Nähe und Distanz in der Beratungsbeziehung

Jede Bera­tung ist ein Balan­ce­akt. Zwi­schen Nähe und Distanz. Zwi­schen Ver­trau­en und pro­fes­sio­nel­ler Klar­heit. Zwi­schen Unter­stüt­zung und der Gefahr, Ver­ant­wor­tung zu stehlen.

Wer berät, beglei­tet Men­schen in einer schwie­ri­gen Pha­se. Das kann emo­tio­nal sein, inten­siv, bewe­gend. Doch es darf nicht das wer­den, was man „pri­vat“ nennt. Die pro­fes­sio­nel­le Distanz ist nicht nur eine Schutz­maß­nah­me für die bera­ten­de Sei­te, son­dern auch eine Not­wen­dig­keit für die Klientenseite.

Was pas­siert, wenn die­se Gren­zen verschwimmen?

Die Span­nung zwi­schen Nähe und Distanz

Ohne eine gewis­se Nähe ent­steht kein Ver­trau­en. Die Ant­wort auf die Fra­ge, wie sich Men­schen öff­nen, lau­tet: durch Inter­es­se. Wenn ich Fra­gen stel­le, aktiv zuhö­re, zusam­men­fas­se, dann signa­li­sie­re ich damit Inter­es­se und hel­fe mei­nem Gegen­über, sei­ne oder ihre Situa­ti­on zu ver­ste­hen. Dabei kommt es mehr auf mei­ne Hal­tung als auf die Tech­nik an, die ich ver­wen­de, denn das Gegen­über macht sich, wenn es sich öff­net, auch ver­letz­lich. Das bedeu­tet für die bera­ten­de Sei­te eine Ver­ant­wor­tung, wert­schät­zend, ehr­lich und hilf­reich zu sein.

Ohne ein Min­dest­maß an Ver­trau­en gibt es kein hilf­rei­ches Gespräch. Doch wenn die Nähe zu groß wird, kann sie die Arbeits­be­zie­hung ver­fäl­schen. Die bera­ten­de Sei­te wird dann nicht mehr als pro­fes­sio­nel­le Unter­stüt­zung wahr­ge­nom­men, son­dern als etwas ande­res: als Freund, als Ver­trau­ter, manch­mal sogar als Ersatz für eine feh­len­de Bezugs­per­son. Pro­fes­sio­nel­le Bera­tung ist aber kein Fami­li­en- oder Part­ner­er­satz, auch kein Freundesersatz.

Ein Bei­spiel:

Ein Kli­ent ver­liebt sich in sei­ne Bera­te­rin. Die Gesprä­che, die ursprüng­lich eine pro­fes­sio­nel­le Unter­stüt­zung sein soll­ten, wer­den emo­tio­nal auf­ge­la­den. Plötz­lich geht es nicht mehr nur um Lösun­gen für ein Pro­blem, son­dern um eine per­sön­li­che Ver­bin­dung — die so nicht vor­ge­se­hen ist. Wenn das pas­siert, ist eine kla­re Ent­schei­dung erfor­der­lich. Eine Grenz­über­schrei­tung darf nicht „ein­fach so pas­sie­ren“ — mit einer sol­chen Situa­ti­on muss aktiv umge­gan­gen wer­den. Je nach Lage kann es auch sein, dass die Zusam­men­ar­beit been­det wer­den muss.

Mög­lich­keit 1:
1. die Gefüh­le ernst neh­men und das Gegen­über nicht durch eine zu schrof­fe Zurück­wei­sung ver­let­zen
2. wert­schät­zend und sehr klar for­mu­lie­ren, dass die Gefüh­le kei­ne Erwi­de­rung fin­den wer­den
3. eine drit­te Per­son hin­zu­zie­hen, die Situa­ti­on trans­pa­rent machen und (ggf. nach Ein­zel­ge­sprä­chen der drit­ten Per­son mit bei­den Betei­lig­ten) klä­ren, wie es weitergeht

In bestimm­ten Situa­tio­nen kann es hilf­reich sein, die Ent­ste­hung der Emo­tio­nen zu reflek­tie­ren und im wei­te­ren Bera­tungs­ver­lauf zu nut­zen. Das wäre aller­dings nicht mehr unbe­dingt eine bera­te­ri­sche, son­dern unter bestimm­ten Umstän­den schon eine the­ra­peu­ti­sche Vor­ge­hens­wei­se, die so z.B. in vie­len Jugend­hilf­e­set­tings nicht vor­ge­se­hen ist.

