Von Tooligans und anderen Irrlichtern – Prozessorientierung als Methode

Der nach­fol­gen­de Text stellt die wesent­li­chen Inhal­te mei­nes Vor­trags auf dem Sym­po­si­um Super­vi­si­on und Coa­ching an der Dres­den Inter­na­tio­nal Uni­ver­si­ty dar.

Industry@Heart

Als trü­gen wir die Indus­trie regel­recht im Her­zen, gehen wir von Mach­bar­keit, Plan­bar­keit und Sta­bi­li­tät aus. Wir mana­gen die Din­ge. Aber mana­gen kann man nur, was schon da ist (vgl. Hin­ter­hu­ber 2011).

Was pas­siert aber, wenn sich die Welt ändert? Wie gehen wir damit um, wenn Wachs­tum nicht mehr so funk­tio­niert wie bis­her, wenn sich die Wer­te der nächs­ten Gene­ra­ti­on fun­da­men­tal ändern, wenn die Ver­net­zung so unge­kann­te Aus­ma­ße annimmt, dass unse­re Kom­mu­ni­ka­ti­ons­ge­wohn­hei­ten und unser sozia­les Gefü­ge regel­recht auf den Kopf gestellt werden?

„Wenn wir das jetzt noch machen, haben wir nach­her Ruhe!“, lau­tet ein Spruch, den ich häu­fi­ger höre. Füh­rungs­kräf­te sagen ihn, um damit not­wen­di­ge Kraft­ak­te zu begrün­den und ihre Leu­te zum Durch­hal­ten zu moti­vie­ren. Durch­hal­ten? Was ist, wenn das nicht mehr hilft, son­dern man sich etwas Neu­es aus­den­ken muss?

Die­ser Text beschäf­tigt sich mit den gegen­wär­ti­gen gro­ßen Ver­än­de­run­gen. Wie vie­le ande­re Autoren (sie­he bspw. Bryn­jolfs­son & McA­fee; Sen­ge; Sch­ar­mer; Edmond­son & Schein) gehe auch ich davon aus, dass wir in einer unge­wis­sen, „ver­wor­re­nen Welt“ (Her­nes 2007) ange­kom­men sind, in der vie­les nicht mehr stimmt und man in bis­her unge­kann­tem Aus­ma­ße auto­nom han­deln kann, bspw. in dem man ganz bewusst Tra­di­ti­on und Erbe aus­schlägt (vgl. Slo­ter­di­jk 2014).

Die Fra­ge, der ich hier kon­kret nach­ge­he, ist die, was die­se Ver­än­de­run­gen für die vie­len For­men von Hil­fe bedeu­ten, die wir im Zuge der rasan­ten Stei­ge­rung unse­res Wohl­stands ent­wi­ckelt haben. Ich ver­ste­he den Hil­fe­be­griff hier recht all­ge­mein, indem ich mich auf Leh­rer eben­so bezie­he wie auf Sozi­al­ar­bei­ter, Psy­cho­lo­gen, Super­vi­so­ren, Coa­ches oder Unter­neh­mens­be­ra­ter. Ich möch­te behaup­ten, dass etwas so grund­le­gend ins Wan­ken gekom­men ist, dass wir nur mehr viel zu wenig wis­sen, um siche­re Aus­sa­gen – etwa Orga­ni­sa­ti­ons­dia­gno­sen – tref­fen zu kön­nen, geschwei­ge denn rich­ti­ge Metho­den zu wählen.

Unse­re Gewohn­hei­ten stam­men aber noch aus der alten Welt. Wir fra­gen gern nach Tools, wir wen­den gern Metho­den an. Wir füh­len uns gern sicher. Aber lang­sam: Bevor ich die­ser Behaup­tung wei­ter nach­ge­he, las­sen Sie uns zunächst schau­en, wie es dazu gekom­men ist.

Pri­mat der Methode

Erlau­ben Sie mir einen klei­nen his­to­ri­schen Exkurs, der bei Mar­tin Luther beginnt und bei Fre­de­rick Win­slow Tay­lor endet:

