Was ist eigentlich das Problem?

Men­schen kön­nen sich schlecht selbst wahr­neh­men. Sie brau­chen dazu die ande­ren. Selbst vor dem Spie­gel bin ich nicht allein. Wie sich ein Mensch selbst sieht, was sie oder er von sich hält, wer jemand ist – all das wird durch die ande­ren gemacht, ist qua­si ein Kon­den­sat aus den vie­len „Rück­mel­dun­gen“, die jemand im Lau­fe eines Lebens erhält.

Wir betrach­ten uns also durch die Augen der ande­ren. Zuvör­derst sind dabei sta­tus­re­le­van­te Infor­ma­tio­nen wich­tig. Bin ich wer? Bin ich in Ord­nung so? Ich kann mich qua­si nur ertra­gen, wie mich die ande­ren ertra­gen. Und umge­kehrt: die ande­ren ertra­gen mich nur so, wie ich mich selbst ertrage.

Viel­leicht ist das einer der Grün­de, war­um so vie­le in die Städ­te zie­hen. Man ist dort unter Men­schen, die auch gern in der Stadt sind. Man kann sich qua­si durch deren Augen betrach­ten. Das sind womög­lich die – ver­gleichs­wei­se – ange­neh­me­ren Augen. Nicht die mie­se­pe­tri­gen Bli­cke der Dorf­be­woh­ner, unter denen man auf­ge­wach­sen ist – mor­gens schlecht drauf von zu viel Bier am Abend zuvor und zum Abend schlecht drauf, weil man bis zum nächs­ten Bier noch zu viel zu tun hat. Über­trie­ben? Wahrscheinlich.

Hal­ten wir fest: Wir betrach­ten uns lie­ber durch die Augen der­je­ni­gen, die so sind, wie wir sein wol­len.

Stel­len wir uns jetzt eine Gegend vor, in der vie­le irgend­wie nicht mehr sein möch­ten. Das schlägt sich nie­der. Das beschleu­nigt den Pro­zess. Als jemand, der nicht hier sein möch­te, sehe ich ja qua­si nur ande­re, die auch nicht hier sein möch­ten. Die nächs­te Groß­stadt beginnt, regel­recht zu leuchten.

Dabei kann man auf so eine Situa­ti­on auch anders reagie­ren. Man muss dafür gelernt haben, dass es egal ist, wo man lebt, dass es viel­mehr dar­auf ankommt, wie man selbst in den sprich­wört­li­chen Wald (das Dorf, die Stadt) hin­ein­ruft. Wenn man nett ist zu sei­ner Gegend, dann fin­det man alles, was man braucht. Natür­lich sind die ande­ren immer noch da, und sie blei­ben womög­lich – je nach Per­spek­ti­ve – sehr „anders“. Sie wider­set­zen sich der Ver­städ­te­rung, sie frö­nen ihren Gewohn­hei­ten. Sie fah­ren sams­tags mit der Feu­er­wehr durch das Dorf und tuten laut, qua­si als sozi­al gerecht­fer­tig­te Ein­la­dung zu einem wei­te­ren Besäufnis.

Klar geht die Gegend irgend­wie ®unter. Aber was ist das Pro­blem? Mer­ken wir das irgend­wie? Wird das Leben dadurch anders? Hören wir dadurch auf zu leben? Wir hören mit gar nichts auf. Wir neh­men das nur so wahr. Weil ein Teil der ande­ren – in der Regel der dem jewei­li­gen „uns“ ähn­li­che­re – weg geht. Weil die­je­ni­gen dann aus der Stadt anru­fen und schwär­men, wie gut es war, in die Stadt zu gehen. Oft leben sie genau so wie vor­her, nur eben in der Stadt. Nur das Gefühl ist bes­ser. Es fällt leich­ter, sich selbst zu betrü­gen. Weil die ande­ren hier anders sind – oder man sich das zumin­dest ein­bil­den kann.

