Wahrheit wirkt auf den ersten Blick wie ein klares Konzept: Aussagen sind entweder wahr oder falsch. Doch sobald man dahinter schaut, wird deutlich, dass der Begriff der „Wahrheit“ eben gar nicht so klar ist, wie es zunächst anmuten mag.
Logik hilft uns dabei, Aussagen aus anderen Aussagen abzuleiten. Sie gibt uns Regeln vor, wie wir von einem Gedanken zum nächsten kommen. Sie zieht Linien, die Ordnung versprechen. Aber Logik allein beantwortet nicht, welche Aussagen wir als „wahr“ annehmen können. Die Logik sagt uns zum Beispiel nicht, wo wir beginnen können, welcher der erste wahre Satz sei, oder wo wir aufhören können, was also die (vorläufig) geltende Schlussfolgerung oder Regel o.ä. sei.
Wo können wir anfangen? Wo sollen wir aufhören?
Manche nennen das „letzte Wahrheiten“ — eine Grundlage, unabhängig von uns, ewig gültig. Aber solche Wahrheiten gibt es nicht. Sie sind ein Hirngespinst.
Wahrheit entsteht, wenn wir einer Behauptung folgen, weil sie uns überzeugt, weil sie uns leitet. Behaupten, begründen, widerlegen – nichts davon hat einen Sinn an und für sich. Alles zielt darauf ab, Handeln zu beeinflussen. Ich behaupte etwas, und was ich will, ist, dass Sie es glauben. Ich begründe es, um Sie zu überzeugen. Ich widerlege etwas, um Sie von etwas abzuhalten.
Was ich sage, hat immer einen Zweck. Die Funktion dessen, was ich sage, liegt in der Reaktion des Gegenübers. Letztendlich geht es um Zustimmung.
Es gibt keinen zweckfreien Austausch, keine Gespräche über „die Welt, wie sie wirklich ist“. Alles, was gesagt wird, geschieht in einem Rahmen: im praktischen Leben. Beim Handeln geht es immer um die Frage: Wozu?
Politische Gespräche sind da keine Ausnahme. Wahrheit hängt an der Praxis, an den Dingen, die wir tun.
Ein Verständnis von Politik, das von „letzten Wahrheiten“ ausgeht oder zu „letzten Wahrheiten“ führt – also universell gültigen, menschenunabhängigen Sätzen – scheint dieses Problem scheinbar zu umgehen. Doch es gibt keine solchen „letzten Wahrheiten“, auf die wir uns endgültig stützen könnten.
Wahrheit ergibt sich keineswegs aus irgendeiner „objektiven“ Gültigkeit, sondern aus ihrer Funktion im Handlungszusammenhang. Behauptungen sollen Handlungen leiten und Orientierung geben.
Damit ein Gespräch über eine Sache überhaupt möglich wird, braucht es einen gemeinsamen Rahmen. Dieser Rahmen entsteht durch eine geteilte Praxis – durch bereits erarbeitete, zustimmungsfähige Grundlagen, auf die sich die (ehemaligen) Beteiligten verständigen konnten. „Erste Sätze“, also Startpunkte eines Gespräches oder einer Betrachtung, stehen nie allein. Sie müssen sich auf vorherige Praxis, zustimmungsfähige Aussagen, Entscheidungen, Normen o.ä. stützen.
Wahrheit erscheint damit weniger eine feste Größe als vielmehr ein Prozess zu sein.
Wahrheit entsteht in der Interaktion, in der Verständigung und in ihrer Relevanz für unser Handeln. „Alte“ Wahrheiten verlieren ihre Kraft, wenn „neue“ Sätze zustimmungsfähiger werden. Insofern handelt es sich immer um ein Ringen um die Wahrheit.
Vielleicht leben wir in einer Zeit, in der dieses Ringen umso deutlicher und spürbarer wird.