Der Pro­tes­tan­tis­mus hat die Gestalt­bar­keit der irdi­schen Ver­hält­nis­se gleich­sam auf die Erde geholt. Gehen Katho­li­ken noch von einer vom Men­schen nicht zu beein­flus­sen­den höhe­ren Ord­nung und von einer All­mäch­tig­keit Got­tes aus, hat die All­mäch­tig­keit bei den Pro­tes­tan­ten Ris­se bekom­men. Im Katho­li­zis­mus begeht man Sün­den und beich­tet. Dann ist zwar nicht auto­ma­tisch alles gut, son­dern man wird ange­hal­ten, auf sei­ne Taten zu ach­ten, aber im Pro­tes­tan­tis­mus muss man sich bereits durch sei­ne Taten bewäh­ren. Man beich­tet nicht mehr, son­dern begeht sei­ne Taten direkt aus dem Glau­ben her­aus und kann sich bereits wäh­rend sei­nes Lebens an sei­nen Taten mes­sen las­sen. Gott ist im Pro­tes­tan­tis­mus weni­ger ver­ge­bend, der Mensch ist weni­ger fehl­bar, man kann bereits auf Erden »gut« sein – eine Vor­stel­lung, die sich dem Katho­li­ken in sei­ner mensch­li­chen Unvoll­kom­men­heit im Ange­sicht der gött­li­chen All­macht ver­schließt. Inso­fern, und das haben mir vie­le Chris­ten, denen ich das bis­her erzählt habe, nicht ver­zie­hen, erscheint der Pro­tes­tan­tis­mus als ein not­wen­di­ger Vor­läu­fer des Sozia­lis­mus: hät­ten die Pro­tes­tan­ten Gott nicht auf die Erde geholt, hät­ten sie es nicht ermög­licht, dass der Mensch bereits „hier unten“ an sei­nen Wer­ken gemes­sen wer­den kann, dass er »gut« sein kann, wenn er nur den rech­ten Glau­ben hät­te, dann wäre der Welt viel­leicht das eine oder ande­re »gute« und »rich­ti­ge« Theo­rie­ge­bäu­de erspart geblie­ben. Aber das bleibt für alle Zeit im Reich der Vermutungen.

Die­ses war der ers­te Streich. Es folg­te sogleich der zwei­te: Nach­dem Gott ein­mal auf die Erde geholt war, haben wir ihn, fol­gen wir Fried­rich Nietz­sche, getö­tet. Die Irra­tio­na­li­tät der mensch­li­chen Exis­tenz wur­de mit zuneh­men­der „Ratio­na­li­sie­rung“ nicht mehr mit Gott – Nietz­sche ver­steht unter dem Got­tes­be­griff eine idea­li­sier­te Pro­jek­ti­on der posi­ti­ven Eigen­schaf­ten eines Vol­kes und ver­gleicht vor die­sem Hin­ter­grund stär­ke­re Got­tes­bil­der wie das des Islam mit dem aus sei­ner Sicht schwa­chen, ver­ge­ben­den Got­tes­bild des Chris­ten­tums – erklärt. An Got­tes Stel­le trat die Wis­sen­schaft; der Unwäg­bar­keit des Lebens wur­de die Metho­de entgegengestellt.

„Unter­schät­zen wir dies nicht: wir selbst, wir frei­en Geis­ter, sind bereits eine ‚Umwert­hung aller Wert­he‘, eine leib­haf­te Kriegs- und Siegs-Erklä­rung an alle alten Begrif­fe von ‚wahr‘ und ‚unwahr‘. Die wert­h­volls­ten Ein­sich­ten wer­den am spä­tes­ten gefun­den; aber die wert­h­volls­ten Ein­sich­ten sind die Metho­den. Alle Metho­den, alle Vor­aus­set­zun­gen uns­rer jet­zi­gen Wis­sen­schaft­lich­keit haben Jahr­tau­sen­de lang die tiefs­te Ver­ach­tung gegen sich gehabt, auf sie hin war man aus dem Ver­keh­re mit ‚hon­net­ten‘ Men­schen aus­ge­schlos­sen, – man galt als ‚Feind Got­tes‘, als Ver­äch­ter der Wahr­heit, als ‚Beses­se­ner‘. Als wis­sen­schaft­li­cher Cha­rak­ter war man Tschand­ala … Wir haben das gan­ze Pathos der Mensch­heit gegen uns gehabt – ihren Begriff von dem, was Wahr­heit sein soll, was der Dienst der Wahr­heit sein soll: jedes „du sollst“ war bis­her gegen uns gerich­tet … Uns­re Objek­te, uns­re Prak­ti­ken, uns­re stil­le vor­sich­ti­ge miss­traui­sche Art – Alles schien ihr voll­kom­men unwür­dig und ver­ächt­lich.“ (Fried­rich Nietz­sche: Der Anti­christ; Quel­le im Voll­text)

