Die ersten 100 Tage als Führungskraft

Wenn man aus einer Mit­ar­bei­ter­po­si­ti­on in eine Füh­rungs­po­si­ti­on wech­selt, steht man vor einer Her­aus­for­de­rung: Der Wech­sel an und für sich ist schnell voll­zo­gen. Man heißt jetzt bspw. Team­lei­ter. Aber wirk­lich zu einer Füh­rungs­kraft zu wer­den, ist ein Pro­zess — man heißt zwar schon so, aber man wird es erst langsam.

Und wenn man schon Füh­rungs­er­fah­rung hat und in eine neue Füh­rungs­rol­le wech­selt, kann man zwar auf Erfah­run­gen zurück­bli­cken, ist aber den­noch mit einer neu­en Auf­ga­be, einem neu­en Team usw. konfrontiert.

So oder so kommt es fast auto­ma­tisch zu einem gewis­sen Erwar­tungs­druck: Es wird von einem erwar­tet zu gestal­ten, Ent­schei­dun­gen zu tref­fen, im Bedarfs­fall Rich­tung geben. Und man erwar­tet von sich selbst zu gestal­ten, Ent­schei­dun­gen zu tref­fen, im Bedarfs­fall Rich­tung geben — hat aber im Zwei­fels­fall noch wenig tat­säch­li­che Ahnung, muss sich erst ein­ar­bei­ten, hin­ein­den­ken, Bezie­hun­gen auf­bau­en, Kom­pe­tenz und Fein­ge­fühl ent­wi­ckeln. Vie­le Ent­schei­dun­gen wol­len „wohl­tem­pe­riert“ sein — im beson­de­ren sol­che, die nicht zwin­gend und sofort auf „Gegen­lie­be“ stoßen.

Das not­wen­di­ge Fein­ge­fühl zu erlan­gen geht in den meis­ten Fäl­len nicht schnell, son­dern dau­ert sei­ne Zeit. Vie­le, die in eine neue Rol­le kom­men, glau­ben jedoch mit­un­ter, dass man gleich zu Beginn deut­lich machen müs­se, „wo es lang­geht“. Was wie Ent­schlos­sen­heit aus­se­hen soll, ist in der Rea­li­tät oft nur eine zu frü­he Ant­wort auf die logi­scher­wei­se mit der Über­nah­me der neu­en Rol­le ein­her­ge­hen­den Unsi­cher­heit — und damit in der Rea­li­tät ein oft genug all­zu ris­kan­ter Schritt.

Teams (genau­so wie nach­ge­ord­ne­te Füh­rungs­kräf­te im Fal­le einer höhe­ren Füh­rungs­po­si­ti­on) beob­ach­ten neue Füh­rungs­kräf­te sehr genau. Sie prü­fen, ob die neue Füh­rungs­kraft zuhört, ob sie oder er ver­steht, wie die Din­ge bis­her lie­fen, ob er oder sie ein­schät­zen kann, was funk­tio­niert und was nicht.

Die ers­ten 100 Tage sind des­halb in der Regel kei­ne Pha­se der schnel­len Ein­grif­fe, son­dern eine Pha­se des gegen­sei­ti­gen Beob­ach­tens und Ken­nen­ler­nens. Die Füh­rungs­kraft lernt Rou­ti­nen, Struk­tu­ren und Men­schen ken­nen – und das Team bil­det sich ein Urteil über die Führungskraft.

Wer in die­ser Zeit zu früh ent­schei­det oder zu forsch ein­greift, läuft Gefahr, gegen infor­mel­le Struk­tu­ren und Gewohn­hei­ten anzu­ren­nen, die man nir­gends auf­ge­schrie­ben fin­det, die aber im All­tag unaus­ge­spro­chen wirk­sam (= selbst­ver­ständ­lich) sind. Sol­che Fehl­starts füh­ren sel­ten zu offe­nem Wider­stand, son­dern zu Vor­sicht, Abwar­ten, stil­ler Distan­zie­rung. Sie kön­nen Mona­te spä­ter Wir­kung zei­gen – oft dann, wenn es eigent­lich schon zu spät ist.