Wahrheit mäandert bisweilen, ändert sich mit der Zeit, bewegt sich wie ein Pendel. Bedingt durch die Zeit kehrt das Pendel aber nie an die selbe Stelle zurück, weshalb die Beschwörung „alter Zeiten“ zwar rhetorisch wirksam sein kann, sich aber nie tatsächlich in der Wirklichkeit niederschlagen wird. Geschichte wiederholt sich, aber nie genau so, und selten am gleichen Ort.
Wir machen etwas, und es ist in einer bestimmten Zeit erfolgreich. Wenn der Erfolg eine Weile bleibt, werden diese Dinge erst zur Gewohnheit und dann zur Selbstverständlichkeit. Ändern sich die Umstände, schauen wir uns verwundert um — und verteidigen die Gewohnheiten und die damit verbundenen Werte und Glaubenssätze.
Hält die Veränderungsdynamik an, wundern wir uns weiter, wie sich ein Teil von uns langsam vom scheinbar Selbstverständlichen abwendet. Konflikte entstehen, vielleicht kommt es zu einer regelrechten „Spaltung der Welt“. Die alten Selbstverständlichkeiten gegen die neuen Dynamiken. Keiner weiß, was kommt. Die Laune wird schlechter, Untergangsszenarien werden beschworen, neue Thesen werden formuliert.
Klar kann das gefährlich sein. Ein Blick in die Geschichte beweist, dass wir auch an den Gasmann glauben und erst spät oder gar nicht aufwachen können. Geschichte wiederholt sich wie gesagt, aber nie so, wie sie gewesen ist, sondern eben unter neuen Vorzeichen. Wenn eine jeweilige alte Wahrheit nicht mehr zustimmungsfähig ist, bedeutet das nicht, dass die behauptete neue Wahrheit besser ist. Die Summe der Probleme bleibt vermutlich gleich.
Wer weiß schon, ob die Sache „umkippt“? Und wenn die Sache „umkippt“ — können Sie ahnen, ob dann das (bisweilen tatsächlich, bisweilen rhetorisch) befürchtete Maximalszenario (#niewiederistjetzt) eintritt?
Die letztere Frage ist sicher spitz, zu spitz vielleicht. Nicht wenige Kritiker werden mir spätestens jetzt die Nähe zu einer bestimmten Partei unterstellen. Aber damit liegen sie falsch. Ich beschreibe hier keine politische Position, darum geht es mir nicht. Ich versuche, eine kommunikative Wechselwirkung zu beschreiben, einen Teufelskreis aus Belehrung und Reaktanz.
Natürlich scheint zwischen diesen Zeilen auch meine eigene politische Position auf. Aber diese liegt nicht auf einer der hier in Rede stehenden Seiten. Wer mich kennt, weiß, dass ich einen nicht geringen Teil meines Berufslebens in der Migrationsarbeit verbracht habe und bisweilen auch noch verbringe. Aber ich habe eben auch gesehen, wie Idealismus an Grenzen gerät, zu falschen Ansätzen führt. Und ja, ich halte die „Willkommenskultur“ für einen ebenso naiven wie arroganten Zug heutiger („zeitgeistiger“, linker) Selbstvergewisserung. Der Spruch „Wir schaffen das“ der ehemaligen Kanzlerin sagt mehr über die ehemalige Kanzlerin (sinngemäß nach James Hawes: eine Mischung aus protestantischem Pfarrhaus und deutscher Befindlichkeit), als dass er eine vernünftige Antwort auf die migrantische Frage gewesen wäre.
Der seither herrschende „Migrationsidealismus“ geht nicht nur an der Realität der deutschen Integrationskapazitäten (wir lassen viele schlicht am langen Arm der Bürokratie verhungern) vorbei, sondern verschließt auch willentlich und wissend die Augen vor den Problemen, die damit einhergehen. Man darf eben nicht besprechen, dass es kulturelle, sprachbarrierenbedingte, bürokratische oder sonstwelche strukturelle Probleme gibt. Man muss es immer unter dem Vorzeichen gelingender Transformation und Inklusion betrachten. Das stimmt natürlich so nicht. Man darf schon. Und man muss nicht. Aber dann bekommt man eben Ärger mit der Belehrsamkeit.
