Prozesspsychologie als Wissenschaft

Letzt­lich han­delt es sich bei den Wis­sen­schaf­ten um lang­sam ent­stan­de­ne, aus der eben­so lan­gen wie inten­si­ven Beschäf­ti­gung mit den Din­gen her­vor­ge­gan­ge­ne Dis­zi­pli­nen, die aus „zustim­mungs­fä­hi­gen Aus­sa­gen“ oder „aner­kann­ten Pro­ze­du­ren“ bestehen. Den Pro­zess der Ent­ste­hung der Wis­sen­schaf­ten kann man sich in etwa so vor­stel­len: Irgend­wann began­nen unse­re Vor­fah­ren, bei­spiels­wei­se Fel­le zu behan­deln. Die Erkennt­nis­se, die sie dabei gewan­nen, gaben sie von Gene­ra­ti­on zu Gene­ra­ti­on wei­ter. Bestimm­te Erkennt­nis­se hiel­ten sich, ande­re wur­den durch neue Ideen in Fra­ge gestellt. Man­che der neu­en Ideen setz­ten sich durch, ande­re wur­den wie­der ver­wor­fen. Hier zeigt sich bereits das grund­le­gen­de Wesen sowohl von Wis­sen­schaft als auch von Inno­va­ti­on oder Erneue­rung im All­ge­mei­nen: Etwas war ein­mal eine Idee und wur­de ver­sucht. War der Ver­such erfolg­reich, wur­de er bei ähn­li­cher Pro­blem­la­ge wie­der­holt. Blieb die besag­te Idee auch nun erfolg­reich, wur­de sie über­nom­men, ver­brei­te­te und tra­dier­te sich. Kam spä­ter eine neue, viel­leicht bes­se­re Idee hin­zu, bedeu­te­te das eine Infra­ge­stel­lung der her­ge­brach­ten – all­ge­mein zustim­mungs­fä­hi­gen – Pro­ze­du­ren. Das führ­te min­des­tens zu Dis­kus­sio­nen, zum Wunsch nach Bewah­rung des Alt­her­ge­brach­ten bei den einen und zum Wunsch nach Erneue­rung bei den ande­ren. So ent­stan­den lang­sam die „Gewer­ke“, also die Vor­läu­fer unse­rer heu­ti­gen „Dis­zi­pli­nen“. Aus der Behand­lung von Fel­len wur­de das Hand­werk der Ger­ber, und aus der Ger­be­rei wur­den lang­sam die Vor­läu­fer unse­rer heu­ti­gen Che­mie. Die­se Dar­stel­lung ist stark ver­ein­facht, ver­deut­licht aber das Wesen von Wis­sen­schaft. Wis­sen­schaft beschäf­tigt sich – auf der Basis sys­te­ma­ti­scher Ver­su­che und Logik – mit der Her­stel­lung von Erkennt­nis­sen über die Welt um uns her­um und uns selbst. Dabei wer­den kei­ne „letzt­gül­ti­gen“ Sät­ze gefun­den – sol­che gibt es lei­der nicht -, son­dern immer nur mehr oder min­der vor­läu­fi­ge Erkennt­nis­se for­mu­liert. Aktu­el­le Wis­sen­schaft beginnt in der Regel immer bei den­je­ni­gen Erkennt­nis­sen, die inner­halb einer Dis­zi­plin zustim­mungs­fä­hig sind. Eine „wis­sen­schaft­li­che Begrün­dung“ ist des­halb immer die Her­stel­lung eines Zusam­men­hangs zwi­schen inner­halb einer Dis­zi­plin zustim­mungs­fä­hi­gen Aus­sa­gen und dem Sach­ver­halt oder Vor­schlag, der begrün­det wer­den soll. 

