Über das Verhältnis von Freiheit und Pflicht – und was das für Führungskräfte bedeutet

In Nord­ko­rea ist die Sache klar: Dort ist mehr Frei­heit qua­si immer ein Fort­schritt. Jede neue Mög­lich­keit zur Selbst­be­stim­mung, jeder Zen­ti­me­ter mehr Auto­no­mie bedeu­tet ein Weni­ger an Unter­drü­ckung. Doch was pas­siert, wenn Frei­heit nicht mehr auf eine star­re Ord­nung trifft, son­dern auf eine Gesell­schaft oder Orga­ni­sa­ti­on, die bereits offen, par­ti­zi­pa­tiv, indi­vi­dua­li­siert ist? Was, wenn Frei­heit nicht mehr zur Lösung wird, son­dern Teil des Problems?

Genau hier beginnt das Para­dox. Denn Frei­heit ist kein Selbst­zweck, kein unbe­grenz­ter Wert. Sie braucht ein Gegen­ge­wicht, einen Grund für ihre Idee. Eine „Frei­heit von“ ist etwas ande­res als eine „Frei­heit zu“. Frei­heit von etwas ist uns irgend­wie selbst­ver­ständ­lich. Frei­heit von… zu viel Struk­tur, zu viel Rich­tung, zu viel Gän­ge­lei, einer Idee vom Gan­zen, die zwar als „real exis­tie­rend“ gilt, aber die nie­mand real sieht. Frei­heit zu etwas ist kom­pli­zier­ter. Schnell ist man hier beim Begriff der Ver­ant­wor­tung. Ohne Ver­ant­wor­tung wird aus Frei­heit schnell Frag­men­tie­rung, aus Mit­be­stim­mung Belie­big­keit, aus Offen­heit ein Zustand der Lähmung.

Die Para­bel der Frei­heit (das Beitragsbild)

Gesell­schaf­ten und in gewis­sem Maße auch Orga­ni­sa­tio­nen fol­gen oft einer — auf den ers­ten Blick womög­lich para­dox anmu­ten­den — Entwicklung:

Am lin­ken Ende der Kur­ve: Die star­re, irgend­wie „alte“ Welt. In der all­zu häss­li­chen Vari­an­te han­delt es sich um ein tota­li­tä­res Sys­tem. Mehr Frei­heit ist dann immer bes­ser. Die mil­de­re Vari­an­te bedeu­tet auto­ri­tä­re Füh­rung. Mehr Frei­heit ist dann zumin­dest meis­tens besser.

Etwas wei­ter oben, aber noch auf der lin­ken Sei­te der Kur­ve: kla­re Hier­ar­chien, kaum Mit­spra­che. Mehr Frei­heit schafft zumin­dest mehr Ent­fal­tung, mehr Mög­lich­kei­ten und „klü­ge­re“ Orga­ni­sa­tio­nen, weil mehr in der Sache klu­ge Men­schen an der Ent­schei­dung betei­ligt waren.

In der Mit­te: Balan­ce. Struk­tur und Frei­heit sind im Gleich­ge­wicht. Ver­ant­wor­tung ist ver­teilt, aber ver­an­kert. Das Pro­blem: Wir haben kei­nen Sinn dafür, Gleich­ge­wich­te zu erken­nen. Wir schaf­fen eine ver­meint­lich „alte Welt“ immer noch ab, auch wenn wir bspw. schon ein gewis­ses „Gleich­ge­wicht“, etwa in Bezug auf Tole­ranz oder Betei­li­gung, erreicht haben. 

Rechts: „Mehr Frei­heit“ ist nicht mehr auto­ma­tisch „bes­ser“, im Gegen­teil: mehr Frei­heit führt erst zur Hin­ter­fra­gung bestehen­der Stan­dards und Regeln — und dann zur Opti­mie­rung von Kom­fort­zo­nen (getarnt als Ver­tei­di­gung indi­vi­du­el­ler Rech­te). Das Ergeb­nis: eine gewis­se “neue Star­re”. Alles ist erlaubt, alles ist hin­ter­frag­bar und ver­han­del­bar – und genau des­halb pas­siert… nichts mehr.

Im Gegen­teil: Nun kom­men idea­lis­ti­sche Men­schen mit neu­en Nor­men um die Ecke. Ande­re als bspw. wirt­schaft­li­che Kri­te­ri­en wer­den rele­vant. Und so sinn­voll dies auch erschei­nen mag, wenn irgend­wel­che „älte­ren“ Nor­men noch herr­schen, so sehr unter­gräbt es Orga­ni­sa­tio­nen, wenn Aspek­te wie Diver­si­tät oder Inklu­si­on abso­lut gesetzt, das heißt, über den Zweck der Orga­ni­sa­ti­on geho­ben werden.

Oder nimmt man den Nach­hal­tig­keits­ge­dan­ken: Klar ist es sinn­voll, die Wirt­schaft umzu­bau­en, aber wenn man den Umbau so schnell und kon­se­quent betreibt, dass signi­fi­kan­te Tei­le der Wirt­schaft anschlie­ßend nicht mehr da sind, dann schüt­tet man das Kind mit dem Bade aus, denn dann gibt es fort­an auch signi­fi­kant weni­ger Steu­er­ein­nah­men, die man aber eben bräuch­te für die sozia­len, öklo­gi­schen, diver­si­täts­ori­en­tier­ten oder inklu­si­ven Pro­jek­te, die man auf der Agen­da hat.

Wo alles dis­ku­tiert wird, wird nichts mehr ent­schie­den. Wo jede Stim­me gleich viel wiegt, fehlt Ori­en­tie­rung. Und wo psy­cho­lo­gi­sche Sicher­heit zum Schutz­schild gegen jede Zumu­tung wird, stirbt die Konfliktfähigkeit.