Nach der „Hin­rich­tung“ Got­tes war die Irra­tio­na­li­tät aus der Welt ver­schwun­den. Ver­meint­lich. Wäre da nicht Freud gewe­sen. Freud hat die Unwäg­bar­keit des Lebens, die Ambi­va­len­zen des mensch­li­chen Daseins gleich­sam in den Men­schen hin­ein­pro­ji­ziert – in Gestalt der Trie­be. Nach­dem außen kei­ne Instanz mehr da war, mit der man die Irra­tio­na­li­tät, das Unwäg­ba­re, das Ambi­va­len­te, die spät­nächt­li­chen exis­ten­ti­el­len Fra­gen erklä­ren konn­te, nach­dem alles ratio­na­li­siert wur­de, hat Freud mit der Trieb­leh­re ein Kon­zept geschaf­fen, mit dem vie­les wie­der erklär­bar wur­de. Es sei die Erzie­hung, der ewi­ge Kon­flikt des Ichs, wenn es zwi­schen inne­ren Antrie­ben und äuße­ren Beschrän­kun­gen ver­mit­teln müs­se. Gleich­zei­tig schuf Freud mit der Psy­cho­ana­ly­se eine Metho­de, mit der das Ich als ratio­na­le Instanz Herr der (Trieb-)Lage wer­den kann. Viel­leicht erklärt das einen Teil der gro­ßen Popu­la­ri­tät zunächst der Psy­cho­ana­ly­se in ihrer Zeit und dann der Psy­cho­lo­gie ins­ge­samt in unse­ren Tagen – ein kom­plet­tes Erklä­rungs­mo­dell auf indi­vi­du­el­ler Ebe­ne in Ver­bin­dung mit einer Metho­de. Psy­cho­lo­gi­sche Inter­ven­tio­nen sind dem­entspre­chend in der Regel dar­auf aus­ge­rich­tet, das Indi­vi­du­um zu stär­ken – sie för­dern die Auto­no­mie eines Men­schen. Das erklärt wie­der­um, war­um vie­le psy­cho­lo­gi­sche Inter­ven­tio­nen kul­tur­spe­zi­fisch west­lich sind und in gemein­schafts­ori­en­tier­te­ren Kul­tu­ren nicht in der uns gewohn­ten Wei­se funk­tio­nie­ren. Ich habe das ins­be­son­de­re in der Super­vi­si­on mit Sozi­al­ar­bei­tern, die mit afgha­ni­schen Flücht­lin­gen arbei­ten, fest­ge­stellt. Gera­de lösungs­ori­en­tier­te Gesprächs­kon­zep­te schei­nen an ihre Gren­zen zu kom­men, weil Begrif­fe wie „ich“, „Ziel“ oder „Lösung“ ganz ande­re Bedeu­tun­gen haben. So wird viel häu­fi­ger im „wir“ gespro­chen, und Zie­le sind nicht unbe­dingt eine zen­tra­le Kate­go­rie des Den­kens, was die Arbeit an Zie­len bzw. an den Wegen dahin obso­let macht.

Metho­den an der Grenze?

Am kon­se­quen­tes­ten wird der Sie­ges­zug der Metho­de bei den Manage­ment-Theo­rien deutlich:

Frü­he Manage­ment-Theo­re­ti­ker wie Ford oder Fayol such­ten in der Regel nach Hand­lungs­mus­tern und Prin­zi­pi­en, die den Erfolg oder Miss­erfolg einer Unter­neh­mung erklä­ren soll­ten. So for­mu­lier­te Fayol bei­spiels­wei­se, dass Auto­ri­tät, die Ein­heit der Lei­tung und Dis­zi­plin sowie elf wei­te­re Prin­zi­pi­en für den Erfolg einer Orga­ni­sa­ti­on aus­schlag­ge­bend sei­en. Man stell­te spä­ter fest, dass die­se Prin­zi­pi­en zwar man­chen Erfolg erklä­ren konn­ten, es aber auch Fäl­le gab, die selbst bei Ein­hal­tung der Prin­zi­pi­en nicht von Erfolg gekrönt waren, und umge­kehrt, dass man­che vie­les falsch mach­ten und trotz­dem Erfolg hat­ten. Dann kam Fre­de­rick Win­slow Tay­lor und revo­lu­tio­nier­te die prin­zi­pi­en­ba­sier­ten – letzt­lich also auf best prac­ti­ce beru­hen­den Manage­ment-Model­le, indem er sie durch eine an die Königs­me­tho­de der Wis­sen­schaft, das Expe­ri­ment, ange­lehn­te Metho­de ersetz­te. Tay­lor beob­ach­te­te den Arbeits­pro­zess sys­te­ma­tisch und vari­ier­te ver­schie­de­ne Grö­ßen so lan­ge, bis die opti­mals­te Vari­an­te her­aus­kam. So fand er bei­spiels­wei­se her­aus, dass ein durch­schnitt­li­cher Arbei­ter mit einer 9,5‑Kilogramm-Schaufel mehr schaff­te als mit einer 7,5- oder 11-Kilo­gramm-Schau­fe. Tay­lors Grund­an­nah­me war, dass die Inter­es­sen von Arbeit­neh­mern und Arbeit­ge­bern ver­ein­bar sei­en, und zwar durch den Lohn – jeder wol­le sei­nen Nut­zen maxi­mie­ren, wes­halb man ver­mit­tels des Lohns schon eine bei­de Sei­ten zufrie­den­stel­len­de Vari­an­te fin­den wer­de. Die­ses Men­schen­bild ist als homo oeco­no­mic­us in die Geschich­te ein­ge­gan­gen und gilt in wei­ten Berei­chen noch heu­te. Der gro­ße Ver­dienst Tay­lors war der Ersatz der – immer wider­leg­ba­ren und im Ein­zel­fall nie ganz gül­ti­gen – Prin­zi­pi­en durch die Methode.

