Wir haben es mit der Emanzipation unserer Kinder übertrieben — und haben (noch) kaum Werkzeuge, die Folgen zu beheben

Wor­um es in die­sem Text geht

Salopp könn­te man es so aus­drü­cken: Jede Zeit schafft sich ihre eige­nen Pro­ble­me, aber unab­hän­gig davon, wel­che Lösun­gen man ent­wi­ckelt, bleibt die Sum­me der Pro­ble­me gleich. Unse­re heu­ti­gen Vor­stel­lun­gen von Erzie­hung sind irgend­wann aus bestimm­ten Grün­den ent­stan­den. Aber aus der Art und Wei­se, wie vie­le Eltern heu­te mit ihren Kin­dern umge­hen, ent­ste­hen neue Stö­rungs­for­men, für die wir noch kei­ne Metho­den haben. Obwohl sich in vie­len Fäl­len das Pro­blem ver­än­dert, gehen vie­le Päd­ago­gen, Psy­cho­lo­gen und ande­re „Inter­ven­tio­nis­ten“ mei­nes Erach­tens noch davon aus, die rich­ti­gen Metho­den zu ver­wen­den — und machen es dadurch (unwis­sent­lich) schlimmer.

Im fol­gen­den Text behaup­te ich, dass die der Psy­cho­lo­gie und der Päd­ago­gik zugrun­de lie­gen­de „eman­zi­pa­to­ri­sche Annah­me“ auf den Prüf­stand gehört. Sie hat ihren Dienst getan und wird ihn wei­ter tun, aber nur noch bei einem Teil der Fäl­le, denn die Über­trei­bung der eman­zi­pa­to­ri­schen Grund­an­nah­me — oder bes­ser: ein völ­lig fal­sches Ver­ständ­nis von eman­zi­pa­to­ri­scher Erzie­hung, das in Unter­ord­nung von Eltern unter ihre Kin­der gip­felt — hat Stö­rungs­for­men her­vor­ge­ru­fen, auf die wir neue Ant­wor­ten brau­chen. Die­se Ant­wor­ten haben viel mit den Begrif­fen „Gren­ze“ und „Auto­ri­tät“ zu tun.

Die die­sem Text zugrun­de lie­gen­den Über­le­gun­gen stam­men aus zahl­rei­chen Super­vi­si­ons­sit­zun­gen mit Fami­li­en­hel­fer-Teams. Es han­delt sich sozu­sa­gen um aus vie­len Ein­zel­fall­re­fle­xio­nen „destil­lier­te“ Erkennt­nis­se, die sicher streit­bar sind und dies auch sein sol­len. Fakt ist, dass vie­le Fami­li­en­hel­fer und ‑bera­ter den Ein­druck schil­dern, mit ihrem her­kömm­li­chen Metho­den­re­per­toire seit eini­gen Jah­ren zuneh­mend an Gren­zen zu gera­ten. In nicht weni­gen Fäl­len ist es gelun­gen, aus den in die­sem Bei­trag geschil­der­ten Sicht­wei­sen und Hal­tun­gen jeweils fall­spe­zi­fisch funk­tio­nie­ren­de Vor­ge­hens­wei­sen zu entwickeln.

Die Ver­schie­bung des Men­schen­bil­des: Sich hel­fen zu las­sen wird möglich(er)

Neh­men wir ein­mal an, Sie wären in der Jugend­zeit Ihrer Eltern Poli­zis­tin oder Poli­zist gewor­den. In die­sem Beruf kann immer etwas pas­sie­ren, das „Spu­ren“ hin­ter­lässt. Man hat damals nicht so sehr wie heu­te dar­auf geach­tet, ob jemand „psy­chisch etwas abge­kriegt“ hat. So etwas wur­de sei­ner­zeit eher ver­drängt. Und wenn man doch ein­mal zum „See­len­klemp­ner“ muss­te, wur­de das von ande­ren viel­leicht als ein Zei­chen von Schwä­che gewer­tet. Es gab und gibt ja immer auch die­je­ni­gen, die extre­me Situa­tio­nen erle­ben und kaum etwas davon­tra­gen, und es ist schlimm, wenn man die einen den ande­ren als Bei­spiel vor­hält, aber so war das damals: „Streng Dich an und hal­te durch, die ande­ren packen’s ja auch!“ 