In die­sem Text geht es dar­um, sich mit den ers­ten 100 Tagen genau­er zu beschäf­ti­gen, und zwar nicht im Sin­ne einer „Gestal­tungs-“ oder gar „Durch­set­zungs­pha­se“, son­dern im Sin­ne einer „Lern-“ oder „Ver­trau­ens­pha­se“. Wer in den ers­ten 100 Tagen Ver­trau­en auf­baut, schafft die Grund­la­ge für trag­fä­hi­ge Füh­rung. Wer sie über­springt, muss spä­ter um jede Ent­schei­dung kämpfen.

Die drei Phasen des Vertrauensaufbaus als Führungskraft

Ver­trau­en ent­steht nicht „irgend­wie auf ein­mal“. Im Grun­de ver­läuft der Ver­trau­ens­auf­bau in drei Pha­sen, wobei Füh­rungs­kräf­te die unmit­tel­ba­re Pha­se 1 wenig bis kaum beein­flus­sen kön­nen, dafür in Pha­se 2 umso mehr Gestal­tungs­spiel­raum und Hand­lungs­mög­lich­kei­ten haben. Pha­se 3 ist eine eher mit­tel- bis lang­fris­ti­ge Her­aus­for­de­rung, und da geht es im Beson­de­ren um die Ver­läss­lich­keit des Han­delns der Führungskraft.

Erste Phase: Grundsympathie – das schnelle Zutrauen

Am Anfang steht eine spon­ta­ne Reak­ti­on: jemand kommt zur Tür her­ein, und wir fin­den sie oder ihn sym­pa­thisch – oder nicht. Die­se kurz­fris­ti­ge Sym­pa­thie ent­steht durch Ähn­lich­keit, Habi­tus, Aus­strah­lung. Die Ent­ste­hung die­ser „Grund­sym­pa­thie“ ist nicht steu­er­bar. Nie­mand kann sich in der Füh­rungs­rol­le so ver­stel­len, dass sie oder er jedem oder jeder gefällt. Der Ver­such, über akti­ves Ein­drucks­ma­nage­ment die Grund­sym­pa­thie zu beein­flus­sen, ist inef­fek­tiv. Des­halb soll­te man sich in die­ser ers­ten Pha­se nicht ver­zet­teln. Sie ist da, aber sie ist kein akti­ver Hebel für Führung.

Natür­lich soll­te man sich bemü­hen, in die­ser ers­ten Pha­se kei­ne all­zu gro­ßen Feh­ler zu bege­hen, nach dem Mot­to: Was man am Anfang nicht falsch macht, kann einem spä­ter nicht auf die Füße fal­len. Man kann sich bspw. schon fra­gen, wel­cher Zwirn bei einem ers­ten Ken­nen­ler­nen zweck­dien­lich ist. Zudem kann man ver­mei­den, all­zu selbst­dar­stel­le­risch auf­zu­tre­ten, also bspw. zu lan­ge über sich selbst zu spre­chen. Es kommt natür­lich immer auf die Situa­ti­on, den Rah­men, den Anlass, die Bran­che usw. an. Beschei­den­heit kann in bestimm­ten Bran­chen zu bestimm­ten Anläs­sen fehl am Platz sein. Demut kann unter bestimm­ten Umstän­den wie Hilf­lo­sig­keit wir­ken. Aber in den meis­ten Fäl­len sind Inter­es­se am Gegen­über sowie eine gewis­se Zurück­hal­tung sicher hilfreich.

Zweite Phase: Echtes Interesse – die Phase der Öffnung

Die zwei­te Pha­se ist die ent­schei­den­de, und es ist die Pha­se, die man als (neue) Füh­rungs­kraft mit der eige­nen Hal­tung und den eige­nen Hand­lun­gen tat­säch­lich gestal­ten kann. Ver­trau­en ent­steht durch ech­tes Inter­es­se. Wenn man Men­schen ech­tes Inter­es­se ent­ge­gen­bringt, öff­nen sie sich wahr­schein­lich auch. Das Inter­es­se soll­te dem Gegen­über aber nicht nur als Tech­nik (Fra­gen stel­len), son­dern auch als ech­te Hal­tung (Inter­es­se am Gegen­über, Inter­es­se an Men­schen gene­rell) ent­ge­gen­ge­bracht werden.