Nun ist, will man den ein­lei­ten­den Dar­stel­lun­gen fol­gen, die Welt im Wan­del. Die Indus­tria­li­sie­rung hat einer­seits ein nie gekann­tes Aus­maß an Wohl­stand ermög­licht, ande­rer­seits bringt sie den Pla­ne­ten an die Gren­ze sei­ner Rege­ne­ra­ti­ons­fä­hig­keit oder dar­über hin­weg. Es sei des­halb an der Zeit, nicht mehr den Men­schen in den Mit­tel­punkt zu stel­len, son­dern die Natur ins­ge­samt. Die­ser „Shift“ bringt uns weg von dem Bild, dass wir uns die Erde unter­tan machen sol­len, hin zu dem Bild, dass wir Teil eines gro­ßen Gan­zen sein sol­len. Aber wie soll das gehen? Es gibt dazu eine gan­ze Rei­he von Tex­ten – ange­fan­gen von bril­lant recher­chier­ten, sehr nach­denk­li­chen und „lei­sen“ Tex­ten wie „The mor­tal sea“ von Jef­frey Bols­ter bis hin zu sol­chen mit einem bei­na­he mis­sio­na­risch-kla­gen­den Ton wie „The neces­sa­ry revo­lu­ti­on“ von Peter Senge.

Anti-Com­mu­ni­ties?

Hal­ten wir einst­wei­len fest: Erst ist uns Gott abhan­den gekom­men. Dann begann die Vor­herr­schaft der Metho­de. Nun mer­ken wir, dass wir damit an die Gren­ze gekom­men sind – wirt­schaft­lich, weil wir den Pla­ne­ten über­las­ten, und per­sön­lich, weil wir ein bis­her unge­kann­tes Maß an Auto­no­mie und Indi­vi­dua­li­sie­rung erreicht haben.

Nicht umsonst sagt Peter Sen­ge in der ihm eige­nen, kla­gen­den Art, dass Sozia­le Netz­wer­ke Anti-Com­mu­ni­ties sei­en, weil jeder zu jeder Zeit das Netz­werk ver­las­sen kön­ne. Wirk­li­che Bezie­hun­gen ent­stün­den aber nur dort, wo Men­schen in unmit­tel­ba­ren Aus­tausch trä­ten („get stuck with each other“). Die­se unmit­tel­ba­ren Bezie­hun­gen sei­en dann Vor­aus­set­zung für die Über­nah­me tat­säch­li­cher Verantwortung.

Exper­ten­rat, wis­sen­schaft­li­che Unter­su­chun­gen, Tri­al & Error

Wir leben also in einer denk­bar unsi­che­ren Situa­ti­on. Alles geht. Schein­bar. Zunächst. Die Fra­ge ist, was dann passiert.

In unsi­che­ren Situa­tio­nen wählt man ent­we­der den Exper­ten­rat. Wenn es (noch) kei­ne bera­ten­den Exper­ten gibt, fragt man die Wis­sen­schaft. Weiß die auch kei­nen Weg, pro­biert man her­um. Ein Blick in die Zei­tung genügt: Wir sind in vie­len Bran­chen beim Pro­bie­ren angelangt:

Am deut­lichs­ten wird dies in der Schu­le: Kaum einer weiß, wie Schu­le wirk­lich funk­tio­nie­ren kann. Der Sehn­sucht nach der guten alten Zeit der Dis­zi­plin steht eine viel zu radi­ka­le „Wir schaf­fen den gan­zen alten Mist ab!“-Mentalität gegen­über. Ein schö­ner Mit­tel­weg, die die guten Aspek­te bei­der Wel­ten ver­eint, scheint nicht in Sicht.