Das Men­schen­bild hat sich — vie­le wer­den sagen: Gott sei Dank! — ver­scho­ben. Es ist in den ver­gan­ge­nen drei­ßig Jah­ren ein­fa­cher gewor­den, sich hel­fen zu las­sen, und die Wahr­schein­lich­keit, dafür stig­ma­ti­siert zu wer­den, ist heu­te deut­lich gerin­ger. Gleich­zei­tig hat genau die­se Ent­wick­lung dafür gesorgt, dass bestimm­te Phä­no­me­ne häu­fi­ger erkannt und behan­delt wer­den kön­nen. Dazu wur­den in den ver­gan­ge­nen Jahr­zehn­ten nicht zuletzt die ent­spre­chen­den recht­li­chen Rah­men­be­din­gun­gen deut­lich erwei­tert. In der Kon­se­quenz sieht man heu­te öfter Hil­fe­be­darf, lässt sich eher hel­fen als frü­her und gibt es heu­te ins­ge­samt mehr Hel­fer (Fami­li­en­hel­fer, The­ra­peu­ten, Schul­psy­cho­lo­gen usw.). 

Es han­delt sich dabei um Inter­ak­ti­ons­ef­fek­te zwi­schen der Mög­lich­keit, bestimm­te Phä­no­me­ne zu sehen und zu behan­deln, der Ver­brei­tung des Wis­sens dar­um, der Popu­la­ri­sie­rung der Wahr­neh­mung ent­spre­chen­der Phä­no­me­ne und der zuneh­men­den Zahl von Hel­fern. Ich habe die­se Inter­ak­ti­ons­ef­fek­te an ande­rer Stel­le auf die­sem Blog bereits aus­führ­li­cher dar­ge­stellt; das Stich­wort ADHS mag hier als eine Art „Hin­weis­reiz“ genü­gen.  

Aus den Inter­ak­ti­ons- bzw. Lern­ef­fek­ten wer­den mit der Zeit Gewöh­nungs­ef­fek­te. Alle die­se Pro­zes­se wir­ken lang­sam auf die Wahr­neh­mung der Phä­no­me­ne an und für sich und auf das Men­schen­bild ein. Aus jener „Welt der Ver­drän­gung“ mag auf die­se Wei­se ganz lang­sam eine Welt gewor­den sein, in der psy­cho­lo­gi­sche Hil­fe selbst­ver­ständ­lich ist. 

Von hilf­rei­cher Unter­stüt­zung zur „Psy­cho­lo­gi­sie­rung“?

Aber die ent­spre­chen­den Ent­wick­lun­gen machen nicht ein­fach von sich aus im Opti­mal­be­reich Halt. Sie lau­fen wei­ter. Und so mag aus einer Welt, in der Hil­fe erfreu­li­cher­wei­se selbst­ver­ständ­lich ist (und in der nicht mehr selbst­ver­ständ­lich ver­drängt wird), lang­sam eine Welt wer­den, in der man hier und da zu viel „psy­cho­lo­gi­siert“. 

Es liegt mir fern, hier Absicht oder bösen Wil­len zu unter­stel­len. Ich ver­mu­te nur, dass ganz ähn­lich wie es in jener „alten Welt“ Miss­brauch von Macht gab, Hier­ar­chien aus­ge­nutzt und Men­schen bis­wei­len miss­braucht wur­den, dies heu­te ganz genau­so geschieht, nur qua­si auch —die soeben erwähn­te „alte Welt“ exis­tiert ja noch — im umge­kehr­ten Sin­ne: man miss­braucht nicht mehr nur die Macht, son­dern man miss­braucht heu­te auch den Opfer­schutz. 

Das alles wäre viel­leicht nicht unbe­dingt der Rede wert, denn wo es die Mög­lich­keit gibt, wird sie genutzt und kann es Lern- und Gewöh­nungs­ef­fek­te geben. Ob und wie dies für unse­re Gesell­schaft gefähr­lich wer­den könn­te, habe ich gemein­sam mit mei­nem Kol­le­gen Ben­ja­min Zips in unse­rem kur­zen Buch „Die Kul­tur der Hin­ter­fra­gung“ dis­ku­tiert. Spe­zi­ell in den Berei­chen der Sozia­len Arbeit, der Psy­cho­lo­gie usw., in denen bera­ten und inter­ve­niert wird, stellt sich die­ser Zusam­men­hang jedoch dop­pelt pro­ble­ma­tisch dar: 