In den Sozi­al­wis­sen­schaf­ten – dort vor allem in der Sozio­lo­gie und in den Erzie­hungs­wis­sen­schaf­ten, aber auch in Tei­len der Kul­tur­wis­sen­schaf­ten und in eini­gen Berei­chen der Psy­cho­lo­gie hat die­se Auf­fas­sung von Wis­sen­schaft para­dig­ma­ti­schen Cha­rak­ter. Im Grun­de las­sen sich in die­sen Dis­zi­pli­nen jeweils zwei metho­do­lo­gi­sche Para­dig­men unter­schei­den – das auf dem kri­ti­schen Ratio­na­lis­mus sen­su Pop­per beru­hen­de quan­ti­ta­ti­ve Para­dig­ma und das auf dem sym­bo­li­schen Inter­ak­tio­nis­mus beru­hen­de qua­li­ta­ti­ve Para­dig­ma (Mead 1973; Blu­mer 1969, 2013). Die theo­re­ti­sche und metho­di­sche Wei­ter­ent­wick­lung der Dis­zi­pli­nen hat vie­ler­orts dazu geführt, dass die eigent­li­chen phi­lo­so­phi­schen Ursprün­ge des Para­dig­mas häu­fig gar nicht mehr klar sind. An deren Stel­le sind – ursprüng­lich noch auf der Grund­la­ge von Mead und Blu­mer ent­wi­ckel­te – Metho­den getre­ten, die heu­te wie Qua­si-Para­dig­men behan­delt wer­den. Das wohl bekann­tes­te Bei­spiel ist die von Gla­ser & Strauss (1967, 1998) ent­wi­ckel­te Groun­ded-Theo­ry-Metho­de, die heu­te vie­ler­orts als Para­dig­ma gehan­delt wird, auf das man abstel­len kann, ohne dass man dies in beson­de­rer Wei­se begrün­den muss. Wis­sen­schaft­li­che Dis­zi­pli­nen durch­lau­fen mit der Zeit eine Art „para­dig­ma­ti­sche Homo­ge­ni­sie­rung“ (Glick et al. 2007), indem die Inter­ak­ti­on unter den Akteu­ren zu einer weit­ge­hen­den Eini­gung bezüg­lich der wis­sen­schaft­li­chen Grund­an­nah­men und der zu ver­wen­den­den Metho­den führt. In der Phi­lo­so­phie bzw. dort vor allem in der Erkennt­nis­theo­rie ist die­se Auf­fas­sung von Wis­sen­schaft als „kul­tu­ra­lis­ti­scher Ansatz“ (Janich 1996a, b) bekannt gewor­den. In der Sozio­lo­gie wird das hier beschrie­be­ne Wis­sen­schafts­ver­ständ­nis bis­wei­len als „Pro­zess­so­zio­lo­gie“ (Bude & Dell­wing 2013) bezeich­net. Sei­ner­zeit noch in Unkennt­nis des Begrif­fes der „Pro­zess­so­zio­lo­gie“ haben wir unse­re Auf­fas­sung von Wis­sen­schaft als „Pro­zess­psy­cho­lo­gie“ (Hei­dig 2011; Hei­dig et al. 2012; Hei­dig et al. 2016; Hei­dig 2018) bezeich­net. 

Die Grund­an­nah­men die­ses wis­sen­schaft­li­chen Ver­ständ­nis­ses las­sen sich in etwa wie folgt zusam­men­fas­sen: Der fun­da­men­ta­le Unter­schied zwi­schen Men­schen und Tie­ren liegt in der Fähig­keit der ers­te­ren, sich ver­mit­tels der Spra­che mit­ein­an­der zu ver­stän­di­gen (Bischof 1991; Hall 1976; Slo­ter­di­jk 1995). Die Spra­che ist als Sym­bol­sys­tem das Mit­tel, durch das Men­schen ihrer selbst „gewahr“ wer­den kön­nen – das bedeu­tet unter ande­rem, dass ein Aus­tausch über Ver­gan­gen­heit und Zukunft, bewuss­tes Aus­pro­bie­ren und Ler­nen und letzt­lich die Wei­ter­ga­be von Erlern­tem mög­lich wer­den. Aus­pro­bier­tes und Gelern­tes wer­den mit der Zeit immer selbst­ver­ständ­li­cher, und es ent­ste­hen Gewohn­hei­ten. Grob gesagt han­delt es sich bei kol­lek­tiv geteil­ten Gewohn­hei­ten um Kul­tur. Kul­tur bil­det sich durch die Inter­ak­ti­on zwi­schen Men­schen – was die Din­ge bedeu­ten, ist nicht eine Fra­ge der Din­ge, son­dern der Bezie­hun­gen zu ihnen bzw. ihrer Sym­bo­li­sie­rung. Sym­bo­le und Kul­tur wer­den aber nicht nur gebil­det, son­dern mit der Zeit auch ver­än­dert (Blu­mer 2013; Mead 1973). Will man also Ele­men­te einer Kul­tur – Ein­stel­lun­gen, Wer­te, Glau­bens­sät­ze, Über­zeu­gun­gen usw. – unter­su­chen, muss man die Trä­ger der Kul­tur und vor allem ihre Inter­ak­ti­on inten­siv beob­ach­ten, die Kul­tur­trä­ger befra­gen oder an ihrem Leben teil­neh­men, um her­aus­zu­fin­den, was bestimm­te Din­ge für sie bedeu­ten. 

 

Lite­ra­tur

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Von Jörg Heidig

Jörg Heidig, Jahrgang 1974, nach Abitur und Berufsausbildung in der Arbeit mit Flüchtlingen zunächst in Deutschland und anschließend für mehrere Jahre in Bosnien-Herzegowina tätig, danach Studium der Kommunikationspsychologie, anschließend Projektleiter bei der Internationalen Bauausstellung in Großräschen, seither als beratender Organisationspsychologe, Coach und Supervisor für pädagogische Einrichtungen, soziale Organisationen, Behörden und mittelständische Unternehmen tätig. 2010 Gründung des Beraternetzwerkes Prozesspsychologen. Lehraufträge an der Hochschule der Sächsischen Polizei, der Dresden International University, der TU Dresden sowie der Hochschule Zittau/Görlitz.