Inter­es­sie­re ich mich tat­säch­lich für Menschen?

Die­se Fra­ge macht deut­lich, war­um man­che Men­schen mit hoher Fach­ex­per­ti­se nicht zwin­gend die bes­ten Füh­rungs­kräf­te sind — ich kann von etwas wirk­lich Ahnung haben, und die­se Fach­ex­per­ti­se macht mich viel­leicht zum schein­bar bes­ten Kan­di­da­ten für eine Füh­rungs­po­si­ti­on, aber wenn es auf die­ser Füh­rungs­po­si­ti­on wirk­lich etwas zu füh­ren gibt, es also letzt­lich um die Aus­rich­tung und Koor­di­na­ti­on hof­fent­lich moti­vier­ter Hand­lun­gen von Men­schen geht, dann ist die Fach­ex­per­ti­se in der Regel sekundär.

Will ich mei­ne Mit­ar­bei­te­rin­nen und Mit­ar­bei­ter wirk­lich ver­ste­hen? Habe ich wirk­lich Inter­es­se an ihnen? Fal­len mir Fra­gen ein, auf die ich die Ant­wort noch nicht kenne?

Selbst Men­schen, die zunächst abwei­send reagie­ren, kön­nen sich gegen wie­der­hol­tes, ernst gemein­tes Inter­es­se kaum dau­er­haft ver­schlie­ßen. Wer ehr­lich fragt, zuhört und dran­bleibt, trifft irgend­wann, ggf. nach wie­der­hol­ten Inter­es­sen­be­kun­dun­gen, auf offe­ne Türen. Es geht dar­um, eine gewis­se „wohl­mei­nen­de Hart­nä­ckig­keit“ zu ent­wi­ckeln, die — mit Geduld und guter Lau­ne ein­her­kom­mend — tat­säch­li­ches Inter­es­se signalisiert.

Es gibt natür­lich Aus­nah­men: Man­che Men­schen hal­ten ihre „Türen“ bewusst geschlos­sen — oft auf­grund lan­ger Kon­flikt­ge­schich­ten mit frü­he­ren Vor­ge­setz­ten oder der Orga­ni­sa­ti­on ins­ge­samt. Natür­lich gibt es Men­schen, die ihre Bin­dung an die Orga­ni­sa­ti­on ver­lo­ren oder ande­re Grün­de haben, sich nicht zu öff­nen. Viel­leicht hat sich ein gewis­ses Miss­trau­en ver­fes­tigt, viel­leicht ist die Bezie­hung zwi­schen der betref­fen­den Per­son und der Orga­ni­sa­ti­on dau­er­haft beschä­digt, viel­leicht sind alte Kämp­fe noch nicht aus­ge­tra­gen, viel­leicht gibt es Pro­ble­me im pri­va­ten Bereich. Aber selbst dann gilt: Ech­tes Inter­es­se wirkt, wenn auch lang­sa­mer. Wer wirk­lich dran­bleibt, erreicht in vie­len Fäl­len mit der Zeit eine Öffnung.

Letzt­lich ent­schei­det aber immer das Gegen­über, ob es sich öff­net. Wer die Tür dau­er­haft zuhal­ten will, hält sie zu; wie­der­hol­tes Inter­es­se ent­ge­gen­zu­brin­gen (und das ohne Vor­ur­tei­le) lie­fert im Zwei­fels­fall den Beweis, den es braucht, um im ein­zel­nen Bedarfs­fall ggf. eine här­te­re Gang­art ein­zu­le­gen. Das ist kei­nes­wegs der „erwünsch­te Fall“, manch­mal aber notwendig.

Am Ende gilt der Grund­satz: Hart in der Sache, weich zu den Menschen.

Wenn „weich zu den Men­schen“ nach gedul­di­gen, Inter­es­se zei­gen­den, an Lösun­gen inter­es­sier­ten, freund­li­chen, jeden­falls mehr­fach ehr­lich wie­der­hol­ten Bekun­dun­gen nichts bringt, nun, dann bleibt nur noch der Weg, in der Sache „hart“ zu bleiben.