Alte Metho­den pas­sen nicht zu neu­en Störungen

Einer­seits wird heu­te mehr Hil­fe­be­darf gese­hen, mehr gehol­fen und gibt es mehr Hel­fer. Die Inter­ak­ti­ons­ef­fek­te zwi­schen den ein­zel­nen Ele­men­ten die­ser Ent­wick­lung haben aus einer „Gewohn­heit des Ver­drän­gens“ hin­aus geführt und Hil­fe „nor­ma­li­siert“. Wie ich wie gesagt an ande­rer Stel­le auf die­sem Blog aus­führ­li­cher dar­ge­stellt habe, wird nach mei­nem Dafür­hal­ten mitt­ler­wei­le an eini­gen Stel­len weit über das Hilf­rei­che hin­aus dia­gnos­ti­ziert und interveniert.

Ande­rer­seits stam­men unse­re Metho­den zumeist aus eben jener „alten Welt“, die lan­ge kri­ti­siert wur­de — und gewohn­heits­mä­ßig wei­ter kri­ti­siert wird, obwohl sie an eini­gen Stel­len wohl noch, an ande­ren Stel­len aber nicht mehr vor­han­den ist. Die meis­ten unse­rer Metho­den sind offen eman­zi­pa­to­risch, rich­ten sich auf das Indi­vi­du­um und des­sen Res­sour­cen mit dem Ziel der Stär­kung der Resi­li­enz, der Sta­bi­li­sie­rung von Bin­dun­gen, der Erwei­te­rung der Ent­wick­lungs­mög­lich­kei­ten oder der Hand­lungs­op­tio­nen usw. Wir arbei­ten zwar auch mit Blick auf das jewei­li­ge Sys­tem, aber in der Regel immer vor dem Hin­ter­grund der genann­ten oder ähn­li­cher, in der Regel auf ein Indi­vi­du­um gerich­te­ter Zie­le (nicht zuletzt die Kos­ten­über­nah­me ist ja auch ent­spre­chend gere­gelt). 

Stark ver­kürzt könn­te man es so aus­drü­cken: Unse­re Metho­den rich­ten sich auf die Kom­pen­sa­ti­on von zu viel Macht, von klam­mern­den oder for­dern­den, über­grif­fi­gen oder gar gewalt­tä­ti­gen Eltern­hand­lun­gen. Die Über­grif­fig­keit oder der Miss­brauch besteht in der alten Welt in einem „Ein­fall“ in das „Gelän­de“ eines Kin­des, in sei­ner über­mä­ßi­gen Beschrän­kung, in Ernied­ri­gung oder im schlimms­ten Fall im „Bre­chen“ eines Kin­des. 

In die­sem Bereich ken­nen wir uns aus. Aber die Welt hat sich wei­ter­ge­dreht, und der Auf­schrei war groß, als 2007 Micha­el Win­ter­hoffs Buch „War­um unse­re Kin­der Tyran­nen wer­den“ erschien. Seit­her spal­tet sich die Dis­kus­si­on zwi­schen — ich spit­ze zu — die­sen, die sagen, Ler­nen gesche­he weit­ge­hend selbst­ge­steu­ert und Stren­ge sei schlecht für die Bin­dung, und jenen, die mei­nen, dass Lie­be und Zuwen­dung zwar die Grund­la­ge, aber Struk­tur und Gren­zen ele­men­ta­re Bestand­tei­le der Erzie­hung sei­en. 

Die fol­gen­de Abbil­dung zeigt, wie sich die Welt wei­ter­ge­dreht hat. Die „alte Welt“ mit ihrer oft genug zu auto­ri­tä­ren und ein­schrän­ken­den Erzie­hung unter­lag der Kri­tik, Men­schen groß­zu­zie­hen, die Freu­de am Funk­tio­nie­ren hät­ten. Die­se Freu­de am Funk­tio­nie­ren brach­te man mit den Gräu­eln der Nazi­zeit in Ver­bin­dung, und damit dies nie wie­der gesche­he, woll­te man eine ande­re Form der Erzie­hung schaf­fen. Man woll­te Kin­der zu mün­di­gen Bür­gern erzie­hen, und selbst ein Sol­dat soll­te kein Befehls­emp­fän­ger im Sin­ne des Wor­tes mehr sein, son­dern ein Bür­ger in Uni­form, der Befeh­le emp­fängt, aber die­se im Zwei­fels­fall auch prüft. Man woll­te kei­nen Zwang mehr und kei­ne funk­tio­nie­ren­den Unter­ta­nen, wes­halb man spä­tes­tens seit den Sieb­zi­ger Jah­ren des ver­gan­ge­nen Jahr­hun­derts ernst­haf­te Kor­rek­tu­ren an den Vor­stel­lun­gen von Erzie­hung vor­nahm. 

