Nachdem wir uns im ersten Teil dieser Serie mit den Einflüssen von Tischformen und Sitzpositionen auf die Gesprächsführung beschäftigt haben, soll es im zweiten Teil um die Frage nach „eskalationsverstärkenden“ und „deeskalierenden“ Einflussfaktoren des Raumes auf die Gesprächsführung gehen.
Zunächst müssen wir uns vor Augen halten, dass wir „territoriale“ Wesen sind. Wir reagieren sehr sensibel auf Abstände — oder anders formuliert: Abstände sind ein oft ebenso unbewusstes wie sensibles Thema. Ich will das zunächst an drei Beispielen erläutern:
Beispiel 1: Die „Pissoir-Situation“
Stellen Sie sich die Männertoilette in einer Diskothek vor, genauer: die Pissoir-Reihe. Und stellen Sie sich nun einen Herren vor, der dieses Pissoir betritt — und allein ist: Wo stellt er sich hin? Genau: wahrscheinlich in die Mitte — oder fast hinten, nicht ganz hinten, aber fast. Und jetzt stellen Sie sich vor, der Mann betritt das Pissoir, und es ist schon jemand da, aber nur eine Person. Der Mann stellt sich keineswegs neben den Herren, der schon da ist. Steht jener bereits in der Mitte, geht unser Mann auf Abstand — in die Nähe eines der Enden, aber vielleicht nicht ganz ans Ende. Man kann auch in eine Situation geraten, in der mehrere Pissoirs in Benutzung sind — die Hinzukommenden werden vermeiden, sich direkt nebeneinander zu stellen, so lange es eben zu vermeiden ist. Direkt nebeneinander wird sich nur gestellt, wenn es nicht mehr anders geht, also beispielsweise auch alle Klosetts besetzt sind.
Beispiel 2: Die „tastende Positionssuche“ unter Unbekannten
Ähnliches lässt sich in Seminarräumen beobachten, wenn sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer nicht kennen. Der Seminarraum ist noch leer. Es ist ein größerer Raum mit 12 bis 15 Plätzen zu einem offenen U angeordnet. Vorn der Referententisch. Die erste Teilnehmerin betritt den Raum. Welchen Platz wird sie nehmen? Wahrscheinlich einen fast am Ende eines der Enden des Us, weit weg von der Tür, und zwar so, dass sie die Tür im Blick hat. Der zweite Teilnehmer betritt den Raum, sagt vielleicht „Hallo“ und sucht sich einen Platz weit weg von der ersten Person, aber immer noch so, dass er ggf. die Tür im Blick hat. Die weiteren Personen folgen in gewisser Weise diesem Muster — sie positionieren sich in größeren Abständen voneinander, auch wenn sie den „Nachteil“ in Kauf nehmen müssen, die Tür vielleicht im Rücken zu haben. Die folgende Abbildung zeigt ein mögliches Muster der ersten Platzwahlen in einem Seminarraum.

Das muss natürlich nicht genau so ablaufen, wird aber, wenn sich die Leute nicht kennen, ähnlich ablaufen. Plätze direkt neben anderen Personen werden in der Regel erst dann gewählt, wenn keine anderen Optionen mehr vorhanden sind. In diesem Fall kann es zu „tastenden“ Verhaltensweisen kommen: Man fragt vielleicht, ob der Platz noch frei ist, stellt seine Tasche auf den Stuhl und geht noch einmal weg. Erst später, kurz bevor das Seminar beginnt, nimmt man Platz.
Beispiel 3: Kulturelle Unterschiede beim Abstand und in der Lautstärke
Eine oft unbemerkter, aber signifikant wirksamer Faktor in der Gesprächsführung sind unterschiedliche Gewohnheiten bei Abständen und in der Lautstärke. Es gibt bspw. Kulturen, in denen das Leben einer Familie mehr oder minder hauptsächlich in einem Raum stattfindet, und es gibt Kulturen, in denen jedes Familienmitglied einen eigenen Raum hat und/oder in denen Räume stärker nach Funktionen getrennt werden. Oft geht dies einher mit entweder geringeren Abständen zwischen den Körpern der jeweils kommunizierenden Personen oder eben einer größeren Distanz zwischen den handelnden Personen. In Deutschland pflegt man eher größere Abstände einzuhalten — und zeigt sich von geringeren Abständen, ggf. sogar in Verbindung mit einer tendentiell schnelleren und/oder lauteren Sprechweise irritiert, um nicht zu sagen: in manchen Situationen auch gestresst. So kann etwas womöglich gar kein Konflikt sein, sondern eine ganz normale Unterhaltung — eine deutsch sozialisierte Durchschnittswahrnehmung kann aber eben dazu führen, dass man im Falle geringer Körperabstände und lauterer Stimmen schon „Stress“ wahrnimmt, wo (noch) gar keiner ist.
Das Problem bei dieser Sache ist, dass es sich hier um kulturell erworbene Selbstverständlichkeiten handelt. Wir können weder solches Verhalten noch solche Wahrnehmungen in den betreffenden Situationen bewusst so differenziert reflektieren, dass wir immer adäquat wahrnehmen, interpretieren und reagieren. Missverständnisse werden passieren. Es kommt also mehr auf unsere Kompetenz im Umgang mit Missverständnissen an, als auf eine allen möglichen Situationen gerecht werdende Kommunikation. Letzteres ist nach meinem Dafürhalten ohnehin unmöglich.
Konflikte treten auf, wenn man in den „Nahbereich“ einer anderen Person tritt, ohne dass diese darum gebeten hat. Das kann physisch oder symbolisch geschehen. Wir zögern normalerweise, bevor wir uns einander annähern (das nicht ganz ernst gemeinte Beispiel 1 und vor allem das Beispiel 2). Aber es entstehen dennoch Irritationen, weil wir uns buchstäblich „zu nahe“ kommen, ohne es zu wissen (das Beispiel 3).