Mein Rat an die Belehrsamen: Einfach ein paar Jahre diese Arbeit machen. Einfach konkret werden, anstatt zu tönen und zu dröhnen. Über gute Integrationsarbeit soll man nicht reden, gute Integrationsarbeit muss man machen. Wenn man redet, nachdem man diese Arbeit gemacht hat, ok. Aber nur weil eine Bekenntnisfahne am Rathaus hängt, ist noch niemandem geholfen. Gelingende Integration und tatsächliche Chancengleichheit sind viel schwieriger und dauern viel länger, als man sich das in manchen Berliner Büros vorstellen kann oder will.
Wenn sich dann aber Skepsis ob der Realisierbarkeit des Programms breitmacht, und man auf diese Skepsis nur mit Belehrung reagiert, dann passiert was? Genau: Auf der Straße stehen schon welche, die das schon immer falsch fanden. Und jetzt kommen auch ein paar dazu, die sonst nichts gesagt hätten, aber denen es reicht. Und die laden dann auch noch die gerade erst zur Skepsis Gekommenen ein. Und was ist die Antwort? Man dürfe sich auf der Straße nicht mit diesen und jenen gemein machen. Und: Rettet die Demokratie! Der Demokratie selbst ist es aber erst einmal egal, ob der Bundeskanzler grün oder gelb oder rot oder blau ist. In der Demokratie geht es zunächst einmal um Mehrheiten.
Alles, was ich hier sagen will, ist: Der Erfolg der Rechten hat auch und besonders mit der sturen Rechthaberei auf der linken Seite zu tun. Ein simples „Wir haben falsch gelegen, tut uns Leid, wir ändern das.“ hätte vor Jahren bei vielen Themen noch gereicht. Aber nein, kein Wort, und schon gar keine Handlungen. Das Ergebnis? Wir schauen zu, wie die Wahrscheinlichkeit wächst, dass ein wachsender Teil der Menschen auf autoritäre Disruption setzt, weil die Protagonisten jener autoritären Disruption in den Augen eines wachsenden Teils der Wählerschaft die einzigen Akteure bleiben, denen zugetraut wird, tatsächlich etwas zu ändern. Und: So eine Wählerschaft schaut mehrheitlich nicht zuerst auf die Bekenntnisfahnen, der größere Teil der Wählerschaft schaut zuerst ins Portemonnaie und fragt sich, wie sicher der Arbeitsplatz ist. Und da hat sich die noch amtierende Bundesregierung ja nun wirklich nicht mit Ruhm bekleckert.
Wenn der Frust über das — von vielen als autoritär und belehrend empfundene — „progressive Programm“ weiter wächst, dann wächst die Zustimmung zur autoritären Disruption auch aus der Ablehnung der Zumutungen des progressiven Programms heraus weiter — und erreicht Mehrheiten nicht allein aufgrund der Zustimmung zu jener „disruptiven Autorität“, sondern quasi durch die Ablehnung der Zumutungen des als autoritär empfundenen „progressiven Programms“.
Im Prinzip, so könnte man entgegnen, sind beide Programme „disruptiv“ — am Ende würde die Welt nach der Implementierung sowohl des einen als auch des anderen Programms anders aussehen als vorher. Nur dass die sich für progressiv haltenden Kräfte kaum verstehen, dass sie in ihrer Belehrsamkeit und mit ihrer von Idealismus getriebenen Geschwindigkeit die Gegenreaktion befeuern und damit einen wesentlichen Beitrag zu deren Erstarkung leisten. Die besten Wahlkämpfer für eine bestimmte Partei sitzen nicht in den Büros dieser Partei, sondern haben führende Positionen in einer ganz anderen Partei inne.