Zwei­tens bli­cke man ins Gesund­heits­we­sen und in die Öffent­li­che Ver­wal­tung: Man ver­sucht dort seit Jah­ren, Struk­tu­ren und Pro­zes­se mit­tels betriebs­wirt­schaft­li­cher Metho­den zu refor­mie­ren. Ergeb­nis ist ein weit­ge­hen­des Durch­wurs­teln von einer Para­do­xie zur nächs­ten. Glaubt man Peter Dru­cker, dann erlebt die Indus­trie gera­de das, was in der Land­wirt­schaft bereits vor län­ge­rer Zeit pas­siert ist – eine Stei­ge­rung der Pro­duk­ti­vi­tät bei stark abneh­men­den Beschäf­ti­gungs­zah­len. Die Gegen­wart sei bereits zum weit­aus größ­ten Teil von Dienst­leis­tun­gen geprägt, das Pro­blem dabei sei jedoch, so Dru­cker, dass unse­re zen­tra­len Instru­men­te wie bspw. Pla­nung und Buch­hal­tung auf Model­len indus­tri­el­ler Logik beru­hen. Wir haben die­se Model­le auch auf Dienst­leis­tun­gen, ja sogar die öffent­li­che Ver­wal­tung über­tra­gen, ohne jedoch die Geld­flüs­se Leis­tun­gen zuord­nen zu kön­nen. Man weiß, wie viel hin­ein­geht und wie viel wie­der her­aus­kommt, man weiß auch, wofür Geld aus­ge­ge­ben wird, aber man kann Geld und Leis­tung nicht ver­nünf­tig zuein­an­der bringen.

Drit­tens lie­fert ein Blick auf die psy­chi­sche Ver­fasst­heit von Füh­rungs­kräf­ten und Mit­ar­bei­tern gute Bele­ge: Die Füh­rungs­kräf­te und Mit­ar­bei­ter vie­ler Unter­neh­men kom­men nicht mehr hin­ter­her, wer­den krank, lan­den im Burn­out. Man kann die Burn­out-Dis­kus­si­on für eine Bla­se hal­ten. Und es wird auch eine Rei­he von Spaß­vö­geln geben, die unter dem Deck­man­tel einer Schein-Dia­gno­se ein wie auch immer gear­te­tes Leben füh­ren. Aber wer mal Burn­out gehabt hat, kennt die bit­te­re Kon­se­quenz des „big­ger, bet­ter, fas­ter, more“-Modus’. Vie­le hal­ten kaum mehr Schritt, und das liegt nicht dar­an, dass sie etwa dumm sei­en. Man schaue in die Lebens­mit­tel­in­dus­trie, man beob­ach­te man­che Auto­mo­bil­zu­lie­fe­rer, man fra­ge Paket­zu­stel­ler. Der zyni­sche Kom­men­tar eines Mana­gers, mit dem ich kürz­lich sprach, die Hälf­te der Füh­rungs­kräf­te in sei­nem Unter­neh­men lei­de an Burn­out, das sei nor­mal, und wer sich dar­an nicht gewöh­nen kön­ne, der müs­se gehen, spricht für sich.

Was ist hier nun zu tun? 

Das Pro­blem liegt womög­lich bereits in der Fra­ge an sich. Wir leben in einer Kul­tur des Tuns und Mit­tei­lens (Edgar Schein). Unse­re Annah­men gehen von Mach­bar­keit aus. Wir sind es gewohnt, uns gegen­sei­tig mit­zu­tei­len, was wir tun und las­sen sol­len. Wenn wir ein Pro­blem haben, suchen wir uns Rat, lesen Unter­su­chun­gen oder pro­bie­ren im Not­fall her­um. Aber es geht immer dar­um, etwas zu machen.

Wir haben Tools, die wir erler­nen und beherr­schen kön­nen. Dadurch wer­den die Din­ge mach­bar. Wir entt­wi­ckeln neue Tools, um die Din­ge noch bes­ser zu beherrschen.

Too­li­gans

Schau­en wir uns den Begriff des Tools ein­mal etwas genau­er an: Die Meta­pher des Werk­zeugs impli­ziert Instru­men­ta­li­tät, Anwend­bar­keit, Mach­bar­keit, Beherr­schung. Dies­be­züg­lich wäre zum Einen zu fra­gen, ob wir den Begriff des Tools über­haupt auf die Arbeit mit Men­schen anwen­den kön­nen. Den­noch ver­geht kaum ein Trai­ning oder Coa­ching, ohne dass sich Kun­den bei mir nach den rich­ti­gen Tools zum Umgang mit schwie­ri­gen Situa­tio­nen erkun­di­gen. Als ob es so ein­fach wäre!