Klar wird es käl­ter. Wir haben eine Umwäl­zung hin­ter uns – und so man­cher von uns mag gedacht haben, wir hät­ten Zeit, die Wen­de auf­zu­ar­bei­ten. Ach, wie wir die Auf­ar­bei­tung lie­ben. Alles muss geklärt wer­den. In jedem Kel­ler wird Licht gemacht. Und was haben wir davon? Mit­ten in der welt­po­li­ti­schen Atem­pau­se nach dem Kal­ten Krieg hat sich die nächs­te Umwäl­zung her­an­ge­schli­chen – ob sie nun Glo­ba­li­sie­rung oder euro­päi­scher Inte­gra­ti­ons­pro­zess oder Flücht­lings­kri­se genannt wird: fakt ist, dass alles sehr, sehr schnell geht. Von ande­ren, glo­ba­le­ren The­men wie schmel­zen­den Pol­kap­pen ganz zu schweigen.

Zu viel für ein klei­nes Leben? Ja und nein. Ja, weil man ver­drän­gen will. Die Ver­drän­gung ist die his­to­risch geläu­fi­ge­re Reak­ti­on, an deren Stel­le wir heu­te die Auf­ar­bei­tung nen­nen – weil wir es kön­nen. Und nein, weil (fast) alle Gene­ra­tio­nen vor uns ähn­li­che The­men hatten.

Was hat das alles mit der Lau­sitz zu tun? Wenn man genau hin­sieht, sehr viel.

Jede Gene­ra­ti­on wächst her­an und macht die in ihrer Jugend­zeit wahr­ge­nom­me­nen Bedin­gun­gen unbe­wusst zur Grund­la­ge des Den­kens. Die Anzahl der Autos („Frü­her war es auf den Stra­ßen siche­rer!“), die Art der Erzie­hung („Frü­her hat man mit Auto­ri­tät kein Pro­blem gehabt. Heu­te darf man als Leh­rer qua­si gar nichts mehr!“) – und in ähn­li­cher Wei­se die sei­ner­zeit wahr­ge­nom­me­ne Struk­tur jeden Lebens­be­reichs – wird unbe­wusst zur Ori­en­tie­rung des Den­kens. Und weil das Leben vor­wärts gelebt und rück­wärts ver­stan­den wird, ver­glei­chen wir alles mit den „Grund­li­ni­en des Den­kens“ unse­rer jewei­li­gen Generation.

Aus­ge­hend von die­sen Grund­li­ni­en machen wir uns ein Bild. Wir ver­glei­chen. Wir haben vol­le Stra­ßen und Schu­len gese­hen. Wir haben in Betrie­ben mit vie­len Men­schen gear­bei­tet. Wir haben in vol­len Bus­sen geses­sen. Wir haben unse­re Kri­sen nicht allein, son­dern im Fami­li­en- oder Freun­des­um­feld bewäl­tigt. Das Leben war „dich­ter“, unse­re Städ­te waren „gefüll­ter“, auf unse­ren Fes­ten war „mehr los“. Und nun?

Wir brau­chen die Per­spek­ti­ve nur über den Hori­zont eines Lebens erwei­tern. Oder bes­ser noch über den Hori­zont meh­re­rer Leben. Vor der Indus­tria­li­sie­rung war hier fla­ches, feuch­tes Land mit ein paar Hügeln zwi­schen­drin. Schön an man­chen Stel­len, aber vor allem ein­sam und nebe­lig. Pück­ler hat sich nicht umsonst über den „plat­ten Pfann­ku­chen“ Lau­sitz ereifert.

Was macht man im Ange­sicht wach­sen­der Lee­re? Man fra­ge sich, ob die Lau­sit­zen nicht schon öfter „neben der Zeit“ oder „neben den Inter­es­sen“ gele­gen haben. Und war das pro­ble­ma­tisch? Wen stört es, wenn in einem Land­kreis statt 300.000 nur noch 200.000 Men­schen leben? Was genau ist das Problem?

Jörg Hei­dig

Von Jörg Heidig

Jörg Heidig, Jahrgang 1974, nach Abitur und Berufsausbildung in der Arbeit mit Flüchtlingen zunächst in Deutschland und anschließend für mehrere Jahre in Bosnien-Herzegowina tätig, danach Studium der Kommunikationspsychologie, anschließend Projektleiter bei der Internationalen Bauausstellung in Großräschen, seither als beratender Organisationspsychologe, Coach und Supervisor für pädagogische Einrichtungen, soziale Organisationen, Behörden und mittelständische Unternehmen tätig. 2010 Gründung des Beraternetzwerkes Prozesspsychologen. Lehraufträge an der Hochschule der Sächsischen Polizei, der Dresden International University, der TU Dresden sowie der Hochschule Zittau/Görlitz.