Ein Mittelweg, letztlich also eine Annäherung an das andere Programm, scheint ausgeschlossen — indem man davon ausgeht, dass die „Brandmauer“ etwas ist, das auch der größere Teil des Wahlvolkes für richtig hält. Natürlich kann das sein, wenn man davon ausgeht, dass, wer bspw. CDU wählt, auch die „Brandmauer“ wählt. Das trifft sicher auf einen Teil der Wählerschaft zu. Auf einen anderen Teil wird allerdings zutreffen, dass weder die Brandmauer noch ein Bekenntnis, sondern die „wahrscheinlich bessere Zukunft“ oder wenigstens das „geringere Übel“ gewählt wird. Und wenn ein größerer Teil der Wählerschaft wie gesagt erstmal ins Portemonnaie schaut, und wenn die „wahrscheinlich bessere Zukunft“ immer weniger mit den Parteien, die das vermeintlich progressive Transformationsprogramm verfolgen, assoziiert wird, nun, was passiert dann?
Wir können nur weiter um die Wahrheit ringen. In einer Demokratie wird die Sache normalerweise durch Zustimmung geregelt — es geht, wie gesagt, zunächst und vor allem um Mehrheiten. Im schlimmsten Fall kann es natürlich passieren, dass die Zustimmung zum herrschenden Mechanismus so weit zurückgeht, dass alternative Ordnungsvorstellungen zustimmungsfähiger werden. Das wollen die meisten sicher nicht.
Aber wie könnte man das nennen, wenn die Notwendigkeit des eigenen transformationalen Programms mit der Verhinderung des schlimmsten anzunehmenden Falls begründet wird? Und ist das dann wirklich so viel besser als die oft als populistisch bezeichnete Rezeptur der anderen Seite?
So ein Wahlvolk besteht normalerweise mehrheitlich aus Menschen, die ihren Kopf benutzen können, wenn sie wollen. Was Sie denken, und wen Sie wählen, ist Ihre Sache. Ich will nicht belehrt werden, und ich muss Sie auch nicht belehren. Ich sage, was ich denke, und was Sie sich denken, ist ganz und gar Ihre Sache.
Bei dem, was ich hier zu beschreiben versucht habe, handelt es sich, wie gesagt, um einen Teufelskreis aus Belehrung und Reaktanz. Weil ein wachsender Teil der Bevölkerung den gegenwärtig herrschenden Mainstream ablehnt, wächst die Zustimmung zum Gegenentwurf. Am Ende einer langen Dynamik könnten die Protagonisten des Gegenentwurfes als die einzigen erscheinen, die wirklich etwas ändern würden (so oder so ähnlich muss das zumindest in Amerika zugegangen sein).
Ich höre schon die Widerworte: Durch solche Argumentationen werde genau ermöglicht, dass die Gegenentwürfe populärer würden. Dabei handelt es sich aber um einen Irrtum: Was hier beschrieben wird, ist nur ein Bild von der Lage und der Dynamik in der Gesellschaft. Dieses Bild wird in diesem Text hoffentlich soweit ausgeführt, als dass klar wird, wie ich zu diesem Bild gekommen bin — wie Sie darauf reagieren, ob Sie ggf. nachdenken, ggf. zustimmen oder diese Perspektive vehement ablehnen, bleibt Ihnen überlassen.
Einstweilen bleibt wahr, was zustimmungsfähig ist. Wenn die Sache „kippt“, kommen wir langfristig vielleicht in eine Lage, in der Wahrheit wieder „angeordnet“ werden könnte. Dem entgegen steht das momentan nicht seltene Empfinden, dass auch bereits jetzt Wahrheit „angeordnet“ wird.
Fazit: Ob wir das „Umkippen“ verhindern, indem wir weiter belehren, oder ob wir die Sache anders gestalten könnten, indem wir die Impulse, die hinter dem Protest stecken, in ihrer Substanz anerkennen (bspw. dass die „Willkommenskultur“ übertrieben war), ist eine der drängendsten Fragen der Gegenwart — und vermutlich die Frage, an der sich das Schicksal der nächsten Bundesregierung und möglicherweise auch der Zukunft des Zusammenhalts der EU entscheiden wird.
PS: Das Beitragsbild wurde mit Hilfe künstlicher Intelligenz erstellt.