 

Wie funk­tio­niert das, was wir wol­len, eigent­lich konkret?

Aber da neue Vor­stel­lun­gen von Erzie­hung nicht heu­te erdacht und mor­gen imple­men­tiert wer­den, son­dern eher Gegen­stand eines lan­gen Interaktions‑, Lern- und Gewöh­nungs­pro­zes­ses sind, hat die­ser Pro­zess nicht ein­fach in sei­nem Opti­mum ange­hal­ten, son­dern lief wei­ter, und zwar soweit, dass Kin­der heu­te „auf Augen­hö­he“, das heißt, wie klei­ne Erwach­se­ne, behan­delt wer­den. Man scheint sich dies­be­züg­lich heu­te weit­ge­hend einig zu sein: Sowohl in den aller­meis­ten Eltern­rat­ge­bern als auch in den offi­zi­el­len Leit­li­ni­en der Bun­des­län­der für Kin­der­ta­ges­stät­ten heißt es mehr oder min­der, dass Kin­der ein Recht auf Selbst­be­stim­mung haben. 

Aber wie funk­tio­niert Selbst­be­stim­mung genau? Wo beginnt sie, und wo hört sie auf? 

  • Soll ein Drei­jäh­ri­ger bestim­men, was am Sonn­tag zu Mit­tag geges­sen wird? 
  • Soll eine Vier­jäh­ri­ge ihre Eltern unter­bre­chen dür­fen? 
  • Soll ein Urlaub abge­bro­chen wer­den, wenn es der sie­ben­jäh­ri­gen Toch­ter oder dem neun­jäh­ri­gen Sohn der Fami­lie dort nicht gefällt? 

Anhand die­ser Fra­gen wird deut­lich, dass wir zwar einer­seits von Selbst­be­stim­mung usw. reden, aber im kon­kre­ten Fall kaum sicher sind, was das genau bedeu­tet. So wird ver­ständ­lich, war­um heu­te vie­len Eltern die Ori­en­tie­rung fehlt. Wir wis­sen nicht genau, was wir als Eltern noch „dür­fen“ — wie viel Struk­tur muss ich mei­nem Kind vor­ge­ben, und was kann es selbst ent­schei­den? Gleich­zei­tig wis­sen wir nicht, was wir Kin­dern wann schon zutrau­en kön­nen — beim Essen oder bei der Frei­zeit­ge­stal­tung sind viel­leicht (klei­ne? grö­ße­re? gro­ße?) eige­ne Ent­schei­dun­gen mög­lich, aber kei­nes­wegs bei… — ja, wo ver­lau­fen eigent­lich die Gren­zen? 

Win­ter­hoff meint zu Recht, dass heu­ti­gen Eltern die Intui­ti­on abhan­den gekom­men ist. Es herr­schen, so habe ich den Ein­druck, Ori­en­tie­rungs­lo­sig­keit und Streit, wäh­rend die ers­te, bereits mehr oder min­der so erzo­ge­ne Gene­ra­ti­on erwach­sen wird. 

Wir haben noch kei­ne Metho­den, wir haben nur Theo­rien: Wir glau­ben, dass Augen­hö­he gut ist, aber wir wis­sen nicht genau, was das in die­ser oder jener Situa­ti­on und für die­ses oder jenes Ent­wick­lungs­sta­di­um kon­kret bedeu­tet. Wir kom­men sicher eines Tages dar­auf, wo Augen­hö­he gut für die Ent­wick­lung ist und wo nicht. Die Gefahr lau­tet: Wenn Kin­der zu früh und an den fal­schen Stel­len wie klei­ne Erwach­se­ne behan­delt wer­den, ent­wi­ckeln sie kaum Empa­thie und dre­hen sich qua­si-nar­ziss­tisch um sich selbst. Aber das wer­den wir, wie gesagt, mit der Zeit ler­nen. 

