Gasmann Klehr
Am 27. Januar vor achtzig Jahren wurde das Konzentrationslager Auschwitz durch die Rote Armee befreit. Befreit wurden nur jene Häftlinge, die nicht auf Todesmärsche nach Groß-Rosen geschickt oder mit Zügen in weiter westlich gelegene Lager abtransportiert worden waren. Die Evakuierung hatte etwa eine Woche vor der Befreiung stattgefunden. In einer Dokumentation aus dem Jahr 1986 von Irmgard von zur Mühlen kann man sich Originalaufnahmen anschauen, die von den sowjetischen Befreiern in den ersten Tagen nach der Befreiung angefertigt worden waren.
Wenn wir an Auschwitz denken, sehen wir vor dem geistigen Auge vielleicht ein Foto von Gleisen, die durch ein Tor in der Mitte eines sehr breiten Gebäudes führen (Birkenau). Wir sehen vielleicht das metallene Tor des Stammlagers Auschwitz mit der bogenförmigen Inschrift „Arbeit macht frei“. Wenn wir dort waren, erinnern wir uns vielleicht an die Backsteinbauten des Stammlagers oder an die entsetzliche Dimension des Lagers Birkenau. Wenn wir an Auschwitz denken, fallen uns vielleicht die ungeheuren Zahlen ein. Vielleicht weiß jemand, dass es vier große Krematorien waren; vielleicht weiß auch jemand, dass die „neue Rampe“ erst spät fertig geworden war, und dass die Vernichtungsmaschinerie erst so richtig anlief, als alles andere schon längst verloren war: Man ermordete im Sommer 1944 mehrere Hunderttausend aus Ungarn stammende Menschen, nur weil sie Juden waren, und nur, weil man das noch konnte, nachdem man wahrscheinlich verstanden hatte, dass man alles andere (den Endsieg vor allem) nicht mehr erreichen konnte.
Auschwitz war ein Loch in der Zivilisation, ein Ort, an dem Dinge möglich wurden, die weit jenseits aller Vorstellungskraft lagen und liegen. Begriffe wie „Tiefpunkt menschlicher Zivilisation“ oder „industrielles Töten“ treffen es nicht. Wer meint, dass Filme wie „Schindlers Liste“ diese Dinge auch nur annähernd abbilden können, liegt falsch. Imre Kertész, Holocaust-Überlebender und Literaturnobelpreisträger, hat den Film einmal als „Holocaust-Kitsch“ bezeichnet. Sich selbst hat er — lange nach der Verleihung des Nobelpreises für sein Buch „Roman eines Schicksallosen“ — in einem Interview mit der ZEIT einmal als „Holocaust-Clown“ bezeichnet.
Solche Bemerkungen mögen auf den ersten Blick nicht besonders verständlich erscheinen. Ich habe lange, sehr lange darüber nachgedacht. Am Ende habe ich wahrscheinlich mehr als ein Vierteljahrhundert gebraucht, um mich einem Verständnis auch nur anzunähern. Der letzte Annäherungsversuch begann im vergangenen Sommer. Ich habe seither einen größeren Teil meiner Freizeit damit verbracht, mir den Frankfurter Auschwitz-Prozess anzuhören. Das sind mehrere hundert Stunden Tonspur, bestehend vor allem aus Vernehmungen von Zeugen, aber auch Anklagen, heftigen Diskussionen zwischen den verschiedenen Beteiligten am Prozess, Einlassungen der Angeklagten, Plädoyers und am Ende Urteilen. Aus all dem Entsetzlichen, was man da zu hören bekommt, ragen drei Namen heraus: Boger, Kaduk und Klehr. Ich will hier nur auf einen der Genannten eingehen, nämlich Klehr.
Josef Klehr war „eigentlich“ ein Sanitätsdienstgrad. Wenn man das Wort „Sanitätsdienstgrad“ hört, sollte man meinen, dass es sich um jemanden handelt, der helfen soll.
Die Jahrestage der Befreiung des Lagers Auschwitz gehen ins Land. Die Zahl der Überlebenden ist sehr klein geworden. Die Namen der Täter verblassen. Doch es gibt Figuren, an die wir uns erinnern müssen. Nicht nur die bekannten SS-Leute, deren Namen in den Geschichtsbüchern stehen (allen voran Höß und Mengele). Sondern auch jene, die weniger bekannt sind, aber das System am Laufen hielten, überhaupt erst möglich machten. Josef Klehr war einer von ihnen, und zwar einer, der Tausende Menschen mit Phenol-Spritzen getötet hatte, der später Leiter des Vergasungskommandos war — und der nach seiner Versetzung in das Nebenlager Gleiwitz eine wundersame Wandlung vollzogen hatte.
