Der Raum redet mit. Oder besser: Der Raum „rahmt“ unsere Kommunikation, ermöglicht oder schränkt ein, verlockt uns mitunter dazu, andere anzusprechen, oder hemmt die Bereitschaft, überhaupt miteinander zu reden. In den allermeisten Fällen geschieht dies unbewusst.
In einer Serie von kurzen Texten werden die wichtigsten dieser oft ebenso unbemerkten wie wirksamen Faktoren praxisnah dargestellt. Teil 1 beschäftigt sich zunächst mit Sitzpositionen und Tischformen.
Erinnern Sie sich vielleicht an ein Zweiergespräch, bei dem es gelungen ist, eine Eskalation abzuwenden? Und an eines, das so richtig eskaliert ist? Können Sie sich noch erinnern, wo Sie gesessen haben, und wo Ihr Gegenüber gesessen hat?
An einem Tisch redet es sich „über Ecke“ sitzend leichter über schwierige Themen, als wenn man sich gegenüber sitzt. Die Körperachsen sind „über Ecke“ so positioniert, dass man sich nicht die ganze Zeit anschauen muss, sich trotzdem aber so nah ist, dass man einen Blick riskieren, eine Demutsgeste zeigen oder dem anderen vielleicht sogar kurz die Hand auf den Unterarm legen kann (vorausgesetzt natürlich, dass man so ein Verhältnis hat). Eine „über Ecke“ ausgesprochene Entschuldigung ist weniger riskant und gleichzeitig wirksamer, als eine Entschuldigung, die sich an eine direkt gegenüber sitzende Person richtet. Die Sitzposition gegenüber erhöht in gewisser Weise die Eskalationswahrscheinlichkeit, weil man die andere Person die ganze Zeit mehr oder weniger „im Blick“ hat. Unsere Kommunikation ist viel stärker von körpersprachlichen Signalen abhängig, als uns normalerweise bewusst ist. Die bewusste Kommunikation hängt an einem Teil des Gehirns, der gemeinhin als das „Sprachzentrum“ bezeichnet wird. Dieses Sprachzentrum ist ein Teil des Gehirns, der erst recht spät im Verlaufe der Entstehung unserer Art seine Funktion erhalten hat. Die emotionale Verhaltenssteuerung ist viel älter und sitzt viel „tiefer“. Wenn ich mich also zum Beispiel ärgere, ist es sehr schwer, auf einen Gedanken zu kommen und zum Beispiel etwas Deeskalierendes zu sagen. Wenn ich aber mein Gegenüber die ganze Zeit sehe, reagiert mein Gehirn völlig automatisch auf die Körpersprache des Gegenübers. Die Augen werden dann gleichsam zu „Waffenkammern“. Hinzu kommt, dass die visuelle Verarbeitung von Reizen viel schneller ist, als das aufwendige Denken. Ich reagiere also schon längst (= habe Emotionen), bevor mir das ggf. überhaupt bewusst wird. Und wenn mein Ärger erstmal hochgefahren ist, steigt die Wahrscheinlichkeit stark, dass ich genau aus dieser Emotion heraus reagiere — und nicht so handle, wie es vielleicht vernünftig wäre. Um vernünftig, also überlegt und auf der Basis von Gedanken, zu handeln, müsste ich mich von meinem Ärger entsetzen oder loslösen können. Diese Fähigkeit gibt es, und man kann sie erlernen, aber das erfordert viel Übung. Man kann sich durch eine kluge Wahl der Positionen am Tisch ein wenig dabei helfen, das Gespräch so zu gestalten, dass bei dem Gespräch herauskommt, was herauskommen soll.
Im Folgenden werden drei Beispiele dargestellt, die das bisher Beschriebene praktisch illustrieren sollen.
Beispiel 1: Tischlänge und Machtdistanz
Über die russische Kultur und insbesondere den jetzigen russischen Präsidenten ist in den vergangenen Jahren viel gesagt und geschrieben worden. Vielen mag der vergleichsweise extrem lange Tisch in Erinnerung sein, an dem sich der russische Präsident mit Verhandlungspartnern zu treffen pflegt. Man sitzt sich mit dem an diesem Tisch maximalen Abstand gegenüber, zwischen den Gesprächspartnern liegen immerhin sechs Meter. Russland ist das Land in Europa mit der höchsten Machtdistanz. Damit bezeichnet man sinngemäß den „gefühlten Abstand zu vorgesetzten Personen“. Dieser Abstand variiert von Kultur zu Kultur: In Skandinavien herrscht eine vergleichsweise geringe Machtdistanz, in Russland hingegen eine sehr große Machtdistanz; Deutschland liegt eher im Mittelfeld, Tendenz fallend. Mit sechs Metern ist also nicht nur der physische Abstand in Metern gemeint, sondern es werden die Singularität des Herrschers und der starke (ggf. als „hierarchisch“ zu interpretierende) Abstand zwischen dem Herrscher und seinem jeweiligen Gesprächspartner symbolisiert.