Mög­lich­keit 2:
1. Bera­ter- oder Hel­fer­wech­sel oder
2. im Extrem­fall: Been­di­gung der Hilfe.

Das gilt nicht nur für roman­ti­sche Gefüh­le. Auch emo­tio­na­le Über­iden­ti­fi­ka­ti­on, über­mä­ßi­ge Für­sor­ge oder das Gefühl, für das Leben des Kli­en­ten ver­ant­wort­lich zu sein, sind For­men der Nähe, die eine pro­fes­sio­nel­le Bezie­hung gefähr­den können.

Ein wei­te­res Beispiel: 

Beson­ders sicht­bar wird die­ses Pro­blem in der Arbeit mit Geflüch­te­ten. Am Anfang sind sie völ­lig auf Hil­fe ange­wie­sen – sie ver­ste­hen die Spra­che nicht, ken­nen die Behör­den nicht, sie wis­sen nicht, wie das Sys­tem funk­tio­niert. Hel­fer müs­sen aktiv wer­den, müs­sen beglei­ten, erklä­ren, unterstützen.

Doch irgend­wann kommt ein Punkt, an dem die Kli­en­ten­sei­te selbst Ver­ant­wor­tung über­neh­men kann – und soll­te. Doch hier beginnt das Problem.

Die Hel­fer­sei­te hat sich viel­leicht an die akti­ve Rol­le und die mit­un­ter gro­ße Dank­bar­keit gewöhnt.

Die Kli­en­ten­sei­te hat sich an die Unter­stüt­zung gewöhnt und ist in gewis­ser Wei­se davon abhän­gig geblie­ben. Am Anfang war die Kli­en­ten­sei­te ja tat­säch­lich von der Akti­vi­tät der Bera­ter­sei­te abhän­gig, aber dann wur­de viel­leicht der Moment ver­passt, das zu ändern. Es ist immer schwer, die­sen Moment zu erken­nen. Oft erkennt man ihn erst im Nach­hin­ein. Und oft wird es der Hel­fer­sei­te so vor­kom­men, die Kli­en­ten nun „weg­zu­sto­ßen“, was mit nega­ti­ven Gefüh­len ein­her­ge­hen kann.

Falls die Kli­en­ten­sei­te von der Unter­stüt­zung „abhän­gig“ geblie­ben ist und sich die­se Abhän­gig­keit mit der Zeit viel­leicht sogar ver­stärkt hat, und falls die Hel­fer­sei­te die Dank­bar­keit der Kli­en­ten­sei­te „braucht“, ist man sogar „gegen­sei­tig abhän­gig“ gewor­den. Dank­bar­keit ist manch­mal „Hel­fers Opium“.

Falls es soweit gekom­men ist, ist oft genug die Fol­ge: Die Kli­en­ten­sei­te for­dert wei­ter­hin Hil­fe, obwohl sie nicht mehr in glei­chem Maß benö­tigt wird. Die Hel­fer­sei­te fühlt sich ggf. aus­ge­nutzt, ärgert sich, zieht sich zurück. Die Kli­en­ten­sei­te reagiert ggf. ent­täuscht, in man­chen Fäl­len sogar for­dernd. Frus­tra­ti­on entsteht.

Und plötz­lich ist da kei­ne pro­fes­sio­nel­le Bezie­hung mehr, son­dern ent­steht eine emo­tio­na­le Schief­la­ge: Ent­täu­schung, Wut, Missverständnisse.

Die­ses Mus­ter kann in vie­len hel­fen­den Bezie­hun­gen auf­tre­ten. Wer zu lan­ge die Ver­ant­wor­tung der Kli­en­ten­sei­te über­nimmt, nimmt den Kli­en­tin­nen oder Kli­en­ten die Mög­lich­keit, selbst zu wach­sen. Das ist wie gesagt die zen­tra­le Gefahr: Ver­ant­wor­tung zu stehlen.

Nimm nie­man­dem die Ver­ant­wor­tung für sein eige­nes Leben ab.

Do not ste­al respon­si­bi­li­ty. Begründ­ba­re Aus­nah­men: (1) Die Kli­en­ten­sei­te muss erst ler­nen, Ver­ant­wor­tung für sich selbst zu über­neh­men. Dann muss man aber den besag­ten Punkt erken­nen, was schwer ist. (2) Ein Gericht hat die Ver­ant­wor­tungs­über­nah­me ange­ord­net. Dafür gibt es stren­ge Vor­aus­set­zun­gen und Regeln.