Die Ursa­che für die neu­en Störungen

Das grö­ße­re und erns­te­re Pro­blem besteht mei­nes Erach­tens nicht in den Fol­gen der Erzie­hung auf Augen­hö­he. So erzo­ge­ne Men­schen haben tat­säch­lich ernst­haf­te Pro­ble­me damit, ein­fach so zu „funk­tio­nie­ren“, und sie tref­fen Ent­schei­dun­gen stär­ker vor dem Hin­ter­grund eige­ner Inter­es­sen, als dies Ange­hö­ri­ge frü­he­rer Gene­ra­tio­nen getan haben mögen. Inso­fern ist aus der Per­spek­ti­ve derer, die die Ver­än­de­run­gen bewirkt haben, nur her­aus­ge­kom­men, was auch inten­diert war. 

Das grö­ße­re und erns­te­re Pro­blem resul­tiert aus der Unter­ord­nung der Eltern unter die Kin­der. Ich möch­te behaup­ten, dass wir der­zeit eine rasant wach­sen­de Zahl von Stö­rungs­fäl­len ver­zeich­nen, denen wir metho­disch kaum gewach­sen sind, weil unse­re Metho­den aus einer Welt stam­men, in der Stö­run­gen vor allem durch jene über­grif­fi­gen oder gar gewalt­tä­ti­gen „Ein­fäl­le“ in das Ter­ri­to­ri­um eines Kin­des ver­ur­sacht wur­den. Die mili­tä­risch wir­ken­de Ana­lo­gie ver­wen­de ich des­halb, weil dadurch umso kla­rer wird, um was es sich dabei han­delt: um eine Grenz­ver­let­zung — und zwar bevor die Gren­zen sta­bil sind. 

Was tun wir aber, wenn es nicht um Grenz­ver­let­zun­gen geht, son­dern gar kei­ne Gren­zen vor­han­den sind? 

Das ist die Kon­se­quenz der Unter­ord­nung der Eltern unter die Kin­der: Kin­der ent­wi­ckeln kei­ner­lei Gren­zen. Sie ver­har­ren in einer früh­kind­li­chen Ent­wick­lungs­pha­se, in der es ihnen noch nicht mög­lich ist, zwi­schen sich und ande­ren Men­schen bzw. zwi­schen dem, was sie etwas angeht und was ande­re betrifft, zu unter­schei­den. Sie sind in gewis­ser Wei­se allein auf der Welt, und zwar in dem Sinn, als sei­en sie der Mit­tel­punkt der Welt oder als gehö­re die Welt ihnen. Wer kei­ne Gren­zen erfah­ren hat, kann auch kei­ne Empa­thie ent­wi­ckeln. Die Fol­ge ist, dass ande­re Men­schen wie Objek­te im eige­nen Ver­fü­gungs­raum behan­delt wer­den, aber nicht wie ande­re Men­schen mit Gefüh­len und Bedürf­nis­sen. 

So auf­wach­sen­de Kin­der wer­den nicht nur nicht erzo­gen, und sie wer­den auch nicht auf Augen­hö­he bei ihrer Ent­wick­lung beglei­tet. Ihnen wird viel­mehr die Kon­trol­le über­las­sen: die Kin­der bestim­men das Wochen­end­pro­gramm, legen selbst fest, wann sie ins Bett gehen — und am schlimms­ten: Vie­le Eltern füh­len sich für die Lau­ne und den aktu­el­len Zustand des Kin­des ver­ant­wort­lich. „Der Paul kann ganz schlecht ein­schla­fen. Da muss ich dabei blei­ben.“ — sagt die Mut­ter eines Drei­jäh­ri­gen und ver­bringt jeden Abend zwei Stun­den damit, das Kind zum Ein­schla­fen zu bewe­gen. Mami „macht“ qua­si, dass das Kind schläft. 

Was tun wir? Igno­rie­ren und wei­ter­ma­chen oder hin­se­hen und lernen?