Beispiel 2: Position am Tisch bei Konfliktgesprächen
Einer der in Mediationsausbildungen mitunter vermittelten praktischen Hinweise lautet, dass sich die Konfliktparteien nebeneinander setzen sollen, und zwar direkt nebeneinander. Das Gegenüber für beide ist dann die moderierende Person. Dadurch wird sichergestellt, dass sich die Parteien so wenig wie möglich anschauen und die vermittelnde Person im Fokus steht, also das „körpersprachliche Zepter“ in der Hand hat. Sitzen die Konfliktparteien gegenüber und steht dann vielleicht noch ein Tisch zwischen ihnen, kann es passieren, dass Situationen quasi „automatisch“ (= körpersprachlich ausgelöst/bedingt) eskalieren und man als neutrale dritte Partei im ganz und gar „physischen Sinne“ nicht mehr dazwischen kommt.
Beispiel 3: Runde Tische in der Notaufnahme
Waren Sie schon einmal in einer Notaufnahme? Um diejenigen, die es betrifft, wird sich ja, je nach Zustand und Andrang, früher oder später gekümmert. Aber die Angehörigen oder Begleitpersonen — die haben viel Zeit. Manche geduldige Personen ertragen dieses Warten ganz stoisch. Andere lesen in den herumliegenden Zeitungen. Noch andere „brummen“ vor sich hin. Vielleicht haben Sie sich in so einer Situation den Raum einmal genau angeschaut: Festgeschraubte Sitzbänke an den Wänden entlang, ggf. auch mehrere Reihen solcher Bänke mitten im Raum, in der Ecke steht ein Getränke- oder Snack-Automat und gibt Kühlschrank-Geräusche von sich. Über dem Automaten vielleicht ein Flachbildschirm, auf dem irgendein Nachrichtensender ohne Ton läuft. In einer anderen Ecke eine unverwüstliche Monstera, zu der seit Jahren niemand mehr nett war. Ein Display zeigt die Nummer, wer gerade dran ist. Manchmal kommt mehr oder weniger genervt schauendes Personal vorbei. Achso, und die Spielecke und die Zeitungen auf einem Beistelltisch. Auch wenn das in Ihrer konkreten Notaufnahme-Situation vielleicht etwas anders ausgesehen hat: Es ist keine Situation, in der man sich besonders wohlfühlt.
Wissen Sie noch, wie Sie nachher über Ihr Erlebnis in der Notaufnahme gesprochen haben? … Genau. 😉
Die Situation ändert sich direkt, wenn man runde Tische mit jeweils drei oder vier Stühlen in den Raum stellt. Natürlich setzt sich jedes Grüppchen oder jede Einzelperson erstmal an einen gesonderten Tisch, man kennt sich ja schließlich nicht. Aber was passiert, wenn alle Tische besetzt sind? Dann müssen sich die Hinzukommenden an irgendeinen Tisch dazusetzen. Das ist zwar in den ersten Sekunden unangenehm, aber dann… beginnen viel eher Gespräche als unter dem Umstand, dass alle auf irgendwelchen festgeschraubten Stuhlreihen sitzen. Man beginnt ein Gespräch viel eher, wenn man an einem runden Tisch sitzt, wenn man sich sieht. Man hört sich zu, man erzählt — man macht viel wahrscheinlicher genau das, was Menschen eben machen, wenn sie nichts anderes vorhaben, Zeit haben, warten müssen: man quatscht.
Und wollen wir wetten, dass Sie dann im Nachhinein ganz anders über ihre Stunden in der Notaufnahme reden, als wenn sie die ganze Zeit „vor sich hingebrummt“ haben?
PS: Das Beitragsbild wurde mit Hilfe einer künstlichen Intelligenz erstellt.
PPS: Lesen Sie hier einen älteren und allgemeineren Beitrag zum Thema Psychologie der Raumgestaltung.
