fei­er unter ganz durch­schnitt­li­chen Menschen.

Eine rea­lis­ti­sche Aner­kennt­nis der Ent­wick­lun­gen wür­de uns zu der Fra­ge füh­ren, was uns in Zukunft zusam­men­hal­ten kann und wel­che Gewohn­hei­ten wir uns schaf­fen wol­len, die hilf­reich sind, unser Mit­ein­an­der zu gestal­ten. Der Häupt­ling, der Ältes­ten­rat, der Pfar­rer usw. haben jeden­falls aus­ge­dient. Waren es frü­her Auto­ri­tä­ten, die die Kon­ven­tio­nen ver­tre­ten haben, so wer­den es wahr­schein­lich in Zukunft Pro­zes­se sein, die uns jedes Mal spe­zi­fisch aus­han­deln las­sen, was wie gemacht wer­den soll.

Wie sei­ner­zeit bei der Ent­wick­lung der Vor­läu­fer unse­rer heu­ti­gen Gerichts­ver­fah­ren: Erst galt das Recht des Stär­ke­ren, dann ent­stand das Häupt­lings­tum, und Häupt­lin­ge haben Kon­flik­te qua­si stell­ver­tre­tend gelöst, und dar­aus ent­wi­ckel­te sich lang­sam eine Pro­ze­dur, in der vom Herr­scher beauf­trag­te Per­so­nen nach­voll­zieh­bar dar­stel­len soll­ten, wie der Kon­flikt liegt, um dann ein Urteil zu spre­chen. Natür­lich gab es auch hier alle Fehl­ent­wick­lun­gen und Düs­ter­nis­se, zu denen Men­schen fähig sind. Aber am Ende einer lan­gen Ent­wick­lung stan­den Pro­ze­du­ren, die eine eini­ger­ma­ßen nach­voll­zieh­ba­re (und damit kol­lek­tiv geteil­te und ggf. gerech­te) Erar­bei­tung eines Urteils zuließen.

Kei­ne Rol­le rück­wärts und auch nicht „any­thing goes“ — was dann?

Das mag abs­trakt klin­gen, aber so ist es, wenn etwas noch nicht da ist, sich aber in Vor­zei­chen lang­sam am Hori­zont des Gesche­hens zeigt: Es lässt sich noch nicht all­zu gut in Wor­te fas­sen, aber unse­re Auf­fas­sung von den Din­gen ändert sich bereits, wenn wir fest­stel­len, dass über­kom­me­ne Auf­fas­sun­gen neu­en Auf­fas­sun­gen Platz machen, obwohl noch kei­ner die neu­en Auf­fas­sun­gen rich­tig beschrei­ben kann.

Es wird wahr­schein­lich kei­ne „Rol­le rück­wärts“ in alte Zei­ten geben — auch wenn vie­le die „gute alte Zeit“ mit ihren fes­te­ren Kon­ven­tio­nen und Auto­ri­tä­ten ver­mis­sen. Es wird auch nicht kei­ne Auto­ri­tä­ten geben. Wie Auto­ri­tä­ten ent­ste­hen, wird nur neu ver­han­delt. Auch Bin­dung wird neu ver­han­delt, indem die Rol­len­bil­der, mit denen eine Ehe ver­bun­den ist, nicht mehr selbst­ver­ständ­lich sind bzw. die Ehe und die mit ihr ver­bun­de­nen gegen­sei­ti­gen Erwar­tun­gen ins­ge­samt nicht mehr selbst­ver­ständ­lich sind. 

Iden­ti­tät wird flüs­si­ger, weni­ger greif­bar. Das heißt mit­nich­ten, dass etwa alles einem radi­ka­len „Dekon­struk­ti­vis­mus“ unter­wor­fen wird. „Any­thing goes“ bleibt mei­nes Erach­tens eine rein aka­de­mi­sche Übung. Frei­lich wird Iden­ti­tät her­ge­stellt, nur eben weni­ger über kol­lek­ti­ve Kon­ven­tio­nen und „alte“ Gewohn­hei­ten, son­dern „flüs­si­ger“ und „fle­xi­bler“. Der­zeit lässt sich eine gewis­se „Gleich­zei­tig­keit aller Zei­ten“ beob­ach­ten, indem aktu­el­le Iden­ti­tä­ten mit allen mög­li­chen his­to­ri­sie­ren­den Bil­dern (bspw. Vin­ta­ge, lan­ge Bär­te, ein Mode-Sam­mel­su­ri­um aus unter­schied­lichs­ten Jahr­zehn­ten) auf­ge­la­den wer­den, und die glo­bal funk­tio­nie­ren­den sozia­len Platt­for­men sor­gen für eine gewis­se glo­ba­le Nivel­lie­rung oder Syn­chro­ni­sie­rung von Vor­stel­lun­gen und Leit­bil­dern. Zwar zeigt sich an vie­len Stel­len eine kon­ser­va­ti­ve Rück­be­sin­nung, was in west­li­chen Län­dern nicht zuletzt an den Wahl­er­geb­nis­sen sicht­bar wird, aber die Fra­ge der Zukunft wird nicht lau­ten, „wohin zurück“ wir wol­len, son­dern was wir mit­neh­men wol­len (also vor allem: wel­che Gewohn­hei­ten wir behal­ten wollen).