Wäh­rend in der „alten Welt“ Stö­run­gen v.a. durch über­grif­fi­ge oder gewalt­tä­ti­ge Grenz­ver­let­zun­gen ent­stan­den sind, ent­ste­hen sie in der „neu­en Welt“ durch das mehr oder min­der voll­stän­di­ge Feh­len von Gren­zen. Die Metho­den aber, die heu­te in Aus­bil­dun­gen und an Hoch­schu­len ver­mit­telt wer­den, sind zur Bear­bei­tung sol­cher „Gren­zen­lo­sig­kei­ten“ kaum geeig­net. Hin­zu kommt, dass die heu­ti­gen Leh­rer oft noch in der „alten Welt“ sozia­li­siert wur­den oder der Annah­me auf­sit­zen, die „alte Welt“ sei nach wie vor das Haupt­pro­blem. Frei­lich ist die „alte Welt“ noch da, und frei­lich brau­chen wir die dafür ent­wi­ckel­ten Metho­den auch wei­ter­hin, aber nach mei­nem Dafür­hal­ten wird der­zeit ins­be­son­de­re in den Hoch­schu­len und den steu­ern­den Insti­tu­tio­nen (Jugend­äm­ter, Schul­äm­ter) zu häu­fig weg­ge­se­hen. Wir beschäf­ti­gen uns gern mit Inklu­si­on oder mit dem all­ge­gen­wär­ti­gen Fach­kräf­te­man­gel, wäh­rend vor unse­ren Augen ein Pro­blem wächst, das im schlimms­ten Fall ein­fach „ideo­lo­gisch weg­dis­ku­tiert“ wird, indem kri­ti­sche Stim­men als Teil jener „alten Welt“ (etwa als „kon­ser­va­tiv“ oder „patri­ar­chal“) denun­ziert wer­den. Es gibt wohl kaum einen Bereich, in dem ideo­lo­gi­sier­ter dis­ku­tiert wird als in der Bil­dung. Aber so ist es, wenn man etwas (noch) nicht weiß — man glaubt. Und wenn die Rea­li­tät die Gna­de besitzt, den eige­nen Annah­men zu fol­gen, hat­te man Recht. Andern­falls kann man immer noch die Rea­li­tät igno­rie­ren — und man prü­fe sich selbst, inwie­fern das zutrifft 😉 — oder sich von der Rea­li­tät beleh­ren lassen.

Die Erwei­te­rung des Wahr­neh­mungs- und Metho­den­spek­trums als Ant­wort auf die neu­en Störungen

Wenn wir uns heu­te von der Rea­li­tät beleh­ren las­sen woll­ten, müss­ten wir zunächst genau hin­se­hen und uns fra­gen, von wel­chen Grund­an­nah­men wir aus­ge­hen und aus wel­cher Zeit die­se Annah­men stam­men und unter wel­chen Umstän­den sie ent­stan­den sind. Wenn wir so die unse­ren Hand­lun­gen zugrun­de­lie­gen­den Leit­sät­ze gefun­den haben, kön­nen wir sie prü­fen. An die­ser Stel­le will ich deut­lich sagen, dass ich nicht „Recht haben“ will. Am Ende ent­schei­det sich immer am Ein­zel­fall, was zutrifft und was nicht zutrifft, was ggf. hilft oder eben nicht hilft. Das Ziel mei­ner Argu­men­ta­ti­on ist ledig­lich, das „Wahr­neh­mungs­spek­trum“ und den „metho­di­schen Hand­lungs­spiel­raum“ für den Bedarfs­fall zu erwei­tern. Ob es den Bedarfs­fall gibt, dar­über kann man sich strei­ten, wobei ich die gene­rel­le, ideo­lo­gi­sier­te Dis­kus­si­on gern ver­mei­de und lie­ber am kon­kre­ten Fall blei­be. 

Ange­nom­men, es gäbe den Bedarfs­fall, dann könn­ten die hier skiz­zier­ten Fra­gen und Argu­men­te einen Weg zu adäqua­te­ren Metho­den wei­sen. Als Inter­ven­tio­nist soll­te ich in der Lage sein fest­zu­stel­len, ob etwas adäquat oder nicht adäquat ist, wann jemand unter den Fol­gen ekla­tan­ter Grenz­ver­let­zun­gen lei­det oder zu weni­ge Gren­zen erfah­ren hat. Die Metho­de rich­tet sich immer nach dem Phä­no­men, und wenn sich die Phä­no­me­ne ändern, kann es sein, dass die Metho­den nicht mehr pas­sen. Dann soll­te dar­über nach­ge­dacht wer­den. 