Josef Klehr war kein Hitler, kein Himmler. Er war ein Mann aus der zehnten, zwölften Reihe. Kein Denker oder Ideologe, sondern ein Vollstrecker. Ein Teil der Maschinerie von Auschwitz. Ein Mann, der mit eigenen Händen getötet hat.
Er hat mindestens mehrere Hundert, wahrscheinlich mehrere Tausend Menschen mit Phenol-Spritzen ins Herz getötet. Wenn die Leute soweit abgemagert waren, dass sie nicht mehr arbeiten konnten, wurden sie aussortiert und in einen Flur gebracht. Dort mussten sie warten, wurden einzeln hereingeführt, auf einen Stuhl gesetzt, gefragt, woher sie stammen, aufgefordert, sich den linken Arm vor die Augen zu halten und dann mit einer Spritze, in der sich Phenol befand, ermordet. Reihenweise, immer wieder.
Klehr hat selektiert. Nicht auf der Rampe, aber im Häftlingskrankenbau: „Du liegst hier noch mehr als zwei Wochen, also weg.“ Die Selektionen in den Häftlingskrankenbauten haben normalerweise SS-Ärzte vorgenommen, zum Beispiel Dr. Endreß. Aber manchmal hat der Klehr nachselektiert, weil er die Zahl der Selektierten „rund“ machen wollte. Er fand runde Zahlen gut — und hat allein deshalb die Ermordung angeordnet. Er hat aber auch allein selektiert. Einmal zu Weihnachten war Dr. Endreß schon im Urlaub, und die Häftlinge im Krankenbau dachten, dass nun ein paar Tage Ruhe sei — bis Klehr kam, sich auf einen Tisch setzte und die Leute an sich vorbeilaufen ließ und sie selektierte.
Später war Klehr Leiter des Desinfektionskommandos. Eine unscheinbare Bezeichnung für eine Funktion, die den Tod bedeutete. Das Desinfektionskommando war sehr klein, das waren die Leute, welche die Büchsen mit dem Zyklon‑B öffneten und in die dafür vorgesehenen Öffnungen oder Fenster der Gaskammern schütteten. Klehr wusste, wie das Gas funktionierte, wie lange es dauerte, bis die Opfer starben, wann der Raum wieder betretbar war. Im Prozess hat er immer wieder beteuert, er sei nur der Leiter des Kommandos gewesen, er habe die Leute des Kommandos zwar eingeteilt, sei aber selbst nie vor Ort gewesen.
So funktionierte der Tod in Auschwitz. Effizient. Brutal. Methodisch. Der Unterschied zu anderen Entsetzlichkeiten der Menschheitsgeschichte liegt weniger im Ausmaß der Brutalität allein, sondern mehr in der Verbindung der entsetzlichen Brutalität mit Methode und Effizienz — und in der schier unbegreiflichen Selbstverständlichkeit, mit der die Sache von Leuten wie Klehr, Kaduk und Boger ausgeführt wurde.
Das Böse ist flach, hat keinen Tiefgang, ist nur ein oberflächliches Phänomen — diese Erkenntnis Hannah Arendts muss man erst einmal verstehen. Arendt hat das am Beispiel Adolf Eichmanns nachgewiesen. An Klehr, Kaduk und Boger wird es ebenfalls mehr als deutlich. Dennoch bleibt man stumm zurück angesichts all der Entsetzlichkeiten.
Was einen jedoch nicht vom Denken abhalten sollte. Die Geschichte wiederholt sich, aber selten genau so und noch seltener am gleichen Ort.
Später wurde Klehr nach Gleiwitz, einem Außenlager von Auschwitz, versetzt. Dort zeigte er eine andere Seite. Er war für den Häftlingskrankenbau zuständig – und es gibt Zeugenaussagen, dass er sich dort anders verhielt. Weniger brutal. Manchmal sogar hilfreich.
War das Reue? War es Angst vor der Zukunft? Oder war es bloß eine Anpassung an veränderte Umstände?
Ein Besuch seiner Frau mit seinen Kindern könnte eine Rolle gespielt haben, das ist zumindest aus Zeugenaussagen herauszuhören. Jedenfalls veränderte Klehr sein Verhalten deutlich.
Spätestens in dem Prozess in Frankfurt wurde durch viele Zeugenaussagen deutlich, wer Klehr gewesen war, was er getan hatte. Die späte Verwandlung in Gleiwitz konnte die Dimension seiner Verbrechen nicht relativieren. Seine durchaus häufigen und direkten Einlassungen im Prozess deuten ebenfalls darauf hin, dass er es am Ende nicht gewesen sein wollte.
