Über alternative Organisationen als „Flüchtlingslager“ oder: Warum manche Lernprozesse besonders konfliktreich sind

Wir haben in den ver­gan­ge­nen Jah­ren immer wie­der mit Orga­ni­sa­tio­nen mit einem hohen idea­lis­ti­schen Anspruch und mit alter­na­ti­ven Lebens­ge­mein­schaf­ten gear­bei­tet. Bei­de, aber ins­be­son­de­re letz­te­re ver­ste­hen sich oft auch als „Expe­ri­men­tier­fel­der“ sowohl für ein nach­hal­ti­ge­res Leben als auch neue oder eben alter­na­ti­ve Gemein­schafts­for­men. Unse­re Arbeit bestand in der Regel dar­in, Klä­rungs- oder Ent­schei­dungs­pro­zes­se zu moderieren.
Von beson­de­rem Inter­es­se war für uns die Fra­ge danach, was den Zusam­men­halt in sol­chen Orga­ni­sa­tio­nen aus­macht. Aus theo­re­ti­scher Per­spek­ti­ve gibt es drei For­men von Bin­dung an eine Orga­ni­sa­ti­on (Schein 1980). Ers­tens kann man zu einer Orga­ni­sa­ti­on gehö­ren, weil man dazu gezwun­gen wird. Das trifft bei­spiels­wei­se auf die Insas­sen eines Gefäng­nis­ses zu. Zwei­tens kann man aus wirt­schaft­li­chem Inter­es­se zu einer Orga­ni­sa­ti­on gehö­ren. Man­che Men­schen sagen, dass sie arbei­ten, um Geld zu ver­die­nen. Sie gehö­ren also aus mehr oder min­der uti­li­ta­ris­ti­schem Inter­es­se zu den Unter­neh­men oder Orga­ni­sa­tio­nen, für die sie arbei­ten. Drit­tens stellt die Zuge­hö­rig­keit zu bestimm­ten Orga­ni­sa­tio­nen einen „Wert an sich“ dar, man wird also Mit­glied, weil man ähn­li­che Wer­te teilt, ein hohes Maß an idea­lis­ti­scher Ori­en­tie­rung mit­bringt und so wei­ter. Letz­te­rer Fall soll­te, so viel­leicht der ers­te Ein­druck von außen, auf alter­na­ti­ve Lebens­ge­mein­schaf­ten zutreffen.
Auf den ers­ten Blick fan­den wir die­ses Bild auch bestä­tigt. Doch mit der Zeit beka­men wir in eini­gen Fäl­len den Ein­druck, dass „hin­ter“ der oft vor­ge­tra­ge­nen idea­lis­ti­schen Wer­te­ori­en­tie­rung etwas ande­res steck­te. Zwar sag­ten man­che Mit­glie­der, sie sei­en hier, um ihre Idea­le zu ver­wirk­li­chen und Teil der Gemein­schaft zu sein. In der Rea­li­tät der Klä­rung all­täg­li­cher Inter­es­sen­kon­flik­te (bspw. die Nut­zung bestimm­ter Räu­me oder die Orga­ni­sa­ti­on wirt­schaft­li­cher Zweck­be­trie­be mit öko­lo­gi­scher Aus­rich­tung) beka­men wir es aber dann mit allen Arten her­kömm­li­cher stra­te­gi­scher Kom­mu­ni­ka­ti­on zu tun, die wir auch aus ande­ren Orga­ni­sa­tio­nen ken­nen: Macht, Herr­schafts­wis­sen, stra­te­gi­sche Kom­mu­ni­ka­ti­on und so wei­ter. Der Selbst­schutz war also auch hier der wesent­li­che Fak­tor der Kom­mu­ni­ka­ti­on. In einem Fall, den wir als beson­ders kom­pli­ziert erleb­ten, ver­misch­ten sich der selbst­de­fi­nier­te Anspruch an die Kom­mu­ni­ka­ti­on (Kon­sens mit Veto­rech­ten) und der Selbst­schutz zu einer stra­te­gi­schen Gesprächs­hal­tung nach dem fol­gen­den Mus­ter: „Ich will noch ein­mal ganz deut­lich sagen, was mich stört. So, wie wir hier reden, geht das nicht. Wir brau­chen Kon­sens. Wenn das nicht geht, muss ich von mei­nem Veto­recht Gebrauch machen.“ oder: „So könnt Ihr das nicht sehen. Wenn Ihr das wirk­lich so seht und über­haupt nicht auf das ein­geht, was ich sage und was mir wich­tig ist, dann kann ich ja gehen.“ Eini­ge sind dann in die­sem spe­zi­el­len Fall auch gegan­gen oder wur­den vor­sorg­lich von der Grup­pe ausgeschlossen.
Nach­dem wir eini­ge sol­cher Pro­zes­se mit manch­mal mehr und manch­mal weni­ger Erfolg zu Ende gebracht haben, lässt sich die Fra­ge nach der Bin­dung an alter­na­ti­ve Orga­ni­sa­tio­nen wie folgt beant­wor­ten. Aus unse­rer Sicht gibt es drei ver­schie­de­ne Arten von Bindung:

  1. Die Bin­dungs­kraft der Idea­le ist so stark, dass die zuge­hö­ri­gen Men­schen ihre gesam­ten Lebens­in­ter­es­sen und Prio­ri­tä­ten dar­un­ter ord­nen. Das gemein­sa­me Ziel erscheint so wich­tig und bedeut­sam, dass das Ein­zel­in­ter­es­se dahin­ter ver­sinkt. Die­sen Gemein­schaf­ten gelingt es, auf Dau­er eine regel­rech­te alter­na­ti­ve Lebens­form zu eta­blie­ren, aller­dings um den Preis des Ver­lus­tes vie­ler indi­vi­du­el­ler Inter­es­sen. Das Leben wird gleich­sam an den höhe­ren Zweck „hin­ge­ge­ben“. Neben eini­gen posi­ti­ven Bei­spie­len haben wir hier aber auch erlebt, dass die hohen gemein­sa­men Wer­te zwar vor­ge­tra­gen wur­den, aber im Wesent­li­chen die Idea­le und Inter­es­sen einer „guru­haf­ten“ Per­son an der Spit­ze in gewis­ser Wei­se „umman­tel­ten“.
  2. Eini­ge Gemein­schaf­ten und Orga­ni­sa­tio­nen hat­ten sich viel­leicht ursprüng­lich auf der Grund­la­ge idea­lis­ti­scher Vor­stel­lun­gen gegrün­det, hat­ten dann aber mit der Grün­dung wirt­schaft­li­cher Zweck­be­trie­be, im Zuge der Sanie­rung von Gebäu­den oder durch ande­re, für die Orga­ni­sa­ti­on exis­ten­ti­el­le Vor­ha­ben gelernt, dass es ohne eine gewis­se mate­ri­el­le Bin­dung bzw. ein gewis­ses wirt­schaft­li­ches Inter­es­se nicht funk­tio­niert. Die­se Orga­ni­sa­tio­nen neh­men in man­chen Fäl­len ein ver­gleichs­wei­se hohes „Ein­tritts­geld“ von neu­en Mit­glie­dern oder/und haben stren­ge Regeln, wie viel etwa gear­bei­tet oder erwirt­schaf­tet wer­den muss und wie Ent­schei­dun­gen zustan­de kom­men. Zu den auf alter­na­ti­ven Ide­al­vor­stel­lun­gen beru­hen­den Regeln kom­men also sol­che, die sich schlicht aus wirt­schaft­li­chen bzw. mone­tä­ren Not­wen­dig­kei­ten ergeben.
  3. Eine drit­te Grup­pe alter­na­ti­ver Orga­ni­sa­tio­nen und Gemein­schaf­ten lässt sich aus unse­rer Sicht am Ehes­ten als „Flücht­lings­la­ger“ begrei­fen. Vie­le Mit­glie­der haben frus­trie­ren­de Arbeits- oder Lebens­er­fah­run­gen gemacht und erhof­fen sich vom Leben in der Gemein­schaft oder von der Arbeit in der betref­fen­den Orga­ni­sa­ti­on (bspw. Leh­rer in einer frei­en Schu­le, nach­dem sie in regu­lä­ren Schu­len schlech­te Erfah­run­gen gemacht haben) einen gewis­sen Schutz oder eine gewis­se Frei­heit, etwa von einem vor­her erleb­ten „Druck zu funk­tio­nie­ren“. Man kommt also – zumin­dest teil­wei­se – zusam­men, weil man „weg von etwas ande­rem“ möch­te. Die Kraft des „hin zu etwas“ der gemein­sa­men Wert­vor­stel­lun­gen ist dem­entspre­chend noch nicht gege­ben, son­dern muss erar­bei­tet bzw. erlernt wer­den. In die­sen Gemein­schaf­ten trifft man dem­entspre­chend oft auf eine recht bun­te Mischung von Vor­stel­lun­gen, Idea­len und Wer­ten. Neben viel­leicht bud­dhis­ti­schen Ori­en­tie­run­gen ste­hen dann etwa öko­lo­gi­sche, eso­te­ri­sche und so wei­ter in teils gläu­bi­ger, teils athe­is­ti­scher Aus­rich­tung. Es ist hier denk­bar schwer, sich auf ein gemein­sa­mes Fun­da­ment zu eini­gen, aus­ge­nom­men unspe­zi­fi­sche und unver­bind­li­che Gemein­plät­ze wie „Nach­hal­tig­keit“, die zwar alle vor­der­grün­dig tei­len, die aber noch kein gemein­sa­mes, kon­kre­tes und Moti­va­ti­on erzeu­gen­des „hin zu“ ver­kör­pern. Man­che die­ser Orga­ni­sa­tio­nen ler­nen mit der Zeit im Zuge kon­flikt­rei­cher Eini­gungs­pro­zes­se, sich auf ein gemein­sa­mes Fun­da­ment zu ver­stän­di­gen. Ande­re ver­har­ren in einer Art Ago­nie, die nur von aus der Frus­tra­ti­on, dass sich nichts ent­wi­ckelt, gebo­re­nen Allein­gän­gen klei­ner Teil­grup­pen unter­bro­chen wird.