Das bedeu­tet im Klar­text:
1. Nicht akti­ver sein als die Kli­en­ten­sei­te. Wer mehr Ener­gie in die Lösung des Pro­blems steckt als die rat­su­chen­de Sei­te selbst, läuft Gefahr, sich zu ver­ren­nen — spä­tes­tens ab dem Zeit­punkt, ab dem es bes­ser wäre, von „direk­ter Hil­fe“ auf „Hil­fe zur Selbst­hil­fe“ umzu­schal­ten. Die­sen Zeit­punkt zu erken­nen, ist aber, wie gesagt, sehr schwer. Man erkennt Gren­zen in der Regel erst dann, wenn man „dran“ oder „drü­ber hin­aus“ ist.
2. Die eige­nen Gren­zen ken­nen. Unter­stüt­zung darf nicht zur Dau­er­be­glei­tung wer­den.
3. Nicht emo­tio­nal ver­strickt sein. Wer vor allem aus eige­nem Antrieb hel­fen will, wird blind für das, was wirk­lich gebraucht wird. Es gibt genug Men­schen, die wäh­rend ihrer Kind­heit gelernt haben, dass sie nicht genug sind. Die­ses Gefühl, nicht genug zu sein, wird im Erwach­se­nen­le­ben zu einem star­ken Antrieb. Man möch­te bes­ser oder erfolg­rei­cher oder schlicht rei­cher oder mäch­ti­ger sein als ande­re. Man möch­te einen Unter­schied machen. Eine Spiel­art die­ses Zugs kann der Hel­fer­be­ruf sein. Dann zäh­len nicht Sta­tus oder Kon­to­stand, son­dern dann zählt Dank­bar­keit. Aber man ist nie genug. Aus die­sem „nie genug“ resul­tiert die Moti­va­ti­on, bes­ser sein zu wol­len, hilf­rei­cher sein zu wol­len; gleich­zei­tig ist das „nie genug“ die Ursa­che für die Wahr­neh­mung, dass es doch noch nicht gereicht hat. Antrieb — Frus­tra­ti­ons­an­lass — neu­er Antrieb — das kann zum Teu­fels­kreis werden.

Wie funk­tio­niert das praktisch?

Es geht dar­um, ver­mit­tels Fra­gen und akti­vem Zuhö­ren etwas her­zu­stel­len, das man „Nähe ohne Ver­ein­nah­mung“ nen­nen könn­te. Es geht immer um eine Art Balance.

Ver­ge­gen­wär­ti­gen wir uns das ein­mal an fol­gen­der Aus­sa­ge: „Selbst wenn Du jeman­den liebst, kannst Du ihm doch nicht hel­fen.“ Dazu muss man sich ent­we­der Krank­hei­ten oder tief lie­gen­de, unver­än­der­li­che Per­sön­lich­keits­zü­ge vor­stel­len. Man sieht, wie die Per­son lei­det, aber man kann nichts ändern. Man kann da sein, für­sorg­lich sein, man kann reden, aber ändern kann man nichts. Das ist eine oft gleich­zei­tig tie­fe, bit­te­re, trau­ri­ge, kla­re und erleich­tern­de Erkennt­nis in einem. Die gelieb­te Per­son ist schwer krank. Ich kann da sein. Ich kann machen, trös­ten … und so wei­ter. Aber ich kann es nicht ändern. Ich kann nicht „direkt hel­fen“. Damit muss ich leben.

Es geht, wie gesagt, immer um eine Art Balan­ce.

Ich kann nichts ändern. Ich blei­be selt­sam außen vor. Es ist nicht mein Leben.

Mein Gegen­über in einer hel­fen­den Bezie­hung meint nicht mich per­sön­lich, son­dern befin­det sich in einem Ent­wick­lungs­pro­zess. Mit der Hand­lung bin nicht ich gemeint, son­dern die Hand­lung ergibt sich aus dem Ent­wick­lungs- oder Bewältigungszusammenhang.

Natür­lich hat das Gren­zen, zunächst sicher­heits­be­zo­ge­ne: Eigen­si­che­rung hat immer Vor­rang. Ich soll nichts aus­hal­ten, was mich bedroht. Dann belas­tungs­be­zo­ge­ne: Es gibt Situa­tio­nen, in denen ich viel aus­zu­hal­ten habe. Im pro­fes­sio­nel­len Kon­text kann es auch zu viel werden.

