Ein Besuch auf dem World Forum der Society of Organizational Learning

Ich hat­te in den ver­gan­ge­nen Jah­ren immer öfter die Erfah­rung gemacht, dass die stra­te­gi­sche Umset­zung von geplan­ten Ver­än­de­run­gen (Chan­ge Manage­ment) an Gren­zen kommt und es in vie­len Fäl­len um Ler­nen wäh­rend des Gesche­hens geht. “Wir kön­nen nicht ein­fach mal die Pro­duk­ti­on anhal­ten und drei Wochen in Ruhe über­le­gen, wie unse­re Pro­zes­se bes­ser funk­tio­nie­ren wür­den. Wir müs­sen am offe­nen Her­zen ope­rie­ren und unse­re Abläu­fe wei­ter­ent­wi­ckeln, wäh­rend die Maschi­ne läuft.”, sag­te kürz­lich der Geschäfts­füh­rer eines mit­tel­stän­di­schen Pro­duk­ti­ons­un­ter­neh­mens zu sei­nem Qua­li­täts­be­auf­trag­ten wäh­rend einer Bera­tung, nach­dem der QB vor­ge­schla­gen hat­te, vor­über­ge­hend kei­ne Auf­trä­ge durch die Pro­duk­ti­on lau­fen zu las­sen, um bestimm­te Ver­än­de­run­gen vor­zu­neh­men und Über­le­gun­gen zur Pro­zess­op­ti­mie­rung anzu­stel­len. Die­ses Ler­nen aus dem Pro­zess her­aus, von dem der Geschäfts­füh­rer sprach, beschäf­tigt mei­ne Kol­le­gen und mich schon län­ger (sie­he unser Buch “Pro­zess­psy­cho­lo­gie”). Des­halb dach­te ich, ein Besuch bei der “Mut­ter der Ler­nen­den Orga­ni­sa­ti­on” könn­te eine inter­es­san­te Wei­ter­bil­dung sein. Also flog ich in der ver­gan­ge­nen Woche zum World Forum der Socie­ty of Orga­niza­tio­nal Lear­ning.
Am Anfang wun­der­te ich mich ein wenig. Man schlug immer eine Art Gong, wenn man Ruhe woll­te und alle, die in die­ses Ritu­al ein­ge­weiht waren, hoben eine Hand gera­de nach oben wie zum Zei­chen, ver­stan­den zu haben. Dann rede­te man lan­ge über die Regeln des Gesche­hens, bil­de­te alle mög­li­chen Grup­pen. Wie das eben bei Groß­grup­pen­ver­an­stal­tun­gen so ist, dach­te ich und sehn­te mich ein wenig nach der distan­zier­ten Anony­mi­tät deut­scher aka­de­mi­scher Sym­po­si­en. Aber dann ging es end­lich los.
Auf der Büh­ne saß ein alter Herr. Er trug das Lächeln eines Man­nes, der die sanf­te Weis­heit des Alters erreicht hat. In den Unter­la­gen las ich, dass er unter fran­zö­si­schen Sozio­lo­gen eine Haus­num­mer ist. Was er zu sagen hat­te, hört man heu­te öfter, aber ich stell­te mir die Zei­ten vor, in denen er sich das aus­ge­dacht haben muss­te. Er sag­te, dass die gro­ßen Ver­än­de­run­gen, von denen wir mei­nen, dass sie erst seit andert­halb, zwei Jahr­zehn­ten statt­fän­den, schon viel län­ger im Gang sei­en. Das Indus­trie­zeit­al­ter glüht schon lan­ge, aber seit dem zwei­ten Welt­krieg VER­glüht es regel­recht – jedoch nicht ohne noch hel­le Fun­ken bis in die letz­ten Win­kel der Gesell­schaft zu wer­fen. Oder wie soll­te man, frag­te ich mich, sonst erklä­ren, dass heu­te auch Kran­ken­häu­ser oder Hoch­schu­len mit indus­tri­el­len Manage­ment­sys­te­men geführt werden?
Seit dem Krieg sei­en aber, so der alte Herr wei­ter, die jeweils jun­gen Gene­ra­tio­nen dabei, immer wie­der neue Wer­te zu defi­nie­ren. Und spä­tes­tens jetzt sei­en die­se ver­än­der­ten Wer­te spür­bar, weil die heu­te jun­gen Men­schen nicht mehr zum Gehor­sam, son­dern viel frei­er erzo­gen wor­den sei­en. Des­halb zeig­ten die heu­te jun­gen Men­schen ein viel grö­ße­res Maß an Auto­no­mie, als das noch vor zwan­zig Jah­ren denk­bar gewe­sen wäre.
Ja, das stimmt, dach­te ich. Wenn ich jun­ge Leu­te – Aus­zu­bil­den­de oder Stu­den­ten, mit denen ich gele­gent­lich arbei­te – fra­ge, dann höre ich vie­le Geschich­ten, die das bele­gen. Die fol­gen­de Abbil­dung zeigt ein Tafel­bild mit Wort­lau­ten einer Grup­pe von Stu­den­ten eines dua­len tech­ni­schen Stu­di­en­gangs, die einen Ver­gleich zwi­schen der prä­gen­den Zeit und den Wer­ten ihrer Lehr­meis­ter und ihrer eige­nen Zeit ange­stellt hatten.