Ein sol­cher Eini­gungs­pro­zess dau­ert Jah­re und ist nicht ohne per­so­nel­len Wech­sel mach­bar. Aber die mitt­le­re Ver­weil­dau­er in den „Flücht­lings­la­gern“ ist ohne­hin nicht beson­ders hoch. Es bedarf also einer grund­le­gen­den Akzep­tanz der Not­wen­dig­keit von Kon­flik­ten sowie des Mutes und des Durch­hal­te­ver­mö­gens, die­se Kon­flik­te anzu­ge­hen, aus­zu­hal­ten und immer wie­der neu anzu­ge­hen, wenn die Bequem­lich­keit der gemein­schaft­li­chen Ago­nie, also des kol­lek­ti­ven Ver­har­rens in der die jewei­li­gen Selbste schüt­zen­den, hier lei­der völ­lig falsch ver­stan­de­nen Viel­falt wie­der Über­hand neh­men will. Ohne die­se Kon­flik­te gibt es kei­nen Lern­pro­zess, und der „Flücht­lings­mo­dus“ (allen gemein ist ein „weg von“, wobei die jewei­li­gen Ursa­chen des „weg von“ höchst unter­schied­lich sind und ein gemein­sa­mes „hin zu“ zunächst ver­hin­dern) bleibt erhalten.
Am Ende, und das ist eine Schluss­fol­ge­rung, die man­chen Betei­lig­ten auf den ers­ten Blick ganz und gar nicht gefällt, ist die Gemein­sam­keit des uti­li­ta­ris­ti­schen Inter­es­ses nicht die schlech­tes­te der denk­ba­ren Lösun­gen. Wenn man näm­lich genau hin­sieht, dann spie­len kla­re Regeln für die Kom­mu­ni­ka­ti­on bzw. die Ent­schei­dungs­fin­dung und für die wirt­schaft­li­che oder schlicht mone­tä­re Betei­li­gung in funk­tio­nie­ren­den alter­na­ti­ven Orga­ni­sa­tio­nen und Gemein­schaf­ten eine sehr wesent­li­che Rolle.

Jörg Hei­dig

Von Jörg Heidig

Jörg Heidig, Jahrgang 1974, nach Abitur und Berufsausbildung in der Arbeit mit Flüchtlingen zunächst in Deutschland und anschließend für mehrere Jahre in Bosnien-Herzegowina tätig, danach Studium der Kommunikationspsychologie, anschließend Projektleiter bei der Internationalen Bauausstellung in Großräschen, seither als beratender Organisationspsychologe, Coach und Supervisor für pädagogische Einrichtungen, soziale Organisationen, Behörden und mittelständische Unternehmen tätig. 2010 Gründung des Beraternetzwerkes Prozesspsychologen. Lehraufträge an der Hochschule der Sächsischen Polizei, der Dresden International University, der TU Dresden sowie der Hochschule Zittau/Görlitz.