Die belas­tungs­be­zo­ge­nen Gren­zen gibt es aber nicht nur für mich, son­dern auch für die Klientenseite.

Eine der wich­tigs­ten Metho­den, um die Balan­ce zu hal­ten, ist akti­ves Zuhö­ren, das zu „Nähe ohne Ver­ein­nah­mung“ führt — und bei dem ich „selt­sam außen vor“ blei­be. Eini­ge Bei­spie­le dafür, was das praktisch/methodisch bedeu­tet:
- Zusam­men­fas­sen: „Wenn ich Sie rich­tig ver­ste­he, dann geht es dar­um, dass…“
- Offe­ne Fra­gen stel­len: „Was wür­den Sie selbst als nächs­te Schrit­te sehen?“
- Objek­tiv blei­ben: Kei­ne eige­nen Gefüh­le oder Mei­nun­gen in den Mit­tel­punkt stellen.

Die Gren­ze als Entscheidung

Distanz ist nicht Käl­te. Nähe ist nicht Ver­mi­schung. Eine pro­fes­sio­nel­le Bezie­hung braucht bei­des: Nähe und Distanz — und kla­re Ent­schei­dun­gen dar­über, wo die Linie verläuft.

Wer berät, muss sich immer wie­der fra­gen:
- Hel­fe ich gera­de oder neh­me ich dem ande­ren die Ver­ant­wor­tung ab?
- Bin ich noch pro­fes­sio­nell oder schon per­sön­lich ver­strickt?
- Habe ich bewusst ent­schie­den, Nähe zuzu­las­sen – oder ist sie ein­fach passiert?

Eine gute Bera­tungs­be­zie­hung ist kein zufäl­li­ger Pro­zess. Sie ist ein bewusst gestal­te­ter Raum. Ein Raum, der Nähe ermög­licht, aber Distanz wahrt. Ein Raum, der hilft, aber nicht übernimmt.

Ein Raum, in dem Ver­ant­wor­tung immer dort bleibt, wo sie hingehört.

Jörg Hei­dig

Von Jörg Heidig

Dr. Jörg Heidig, Jahrgang 1974, ist Organisationspsychologe, spezialisiert vor allem auf Einsatzorganisationen (Feuerwehr: www.feuerwehrcoach.org, Rettungsdienst, Polizei) und weitere Organisationsformen, die unter 24-Stunden-Bedingungen funktionieren müssen (bspw. Pflegeheime, viele Fabriken). Er war mehrere Jahre im Auslandseinsatz auf dem Balkan und hat Ende der 90er Jahre in Görlitz bei Herbert Bock (https://de.wikipedia.org/wiki/Herbert_Bock) Kommunikationspsychologie studiert. Er schreibt regelmäßig über seine Arbeit (www.prozesspsychologen.de/blog/) und hat eine Reihe von Büchern veröffentlicht, darunter u.a. "Gesprächsführung im Jobcenter" oder "Die Kultur der Hinterfragung: Die Dekadenz unserer Kommunikation und ihre Folgen" (gemeinsam mit Dr. Benjamin Zips: www.kulturderhinterfragung.de). Dr. Heidig lebt in der Lausitz und begleitet den Strukturwandel in seiner Heimat gemeinsam mit Stefan Bischoff von MAS Partners (www.mas-partners.de) mit dem Lausitz-Monitor, einer regelmäßig stattfindenden Bevölkerungsbefragung (www.lausitz-monitor.de). In jüngster Zeit hat Jörg Heidig gemeinsam mit Viktoria Klemm und ihrem Team im Landkreis Görlitz einen Jugendhilfe-Träger aufgebaut. Dr. Heidig spricht neben seiner Muttersprache fließend Englisch und Serbokroatisch sowie Russisch. Er ist häufig an der Landesfeuerwehrschule des Freistaates Sachsen in Nardt tätig und hat viele Jahre Vorlesungen und Seminare an verschiedenen Universitäten und Hochschulen gehalten, darunter an der Hochschule der Sächsischen Polizei und an der Dresden International University (https://www.di-uni.de/studium-weiterbildung/kommunikationspsychologie-1). Sie erreichen Dr. Heidig unter der Rufnummer 0174 68 55 023.