Wer sich selbst ein Bild machen will, höre den Auschwitz-Prozess. Und wer den „späten Klehr“ lange nach dem Prozess sehen will, schaue sich die Interviews mit Klehr und Kaduk in dieser TV-Dokumentation an.
Klehr verkörpert, was Hannah Arendt als Banalität des Bösen bezeichnete. Täter, die nicht aus brennender Ideologie handeln, sondern aus Anpassung. Die Teil eines Systems werden, weil es „Arbeit“ ist – und die dabei entsetzlich sadistisch wurden, weil sie es konnten. Klehr war kein Hitler – aber Menschen wie er machten die massenweise Vernichtung von Menschen möglich.
Wir müssen uns erinnern. Nicht, um uns mit moralischer Selbstgewissheit über die Vergangenheit zu erheben und um die Erinnerung als Moralkeule zu verwenden, sondern damit wir wissen, was möglich ist. Und damit wir so etwas nie wieder zulassen.
Die Inflation der Moralkeule
Es gibt Momente in der politischen Debatte, in denen die Erinnerung an die Vergangenheit nicht als Spiegel dient, sondern als Waffe. Die Diskussion dreht sich dann nicht mehr um Differenzierung, sondern um Zuschreibung. Um Feindbilder, die schnell erkennbar und noch schneller abrufbar sind. In diesen Momenten geht es nicht um Argumente, sondern um das Etikett.
Die Erinnerung an Auschwitz ist nicht verhandelbar. Die systematische Vernichtung von Menschen war ein „Loch“ in der Zivilisation, derart entsetzlich, dass es keine Worte dafür gibt. Gleichzeitig beschränkt sich die Lehre aus der Vergangenheit nicht allein auf den moralischen Imperativ des „Nie wieder“ — sondern auch auf die Frage, wie politische Begriffe verwendet werden.
Der deutsche Bundestag hat gestern über Maßnahmen zur Begrenzung der Migration entschieden. Die CDU hat mit der AfD gestimmt — oder die AfD mit der CDU. Seitdem herrscht politischer Ausnahmezustand. Die Debatte dreht sich aber nicht so sehr um Migration, sondern um Moral. Und genau das ist das Problem.
Die Frage, ob Migration begrenzt werden soll, ist eine legitime politische Frage. Es gibt Argumente dafür und dagegen, sie kann aus humanitären, wirtschaftlichen oder gesellschaftlichen Blickwinkeln betrachtet werden. Doch wenn eine Partei, die jahrzehntelang zum politischen Mainstream gehörte, allein aufgrund einer Abstimmung mit der AfD mit den Nationalsozialisten gleichgesetzt wird, dann geht es nicht mehr um Politik, sondern um symbolische Grenzziehungen. Dann wird nicht mehr diskutiert, sondern verurteilt.
Die Empörung richtet sich nicht allein gegen den Inhalt der Entscheidung, sondern gegen die Tatsache, dass die CDU mit der AfD gestimmt hat. Das ist der eigentliche Bruch. Die CDU, die sich als Teil der „Brandmauer gegen rechts“ verstand, hat diese Mauer eingerissen – nicht, indem sie eine Koalition einging, sondern indem sie in einer Sachfrage mit der AfD stimmte. Der Vorwurf lautet: Wer mit der AfD stimmt, öffnet ihr die Tür zur politischen Normalität. Das ist der Kern der Debatte.
Und doch bleibt die Frage: Bedeutet eine gemeinsame Abstimmung eine inhaltliche Annäherung? Oder wird hier ein Automatismus geschaffen, bei dem jede Entscheidung, die von der AfD geteilt wird, automatisch toxisch wird? Wenn das der Maßstab ist, dann wird Politik zur moralischen Falle: Entweder man stimmt gegen seine eigenen Überzeugungen, oder man wird mit dem Etikett des „Rechtsextremen“ versehen.
Die historische Erfahrung verpflichtet zur Wachsamkeit. Doch sie verpflichtet auch zur Differenzierung. Wer jede migrationskritische Haltung als Vorstufe zum Nationalsozialismus betrachtet, der verwischt die Grenzen zwischen demokratischer Debatte und wirklichem Extremismus. Das ist gefährlich. Nicht nur, weil es den Diskurs verengt, sondern weil es das Verständnis für die reale Gefahr des Extremismus schwächt. Wenn jeder ein Nazi ist, dann ist am Ende niemand mehr ein Nazi.
Die Debatte um Migration muss geführt werden. Aber sie muss geführt werden, ohne dass Begriffe wie „Nazi“ zur bloßen politischen Waffe werden. Wer sich erinnern und handeln will, muss die Vergangenheit ernst nehmen. Und die Gegenwart ebenso.