Zum Ande­ren habe ich die Ver­mu­tung, dass die oben beschrie­be­nen Ver­än­de­run­gen bereits soweit fort­ge­schrit­ten sind, dass die Werk­zeu­ge, die wir aus jener Zeit mit­ge­bracht haben, nicht mehr funk­tio­nie­ren, ganz ähn­lich wie Peter Dru­cker meint, wir über­trü­gen betriebs­wirt­schaft­li­che Tech­ni­ken auf das Gesund­heits­we­sen, ohne die erbrach­ten Leis­tun­gen jemals dem Geld­fluss zuord­nen zu können.

Der Begriff des Tools will also nicht recht pas­sen, denn am Ende über­strahlt die Indus­trie-Meta­pher die durch­aus vor­han­de­nen posi­ti­ven Aspek­te des Begriffs: indem wir Coa­ching-Tools beherr­schen, opti­mie­ren wir Men­schen. Dass der Mensch opti­mier­bar sei, ist – vor einem huma­nis­ti­schen Hin­ter­grund – eine gera­de­zu kläg­li­che Annah­me. Aber die vie­len Selbst­auf­wer­tungs­se­mi­na­re oder auch Buch­ti­tel wie „Kin­der kön­nen kau­fen“ zei­gen, wie weit wir die Indus­trie-Meta­pher in unse­re inne­re Welt hin­ein­ge­las­sen haben.

Too­li­gans sind nun sol­che Bera­ter, Coa­ches, Leh­rer und so wei­ter, die sich ver­schie­de­ner Werk­zeu­ge bedie­nen, nur weil die­se funk­tio­nie­ren, unab­hän­gig vom Sinn. Anstatt Fra­gen zu stel­len, hal­ten die­se Kol­le­gen ihren Kun­den ihre – meist glän­zen­den – Tools vor die Nase. Ob es tat­säch­lich hilft, ist eine ande­re Fra­ge, die zumeist auch nicht mit­tels der Eva­lua­ti­ons­bö­gen der Too­li­gans beant­wor­tet wer­den kann. Denn wer erhält schon Ant­wor­ten über die tat­säch­li­che Wir­kung einer Metho­de, wenn die Teil­neh­mer eines Semi­nars direkt am Ende der wun­der­bar unter­halt­sa­men zwei Tage einen Fra­ge­bo­gen aus­fül­len? Bei die­ser gän­gi­gen Form der Semi­nar­eva­lua­ti­on erhält man zumeist nur ein Bild der Stim­mung am Ende des Semi­nars. Und die ist eher abhän­gig vom Essen wäh­rend der Ver­an­stal­tung und von der Aus­strah­lung und Unter­halt­sam­keit des Vor­tän­zers. Von „Wir­kung“ könn­te man viel­leicht nach eini­gen Wochen, viel­leicht sogar Mona­ten sprechen.

Von der Ver­flüs­si­gung der Methoden

Die Fra­ge bleibt, was nun hilft. Tools an sich sind ja zunächst weder falsch noch rich­tig. Tools ent­fal­ten ihre Wir­kung erst in den Hän­den bzw. durch die Wor­te derer, die sie ein­set­zen. Die Fra­ge ist also, was vor den Tools kommt. Die Ant­wort dar­auf liegt im Begriff der Pro­zess­ori­en­tie­rung. Wenn die „Aus­gangs­la­gen“, also die zu bear­bei­ten­den Pro­ble­me, Fra­ge­stel­lun­gen, Abläu­fe etc. immer kom­ple­xer wer­den, dann ist es schwie­rig, ein­fa­che Lösun­gen zu lie­fern. Zwar gibt es Fäl­le, wo Hil­fe tat­säch­lich so ein­fach ist – man bekommt eine spe­zi­el­le, sehr kon­kre­te Fra­ge und lie­fert eine Spe­zia­lis­ten­ant­wort. Vor­aus­set­zung ist aller­dings, dass die Hil­fe benö­ti­gen­de Sei­te sowohl das Pro­blem beschrei­ben kann als auch weiß, was die Lösung ist und wer die Lösung lie­fern kann. Ein Schü­ler, der ein Pro­blem mit einer Sach­auf­ga­be hat, geht zu sei­nem Leh­rer, weil der ein Spe­zia­list dafür ist. Ein ver­schul­de­ter Mann geht zu einer Schuld­ner­be­ra­tung, um ein Kon­zept für den Umgang mit sei­nen Gläu­bi­gern zu ent­wi­ckeln. Ein Unter­neh­men ruft bei einem IT-Dienst­leis­ter an, um eine neue Buch­hal­tungs­soft­ware zu kau­fen. In all die­sen Fäl­len ist das Pro­blem klar, und der Spe­zia­list kann direkt helfen.