Dass ich Optio­nen habe, sorgt für mehr Optionen

Eine bis­her nur zu erah­nen­de Kon­se­quenz lässt sich im Bereich der Wir­kung von Medi­en auf die Selbst-Aktua­li­sie­rung von Men­schen ver­mu­ten. Die oben beschrie­be­ne Ver­dich­tung von Inter­ak­tio­nen und die Ver­viel­fäl­ti­gung von Optio­nen hat ja vor allem auch mit Platt­for­men im Inter­net zu tun. Wenn ich kei­ne Part­ne­rin oder kei­nen Part­ner habe, kann ich mir (rela­tiv) leicht Zugang zu ent­spre­chen­den Optio­nen ver­schaf­fen — was im Erfolgs­fall die Wahr­schein­lich­keit erhöht, dass ich mich im Bedarfs­fall wie­der die­ser Mög­lich­kei­ten bedie­ne — was wie­der­um die Wahr­schein­lich­keit erhöht, dass ich den Bedarfs­fall ggf. eher ein­tre­ten las­se. Man­che Tren­nun­gen fin­den statt, so will ich ver­mu­ten, weil es neue Optio­nen gibt. (Was das für die „Halt­bar­keit“ von Bezie­hun­gen bedeu­tet und wel­che „Ver­wer­fun­gen“ das hin­sicht­lich der für gemein­sa­me Kin­der not­wen­di­gen Ver­ant­wor­tung und Sta­bi­li­tät ver­ur­sacht, stel­le ich in mei­nem nächs­ten Buch „Lie­be ist eine Ent­schei­dung“ dar, das im März 2020 erscheint.) 

Elek­tro­ni­sche „Freun­de“ und ihr Ein­fluss auf mein Gehirn

Die „Fle­xi­bi­li­sie­rung“ der Optio­nen bei der Part­ner­wahl ist jedoch nur ein Bei­spiel. Die Wir­kun­gen rei­chen, so will ich mei­nen, viel tie­fer. Bereits in den Neun­zi­ger Jah­ren haben For­scher beob­ach­tet, dass die Anzahl enger Freun­de von Jahr­gang zu Jahr­gang gerin­ger wird, die Zufrie­den­heit mit den Freund­schaf­ten aber zunimmt. Erklärt haben die For­scher die­ses Phä­no­men mit der Wir­kung von Medi­en, indem Seri­en­hel­den zuneh­mend die inner­psy­chi­sche Funk­ti­on von Freun­den ein­neh­men bzw. für die mensch­li­che Psy­che äqui­va­lent zu rea­len Freun­den sind. Dann erin­ne­re ich mich an das, was mein „Freund“, der Seri­en­held, gesagt hat anstatt an das, was mein rea­ler Freund Mat­thi­as gesagt hat — mei­nem Gehirn ist das offen­sicht­lich ganz egal. Pro­ble­ma­tisch wird es nur, wenn ich tat­säch­lich ein­mal Hil­fe brau­che — der Seri­en­held könn­te dann nicht hel­fen, Mat­thi­as schon. Indem nun die Inter­ak­ti­ons­mög­lich­kei­ten und die Inter­ak­ti­ons­dich­te und ‑geschwin­dig­keit im Netz immer mehr zuneh­men, set­zen Men­schen ihre Gehir­ne zuneh­mend medi­al ver­mit­tel­ten Ein­flüs­sen aus. Das bedeu­tet, die dort agie­ren­den oder idea­li­siert dar­ge­stell­ten Per­so­nen (auf einem Insta­gram-Pro­fil kann das rea­le Leben abge­bil­det wer­den, muss es aber nicht — und wird es von den meis­ten auch nicht) einen — im Ver­gleich zu rea­len Per­so­nen viel­leicht gerin­ge­ren, aber nicht zu ver­nach­läs­si­gen­den — Ein­fluss auf das haben, wor­an sich eine Per­son bei ihrer nächs­ten Selbst-Aktua­li­sie­rung erin­nert wird. Das sorgt in gewis­ser Wei­se für eine glo­ba­le Anglei­chung von Vor­stel­lun­gen und Inter­es­sen, hat aber auch noch eine ande­re Dimen­si­on, die uns im All­tag wenig bewusst wird: Die Algo­rith­men scan­nen das Ver­hal­ten der Nut­zer, bil­den es ab und sor­gen so für eine „nut­zer­ori­en­tier­te“ Infor­ma­ti­ons­aus­wahl. Aber durch die gro­ßen Daten­men­gen las­sen sich auch weni­ger bewuss­te Bedürf­nis­se und Nut­zer­ei­gen­schaf­ten erken­nen, die dann wie­der­um eine gewis­se „Nut­zer­füh­rung“ ermög­li­chen. Ein Algo­rith­mus „weiß“ nichts, aber er regelt, was ich als poten­ti­el­les Wis­sen vor­ge­setzt bekom­me. Er bil­det also nicht nur Ver­hal­ten und Inter­es­sen ab, um zu lie­fern (bspw. die rich­ti­ge Buch­emp­feh­lung), son­dern er kann auch „vor­ge­ben“, Inter­es­sen prä­gen und damit Iden­ti­tät beeinflussen.

Jörg Hei­dig

Von Jörg Heidig

Jörg Heidig, Jahrgang 1974, nach Abitur und Berufsausbildung in der Arbeit mit Flüchtlingen zunächst in Deutschland und anschließend für mehrere Jahre in Bosnien-Herzegowina tätig, danach Studium der Kommunikationspsychologie, anschließend Projektleiter bei der Internationalen Bauausstellung in Großräschen, seither als beratender Organisationspsychologe, Coach und Supervisor für pädagogische Einrichtungen, soziale Organisationen, Behörden und mittelständische Unternehmen tätig. 2010 Gründung des Beraternetzwerkes Prozesspsychologen. Lehraufträge an der Hochschule der Sächsischen Polizei, der Dresden International University, der TU Dresden sowie der Hochschule Zittau/Görlitz.