Tafelbild_Werte

Wie stell­ver­tre­tend für die Lehr­meis­ter der Stu­den­ten frag­te eine böse Stim­me tief in einem Win­kel mei­nes Kop­fes, ob das wirk­lich alles so gut ist, wie der alte Mann auf der Büh­ne mein­te. Frei­lich: vie­len der jun­gen Leu­te sind Auto­no­mie und Nach­hal­tig­keit wich­ti­ger als Sta­tus und Geld. Sie füh­ren Unter­neh­men oft ganz anders, wenn sie die Gele­gen­heit dazu bekom­men. Das beob­ach­te ich zumin­dest manch­mal dort, wo ver­gleichs­wei­se jun­ge Leu­te Geschäfts­füh­rer wer­den. Spä­tes­tens aus Sicht der Natur bleibt zu hof­fen, dass die­ser Para­dig­men­wech­sel anhält.
Aber was wird pas­sie­ren? Die “alte Welt” mit ihren Hier­ar­chien, ihren Kapi­tal­an­tei­len und ihren Indus­trien, die den Pla­ne­ten nur um ein biß­chen schnel­len Gel­des Wil­len an so vie­len Stel­len deva­stie­ren, wird nicht ein­fach so ver­schwin­den. Gemeint ist die Welt der blin­den Opti­mie­rung, der Groß­schlach­te­rei­en, der mit der Stopp­uhr geführ­ten Pfle­ge­hei­me, der krank machen­den Ren­ne­rei unter Paket­zu­stel­lern. Eine sol­che Ver­än­de­rung kos­tet Kraft. Ich war also sehr gespannt, wel­che Ideen man dazu auf dem World Forum hat­te. Im Wesent­li­chen fand ich zwei Antworten.
Die ers­te Ant­wort lau­te­te: kol­lek­ti­ve Intel­li­genz. Es geht dabei im Wesent­li­chen um die Her­stel­lung von Dia­lo­gen zwi­schen den jeweils am Gesche­hen Betei­lig­ten bzw. vom Gesche­hen Betrof­fe­nen. Das kön­nen Dia­lo­ge zwi­schen Share­hol­dern und Stake­hol­dern sein, zwi­schen Mit­ar­bei­tern und Füh­rungs­kräf­ten, zwi­schen Kapi­tal­in­ter­es­sen und den Lebens­in­ter­es­sen der ggf. betrof­fe­nen Natur. Hin­ter­grund ist, dass wir nicht unend­lich wei­ter expan­die­ren, ver­sie­geln, abhol­zen etc. dür­fen. Die Maß­ga­be, sich die Welt unter­tan machen zu sol­len oder zu dür­fen, soll trans­for­miert wer­den zu einem Maß­stab der Nach­hal­tig­keit. Weil das ange­sichts der Kom­ple­xi­tät und der Ver­wo­ben­heit heu­ti­ger Abläu­fe alles ande­re als ein­fach ist, müs­sen wir ler­nen, und die­ses Ler­nen funk­tio­niert am bes­ten durch Dia­lo­ge bzw. die Ein­be­zie­hung mög­lichst vie­ler Per­spek­ti­ven und Denk­wei­sen (kol­lek­ti­ve Intelligenz).
Die zwei­te Ant­wort lau­te­te: Pre­sen­cing. Was damit gemeint ist, lässt sich in deut­scher Spra­che am Ehes­ten mit dem Begriff der Acht­sam­keit über­set­zen. Peter Sen­ge selbst benutz­te auf dem World Forum dazu immer wie­der Vari­an­ten der fol­gen­den Sät­ze: “Üben Sie Prä­senz, ler­nen Sie, da zu sein. Ach­ten Sie dar­auf, wie Sie ande­re Men­schen anspre­chen, wie Sie ande­ren Men­schen begeg­nen. Hören Sie auf, immer gleich zu han­deln, son­dern sei­en Sie ein­fach da und neh­men Sie wahr.”