Was ist aber mit Pro­ble­men, bei denen zwar klar ist, dass etwas nicht mehr funk­tio­niert, aber weder klar ist, was eigent­lich das Pro­blem ist, noch, was im kon­kre­ten Fall hel­fen wür­de? Was ist bei­spiels­wei­se mit einem Ope­ra­ti­ons­team, in dem es nach dem Wech­sel des lei­ten­den Chir­ur­gen zu einem Anstieg der Feh­ler­ra­te kommt? Wor­an liegt es, dass eine Soft­ware, nach­dem sie pro­gram­miert wur­de, von den Mit­ar­bei­tern eines Unter­neh­mens geflis­sent­lich igno­riert wird? Was ist, wenn der bereits ange­spro­che­ne Schü­ler mit der Sach­auf­ga­be nicht klar­kommt und sich in der Fol­ge zeigt, dass die Hil­fe, die ihm der Leh­rer ange­dei­hen lässt, nicht bewirkt, dass der Schü­ler mit die­sem Auf­ga­ben­typ bes­ser umge­hen kann? (Zu den drei mög­li­chen Hel­fer­rol­len sie­he Schein 2010.)

In die­sen Fäl­len ist bereits die Ursa­chen­ana­ly­se sehr schwie­rig, geschwei­ge denn zu klä­ren, was hilft und wer ein geeig­ne­ter Hel­fer sein könn­te. In die­sen Fäl­len hilft tat­säch­lich, zunächst in eine Art Pro­zess­klä­rung ein­zu­stei­gen und sich ver­mit­tels einer mög­lichst „nai­ven“, non­di­rek­ti­ven, explo­rie­ren­den Gesprächs­hal­tung ein Bild vom Pro­blem zu machen („Hum­ble Inquiry“). Es wird erst lang­sam klar, was das Pro­blem über­haupt ist. So kann bei­spiels­wei­se deut­lich wer­den, dass sich der neue lei­ten­de Chir­urg kei­ne Zeit genom­men hat, Bezie­hun­gen zu sei­nem Team auf­zu­bau­en. Unter­su­chun­gen bele­gen, dass es bei stei­gen­der Kom­ple­xi­tät von Abläu­fen bei gleich­zei­tig hohem Risi­ko (wie das in Kran­ke­häu­sern und bei Air­lines der Fall ist) vor allem auf die Qua­li­tät der Bezie­hun­gen zwi­schen den Akteu­ren ankommt. Hier­ar­chie­re­du­zie­ren­de Ver­trau­ens­bil­dung bzw. die gefühl­te psy­cho­lo­gi­sche Sicher­heit (Edmond­son 1999) ent­schei­det dar­über, ob eine Schwes­ter den lei­ten­den Arzt auf einen mög­li­chen Feh­ler auf­merk­sam macht oder nicht. Vor­ge­setz­te wer­den zuneh­mend abhän­gi­ger von ihren Mit­ar­bei­tern, und das Aus­maß, wie die Vor­ge­setz­ten die­sen Umstand ver­ste­hen und bei ihren Füh­rungs­hand­lun­gen berück­sich­ti­gen, ist eine – wenn nicht die – ent­schei­den­de Varia­ble, wenn es um die Anpas­sungs- und Lern­fä­hig­keit von Orga­ni­sa­tio­nen geht.

Amy Edmond­son und Edgar Schein wei­sen in ihrem Buch „Team­ing“ dar­auf hin, dass die Zeit der sta­ti­schen Pha­sen­mo­del­le der Team­ent­wick­lung vor­bei ist. Heu­te geht es viel­mehr um ste­tes Ler­nen, um „Team­work on the fly“ beglei­tet von häu­fi­gen Per­so­nal­wech­seln, sich fall­spe­zi­fisch ändern­den Abläu­fen etc. Man hat schlicht kei­ne Zeit mehr, die Team­mit­glie­der ken­nen­zu­ler­nen, son­dern braucht Metho­den, die sowohl Ken­nen­ler­nen und Bezie­hungs­auf­bau als auch Koor­di­na­ti­on gleich­sam „flie­ßend“ ermög­li­chen. Edmond­son nennt die fol­gen­den fünf Aspekte:

Spea­king up: Damit sind eine pro­ak­ti­ve Grund­hal­tung und eine eben­so direk­te wie ehr­li­che Art der Kom­mu­ni­ka­ti­on gemeint. Kon­kret funk­tio­niert das, indem die Akteu­re Fra­gen stel­len, Feh­ler benen­nen und aner­ken­nen, wich­ti­ge The­men anspre­chen und Ideen erläutern.