Was im Beispiel 3 anhand kultureller Unterschiede dargestellt wurde, ließe sich hinsichtlich potentieller Irritationspotentiale in Gesprächen auch noch weiterführen bzw. an anderen Wirkfaktoren darstellen: bspw. Unterschiede in den Gewohnheiten, die aus der Hierarchie herrühren (Vorgesetzte-Mitarbeiter) oder sich aus Geschlechterunterschieden ergeben — oder aus einer Kombinationen beider Faktoren, also bspw. vorgesetzte Frauen und männliche Mitarbeiter oder Frauen in Führungspositionen, die an gläserne Decken stoßen und so weiter.
Bevor wir zum praktischen Teil kommen, seien erst einmal die wichtigsten Erkenntnisse festgehalten:
- Wir legen eine gewisse Vorsicht an den Tag, wenn es um räumliche Nähe geht und wir uns nicht kennen.
- Bezüglich der „möglichen Nähe“ gibt es unterschiedliche Selbstverständlichkeiten und Erwartungen. Wird die (unbewusste) Erwartung irritiert, führt dies womöglich zu Stress.
- Stressfaktoren in der Gesprächsführung ergeben sich oft aus einem als zu gering empfundenen Abstand und einer als zu hoch empfundenen Lautstärke, wobei das verschiedene Ursachen haben kann (Kultur, Hierarchie, geschlechterbezogene Verhaltensweisen usw.).
Wie man solche Erkenntnisse praktisch anwenden kann, lässt sich beispielhaft anhand der „Einganssituation“ eines Jobcenters illustrieren. Nehmen wir einmal an, es handelt sich um ein Jobcenter mit einer Eingangszone, die aus einem Wartebereich mit Stühlen und Bänken und einer spätestens seit Corona mit Glasscheiben abgetrennten langen Reihe von Schaltern besteht. Man zieht eine Nummer und wartet. Man wird aufgerufen und tritt an den entsprechenden Schalter. Man guckt durch die Glasscheibe. Das Gegenüber schaut oft und lange auf einen Bildschirm. Die Gesamtsituation ähnelt einer Schalterhalle; die Akustik ist dementsprechend. Zwei Leute von der Security patrouillieren durch die Halle.
Ganz anders wäre folgende Situation: Die Schalterhalle wurde umgestaltet, die Decke abgehangen, die Beleuchtung ist warm und freundlich, auf dem Fußboden liegt schallreduzierender Teppich. Die Wartezone ist ringförmig um einen Tresen angelegt. An dem ovalen Tresen gibt es mehrere Arbeitsplätze. Man redet leise, ist freundlich; wenn die Situation eskaliert, kommt die Security aus dem Hintergrund hinzu. Aber es wird kaum laut, weil es insgesamt leiser zugeht und viele Leute im Raum hören würden, was besprochen wird. Es gibt immer noch Abstände und im Hintergrund natürlich auch ein Sicherheitskonzept; man hat einerseits nach wie vor eine gewisse professionelle Distanz, aber die Raumsituation selbst ist viel weniger auf Eskalation angelegt.
Es kommt also auf die richtige Kombination aus Distanz und Nähe und die richtige Akustik an. Wenn die räumliche Situation erlaubt, weit genug von anderen Gesprächen weg zu sein, damit man ein halbwegs persönliches Gespräch führen kann, die Situation aber gleichzeitig offen genug ist, als dass viele hören, wenn jemand laut wird (und im Zweifelsfall helfen können), dann sorgt das für eine Verringerung der Eskalationswahrscheinlichkeit. Wenn die Akustik gleichzeitig so ist, dass es kaum Hall gibt, sondern man trotz des großen Raumes bei normaler Sprechweise gut verstanden wird, dann ist das ein zusätzlicher Faktor, wenn es um die Eskalationen vorbeugende Raumgestaltung geht.
An diesem Beispiel sollten mögliche deeskalierende Faktoren der Raumgestaltung deutlich werden. Hinzu kommen bei der Gesprächsführung natürlich noch diejenigen Dinge, die man als handelnde Person in Gesprächen selbst beachten kann:
- Arme am Körper lassen, nicht zu viel Raum „greifen“
- Abstand wahren, ggf. den Abstand vergrößern
- ruhig atmen, langsam sprechen, Stimme unten halten, Pausen machen
- in besonders angespannten Situationen den Blick bewusst nach unten richten
- den ggf. emotional vorgetragenen Argumenten erst einmal nichts entgegensetzen, sondern eher Nachfragen stellen und Interesse zeigen, das Gegenüber alles sagen lassen, was es zu sagen gibt
- generell eher mit Fragen reagieren und die eigenen Argumente erst dann bringen, wenn die Emotionen abgeflaut sind; so lange starke Emotionen im Raum sind, ist es nicht hilfreich, sich zu rechtfertigen (= eine Einladung an das Gegenüber, noch einmal „nachzutreten“) oder Gegenangriffe zu starten („Ja, aber Sie haben doch auch…“ Oder: „Ich verstehe, aber Sie haben nicht…“)
Raum und Körpersprache wirken in Gesprächssituationen zusammen. Wer beide Faktorengruppen im Blick behält und bewusst steuert, kann viele Eskalationen vermeiden oder im Bedarfsfall bewusst zur Deeskalation beitragen. Menschen sind „Augentiere“, was so viel bedeutet, wie: Verhalten wird vor allem durch visuelle Reize getriggert.
PS: Das Beitragsbild wurde mit Hilfe einer künstlichen Intelligenz erstellt.