Was gute Füh­rung heu­te leis­ten muss

Gute Füh­rung balan­ciert. Sie kennt die Gren­ze zwi­schen Struk­tur und Erstar­rung. Zwi­schen Frei­raum und Cha­os. Sie weiß: Es gibt Regeln, die nicht ver­han­del­bar sind. Und sol­che, die ver­än­der­bar sein müs­sen. Am Ende geht es immer dar­um, was auf den Zweck der jewei­li­gen Orga­ni­sa­ti­on ein­zahlt. Und selbst wenn der Zweck der Orga­ni­sa­ti­on selbst unter Druck steht, weil sich der Markt oder die Nor­men ändern, geht es um die Fra­ge, was in Zukunft auf den Zweck der Orga­ni­sa­ti­on ein­zahlt, wie sich die Orga­ni­sa­ti­on ggf. ändern oder wei­ter­ent­wi­ckeln muss. 

Ein paar ggf. hilf­rei­che Prinzipien:

Struk­tur geben, ohne zu ersti­cken. Nicht alles regeln. Aber klä­ren, was nicht dis­ku­tiert wer­den soll und was eigen­ver­ant­wort­lich gere­gelt wer­den kann oder soll.

Ver­ant­wor­tung benen­nen. In fla­chen Hier­ar­chien braucht es umso mehr Klar­heit: Wer ent­schei­det was?

Frei­heit begren­zen, wo sie scha­det. Nicht jeder Wunsch ist ein Anspruch. Nicht jede Aus­nah­me ein Fortschritt.

Füh­rung zei­gen. Nicht als Kon­trol­le, son­dern als Ori­en­tie­rung. Wer nicht steu­ert, wird gesteuert.

Das Ende der Balan­ce ist der Anfang der Gegenreaktion

Geschich­te ist oft eine Pen­del­be­we­gung. In einer Pha­se der Ord­nung erscheint mehr Frei­heit attrak­tiv. Und umge­kehrt: In einer Pha­se der Belie­big­keit macht mehr Ord­nung Sinn. Die Kunst liegt nicht im Sprung zwi­schen den Polen, son­dern im „Ver­such der Mitte“.

Eine Orga­ni­sa­ti­on, die sich über Frei­heit defi­niert, aber kei­ne Ver­ant­wor­tung mehr ver­an­kert, wird insta­bil. Eine Gesell­schaft, die nur noch Viel­falt betont, aber kei­ne gemein­sa­men Grund­la­gen mehr fin­det, wird unver­bind­lich und müde.

Fazit

Frei­heit braucht, wenn schon kei­ne „Rich­tung“ (denn dann wäre es ja kei­ne Frei­heit im eigent­li­chen Sin­ne), wenigs­tens einen Grund — oder ein WOZU. Pflicht braucht Sinn. Orga­ni­sa­tio­nen brau­chen bei­des: Eigen­ver­ant­wor­tung und Struk­tur, Betei­li­gung und Klarheit.

Füh­rung ist kein Ent­we­der-Oder. Es ist Span­nungs­ma­nage­ment. Und viel­leicht ist es genau die­se Auf­ga­be, an der sich ent­schei­det, ob Orga­ni­sa­tio­nen zukunfts­fä­hig blei­ben oder kip­pen — in die Deka­denz einer gren­zen­lo­sen Offen­heit oder die Rigi­di­tät einer neu­en Kontrolle.

Bei­des ist nicht sinn­voll. Balan­ce wäre es. Nur dass wir als Men­schen eben kaum einen Sinn für Gleich­ge­wicht haben.

Jörg Hei­dig

Von Jörg Heidig

Dr. Jörg Heidig, Jahrgang 1974, ist Organisationspsychologe, spezialisiert vor allem auf Einsatzorganisationen (Feuerwehr: www.feuerwehrcoach.org, Rettungsdienst, Polizei) und weitere Organisationsformen, die unter 24-Stunden-Bedingungen funktionieren müssen (bspw. Pflegeheime, viele Fabriken). Er war mehrere Jahre im Auslandseinsatz auf dem Balkan und hat Ende der 90er Jahre in Görlitz bei Herbert Bock (https://de.wikipedia.org/wiki/Herbert_Bock) Kommunikationspsychologie studiert. Er schreibt regelmäßig über seine Arbeit (www.prozesspsychologen.de/blog/) und hat eine Reihe von Büchern veröffentlicht, darunter u.a. "Gesprächsführung im Jobcenter" oder "Die Kultur der Hinterfragung: Die Dekadenz unserer Kommunikation und ihre Folgen" (gemeinsam mit Dr. Benjamin Zips: www.kulturderhinterfragung.de). Dr. Heidig lebt in der Lausitz und begleitet den Strukturwandel in seiner Heimat gemeinsam mit Stefan Bischoff von MAS Partners mit dem Lausitz-Monitor, einer regelmäßig stattfindenden Bevölkerungsbefragung (www.lausitz-monitor.de). In jüngster Zeit hat Jörg Heidig gemeinsam mit Viktoria Klemm und ihrem Team im Landkreis Görlitz einen Jugendhilfe-Träger aufgebaut. Dr. Heidig spricht neben seiner Muttersprache fließend Englisch und Serbokroatisch sowie Russisch. Er ist häufig an der Landesfeuerwehrschule des Freistaates Sachsen in Nardt tätig und hat viele Jahre Vorlesungen und Seminare an verschiedenen Universitäten und Hochschulen gehalten, darunter an der Hochschule der Sächsischen Polizei und an der Dresden International University. Sie erreichen Dr. Heidig unter der Rufnummer 0174 68 55 023.