Expe­ri­men­ting: Damit ist die Ermög­li­chung ite­ra­ti­ver Hand­lungs­mus­ter gemeint. Es geht dar­um, die Unsi­cher­heit und die – bei neu­en Per­so­nen oder schnel­len Ände­run­gen – Unge­wohnt­heit der Inter­ak­tio­nen zwi­schen den betei­lig­ten Per­so­nen anzu­er­ken­nen und bei der Erör­te­rung von Mög­lich­kei­ten und bei der Pla­nung einen gewis­sen Spiel­raum für Ver­such und Irr­tum zuzulassen.

Reflec­ting: Hier geht es zunächst um das Beob­ach­ten von Pro­zes­sen und ihren Ergeb­nis­sen und Wir­kun­gen. Hin­zu kom­men das Hin­ter­fra­gen und Dis­ku­tie­ren der Beob­ach­tun­gen. Wich­tig ist, dass für die­se Refle­xio­nen ein der Tak­tung der Arbeit ange­mes­se­ner Rhyth­mus gefun­den wird. Das kann ein täg­li­ches 15minütiges Team­mee­ting sein, es kann sich auch um ein wöchent­li­ches Tref­fen von andert­halb Stun­den han­deln. Bei weni­ger drän­gen­den Auf­ga­ben mit gerin­ge­rer Kom­mu­ni­ka­ti­ons- und Koope­ra­ti­ons­dich­te kann auch ein monat­li­ches Tref­fen genü­gen. (Lesen Sie auch die­sen Bei­trag über die Gestal­tung effek­ti­ver Besprechungen.)

Lis­tening intent­ly: Gut zuzu­hö­ren ist har­te Arbeit. In die­sem Sin­ne geht es dar­um, mög­lichst viel zu inves­tie­ren, um das Wis­sen, die Erfah­rung, die Ideen und Mei­nun­gen ande­rer Men­schen aus dem Team und vor allem von Ange­hö­ri­gen ande­rer Arbeits­be­rei­che zu verstehen.

Inte­gra­ting: Mit die­sem Punkt ist ein Ansatz gemeint, der ver­sucht, durch Syn­the­se ver­schie­de­ne Fak­ten, Stand­punk­te und Sicht­wei­sen zu inte­grie­ren, um so neue Mög­lich­kei­ten zu schaf­fen. Im Grun­de geht es hier um eine dem so genann­ten Har­vard-Kon­zept der Ver­hand­lungs­füh­rung nicht unähn­li­che Grund­hal­tung bzw. Art der Gesprächsführung.

Anstel­le einer Zusammenfassung

Im Grun­de ist die Pro­zess­ori­en­tie­rung nicht neu. Aber sie erlebt durch die Zunah­me von Kom­ple­xi­tät und Ver­net­zung eine Art Renais­sance. Wenn man die „frei schwe­ben­de Auf­merk­sam­keit“ des Gestalt­ansat­zes, die non­di­rek­ti­ve Gesprächs­hal­tung von Rogers oder den unstruk­tu­rier­ten Beginn klas­si­scher T‑Gruppen betrach­tet, fin­det man genü­gend Ideen und Kon­zep­te, die auf das Ler­nen aus dem Pro­zess her­aus set­zen. Kein ande­rer hat die­ses Kon­zept so gut auf den Punkt gebracht wie Edgar Schein mit sei­nem neu­en Buch „Hum­ble Inquiry“. Letzt­lich geht es dar­in um eine Tech­nik des „Sich-in-den-Pro­zess-kip­pen-Las­sens“, wie ich das in Anleh­nung an Rogers und Schein nennen.

Jörg Hei­dig

Von Jörg Heidig

Jörg Heidig, Jahrgang 1974, nach Abitur und Berufsausbildung in der Arbeit mit Flüchtlingen zunächst in Deutschland und anschließend für mehrere Jahre in Bosnien-Herzegowina tätig, danach Studium der Kommunikationspsychologie, anschließend Projektleiter bei der Internationalen Bauausstellung in Großräschen, seither als beratender Organisationspsychologe, Coach und Supervisor für pädagogische Einrichtungen, soziale Organisationen, Behörden und mittelständische Unternehmen tätig. 2010 Gründung des Beraternetzwerkes Prozesspsychologen. Lehraufträge an der Hochschule der Sächsischen Polizei, der Dresden International University, der TU Dresden sowie der Hochschule Zittau/Görlitz.