Viel­leicht ist es ja eine Mischung, die am Ende hilft — die Grund­hal­tung aus der neu­en Welt in Ver­bin­dung mit der einen oder ande­ren Tech­nik aus der alten Welt? Es geht nicht dar­um zu bre­chen, man kann Gren­zen erklä­ren, aber man muss sie set­zen — und m.E. soll­te man den Beha­vio­ris­mus nicht ver­ges­sen, denn oft genug funk­tio­niert er ein­fach — und das ganz ohne post­mo­der­nis­ti­sche Begrün­dun­gen oder kom­pli­zier­te Her­lei­tun­gen aus der Sys­tem­theo­rie zwei­ter Ord­nung. 

Die Metho­den, die wir heu­te ken­nen und benut­zen waren ein­mal neu und haben sich erst mit der Zeit und sicher auch gegen Wider­stän­de durch­ge­setzt. Sie sind aus bestimm­ten Grün­den ent­stan­den und waren und sind nach wie vor hilf­reich. Aber mei­nes Erach­tens gilt es zu prü­fen, in wel­chen Fäl­len, wann und unter wel­chen Umstän­den bestimm­te Metho­den wirk­sam sind. 

Wenn ein Mensch in sei­ner Ent­wick­lung kei­ne Gren­zen erfah­ren hat, sind Metho­den, die an sei­ner Resi­li­enz anset­zen, fehl am Platz. Gänz­lich ver­rückt wird es, wenn ich bei jeman­dem, der sich mehr oder min­der aus­schließ­lich um sich selbst dreht, nach Res­sour­cen suche. Der Begriff der Res­sour­ce bezieht sich ja auf etwas, das mir unter wid­ri­gen Umstän­den als Stär­ke oder als Halt die­nen kann. Aber wenn jemand gleich­sam allein auf der Welt ist und gewohnt ist, alles zu bekom­men, was sie oder er möch­te, ist der Begriff der Res­sour­ce hin­fäl­lig. Dann brau­chen wir ande­re Begrif­fe — und ande­re Methoden.

Jede Zeit hat ihre eige­nen Pro­ble­me — und Antworten

Es geht nicht dar­um, zurück in jene „alte Welt“ zu gehen und irgend­ei­ne „gute, alte Auto­ri­tät“ wie­der­zu­be­le­ben. Das wünscht sich der­zeit zwar eine nicht zu ver­ach­ten­de Grup­pe von Men­schen, aber das wür­de nicht funk­tio­nie­ren, denn eine sol­che „Rol­le rück­wärts“ schie­ne nur ein­fa­cher, sie wäre es nicht, im Gegen­teil. Die Pro­ble­me der Gegen­wart kann man nur lösen, wenn man ange­mes­se­ne Mit­tel (er)findet. Die­se kön­nen Ele­men­te frü­he­rer Metho­den ent­hal­ten, aber es wer­den immer Mischun­gen aus bereits bekann­ten Metho­den und neu­en Ver­su­chen sein. Den durch die Unter­ord­nung ihrer Eltern in ihrer Ent­wick­lung gestör­ten Men­schen mit blan­ker Auto­ri­tät zu begeg­nen, wäre schon im Ansatz falsch, da sich die­se Auto­ri­tät kaum durch­set­zen könn­te, denn sie wäre ange­sichts der heu­ti­gen Rechts­la­ge viel zu angreif­bar. Es wird also einer lan­gen Rei­he von Ver­su­chen bedür­fen, wie sich Gren­zen ohne direk­ten Zwang schaf­fen las­sen und wie Gren­zen „nach­so­zia­li­siert“ wer­den kön­nen. Mei­nes Erach­tens ste­hen wir, was die prak­ti­sche Umset­zung betrifft, noch ganz am Anfang.

Jörg Hei­dig

Von Jörg Heidig

Jörg Heidig, Jahrgang 1974, nach Abitur und Berufsausbildung in der Arbeit mit Flüchtlingen zunächst in Deutschland und anschließend für mehrere Jahre in Bosnien-Herzegowina tätig, danach Studium der Kommunikationspsychologie, anschließend Projektleiter bei der Internationalen Bauausstellung in Großräschen, seither als beratender Organisationspsychologe, Coach und Supervisor für pädagogische Einrichtungen, soziale Organisationen, Behörden und mittelständische Unternehmen tätig. 2010 Gründung des Beraternetzwerkes Prozesspsychologen. Lehraufträge an der Hochschule der Sächsischen Polizei, der Dresden International University, der TU Dresden sowie der Hochschule Zittau/Görlitz.