Was die Dia­log-Metho­den anging, so fand ich auf dem World Forum eine gan­ze Rei­he von Work­shops, Lear­ning Sto­ries etc., aus denen ich viel mit­neh­men konn­te. So berich­te­ten bei­spiels­wei­se Mit­ar­bei­ter von SNCF von einem Pro­jekt, wie man mit Hil­fe kol­lek­ti­ver Intel­li­genz kon­kre­te und wirk­sa­me Maß­nah­men ent­wi­ckelt hat, die Kom­mu­ni­ka­ti­on zwi­schen Fahr­gäs­ten, Bahn­mit­ar­bei­tern und S‑Bahnfahrern auf gro­ßen und in Stoß­zei­ten recht stö­rungs­an­fäl­li­gen (und damit kon­flikt­träch­ti­gen!) Pari­ser Metro­sta­tio­nen zu ver­bes­sern. Wich­tig war dabei, dass die Pro­jekt­grup­pen hier­ar­chie­über­grei­fend zusam­men­ge­setzt waren und man Zeit zum Aus­tausch, zum Ler­nen, zur Ein­be­zie­hung von Fahr­gäs­ten und zum Expe­ri­men­tie­ren mit Ideen hatte.
Was das “Pre­sen­cing” betraf, fiel mein Fazit anders aus. Zwar ist es durch­aus rich­tig, die eige­ne Acht­sam­keit zu ver­bes­sern, um in der Fol­ge zu nach­hal­ti­ge­ren Ent­schei­dun­gen und Hand­lun­gen zu kom­men, aber die regel­recht “hei­li­ge Begeis­te­rung”, mit der die­ses The­ma und die damit ver­bun­de­nen Metho­den auf dem World Forum bespro­chen wur­den, haben mich nicht nur ein wenig erschro­cken. Spä­tes­tens als zwei Vor­tän­zer auf der Büh­ne die viel­leicht 300 Gäs­te dazu moti­vier­ten, ihren Namen “in die Grup­pe hin­ein­zu­sin­gen”, riß mein Gedulds­fa­den, und ich frag­te mich, ob ich noch auf der rich­ti­gen Ver­an­stal­tung war. Ich hat­te über den Tag mehr­fach ver­nom­men, dass unter den Anwe­sen­den Ban­ker als das per­so­ni­fi­zier­te Böse gehan­delt wur­den. Aber vom Sich-selbst-gewahr-Sein, dem Sin­gen des eige­nen Namens unter Gleich­ge­sinn­ten und dem Ban­ker-für-den-Satan-Hal­ten fängt kein Ban­ker an, über sei­ne – für ihn selbst zunächst ganz selbst­ver­ständ­li­chen – Hand­lun­gen nach­zu­den­ken. So ein­fach ist es nicht. Klar wird man acht­sa­mer, wenn man sich als gan­zer Mensch in die Natur begibt und das Glück ver­ste­hen lernt, dass es bedeu­tet, sich über die ein­fa­chen, natür­li­chen, in gewis­ser Wei­se ganz ele­men­ta­ren Din­ge zu freu­en. Aber Dia­log erfor­dert zuerst die Fähig­keit, die eige­nen Urtei­le in Fra­ge zu stel­len und Irri­ta­tio­nen zu ertra­gen. Und genau davon habe ich auf dem besag­ten World Forum wenig erlebt, auch am zwei­ten Tag nicht. Man schien sehr von sich über­zeugt zu sein und ein regel­rech­tes “Sen­dungs­be­wusst­sein” zu besit­zen. Ob man damit tat­säch­lich ein Bewusst­sein für mehr Nach­hal­tig­keit bewir­ken kann, zumin­dest bei Men­schen, die sich dar­über bis­her wenig Sor­gen gemacht haben, bleibt fraglich.

Jörg Hei­dig

Von Jörg Heidig

Jörg Heidig, Jahrgang 1974, nach Abitur und Berufsausbildung in der Arbeit mit Flüchtlingen zunächst in Deutschland und anschließend für mehrere Jahre in Bosnien-Herzegowina tätig, danach Studium der Kommunikationspsychologie, anschließend Projektleiter bei der Internationalen Bauausstellung in Großräschen, seither als beratender Organisationspsychologe, Coach und Supervisor für pädagogische Einrichtungen, soziale Organisationen, Behörden und mittelständische Unternehmen tätig. 2010 Gründung des Beraternetzwerkes Prozesspsychologen. Lehraufträge an der Hochschule der Sächsischen Polizei, der Dresden International University, der TU Dresden sowie der Hochschule Zittau/Görlitz.