Ab da geht es aber nicht mehr um authen­ti­sche und ehr­li­che, son­dern um gleich­sam stra­te­gi­sche und ent­spre­chend ver­deck­te Kom­mu­ni­ka­ti­on. Wenn man jedoch die Lage so angeht, wie hier beschrie­ben, dann bleibt der „stra­te­gi­sche“ Fall mit „har­ten“ (= for­ma­len bis for­ma­lis­ti­schen) Vor­ge­hens­wei­sen ver­gleichs­wei­se selten.

Dritte Phase: Verlässlichkeit – das langfristige Vertrauen

Die drit­te Pha­se der Ver­trau­ens­bil­dung ent­steht erst über die Zeit. Es geht um das Ver­trau­en in die Ver­läss­lich­keit des Han­delns der — zunächst neu­en und spä­ter nicht mehr so neu­en — Füh­rungs­kraft. Die Team­mit­glie­der (wahl­wei­se die nach­ge­ord­ne­ten Füh­rungs­kräf­te) beob­ach­ten, ob die Füh­rungs­kraft hin­ter ihnen steht, ob sie ehr­lich ist, ob sie tut, was sie sagt – und zwar auch dann, wenn nie­mand zuschaut oder wenn gar Gegen­wind droht. Man beob­ach­tet sehr genau, ob die Füh­rungs­kraft „nach oben“ wie „nach unten“ die­sel­be Spra­che spricht.

Die­ses Ver­trau­en ent­steht nicht in Wochen. Nach sechs Mona­ten kann sich eine gewis­se Ahnung bil­den. Ein gefes­tig­tes Urteil ent­steht oft erst nach zwölf oder mehr Mona­ten gemein­sa­mer Arbeit. Man muss alles, was in den Arbeits­ab­läu­fen gesche­hen kann, ein­mal „durch“ haben. Dann zeigt sich, ob man als Füh­rungs­kraft wirk­lich ver­läss­lich ist.

Wäh­rend der ers­ten 100 Tage bewegt man sich als Füh­rungs­kraft vor allem in Pha­se 2; Pha­se 1 ist sehr kurz und kaum zu beein­flus­sen, und Pha­se 3 beginnt zwar wäh­rend der ers­ten 100 Tage, dau­ert aber über den Hori­zont von 100 Tagen an. Inso­fern ist nach 100 Tagen nicht alles getan, was getan wer­den muss. Aber die ers­ten 100 Tage sind die wich­tigs­te Phase.

Hilfreiche Prinzipien

Haltung statt Aktionismus

Wer neu in eine Füh­rungs­rol­le kommt, spürt oft den Druck, schnell und klug zu han­deln. Aber man ist in der Regel nicht schnell klug. Man kann höchs­tens schnell Feh­ler machen. Die ers­ten 100 Tage sind kei­ne Pha­se für schnel­le Ent­schei­dun­gen, son­dern für auf­merk­sa­mes Beob­ach­ten, Inter­es­se und Ver­ste­hen. Muss man den­noch schnel­le Ent­schei­dun­gen tref­fen, ist man gut bera­ten, die­se Ent­schei­dun­gen nicht allein zu tref­fen. Man soll­te erst ver­ste­hen, wie Rou­ti­nen bis­her funk­tio­niert haben, und nach­voll­zie­hen, wie Ent­schei­dun­gen bis­her getrof­fen wur­den. Man soll­te ler­nen, was die Men­schen im Bereich für gut hal­ten und was sie als pro­ble­ma­tisch emp­fin­den. Und vor allem soll­te man ver­ste­hen, wel­che Erwar­tun­gen die Mit­ar­bei­te­rin­nen und Mit­ar­bei­ter an die neue Füh­rungs­kraft haben. Erst danach, nach etwa 100 Tagen, kann man lang­sam anfan­gen, eige­ne Erwar­tun­gen an ande­re zu for­mu­lie­ren. „Wir leben in einer Kul­tur des Mit­tei­lens und Machens“, hat Edgar Schein ein­mal gesagt – und damit gemeint, dass Füh­rungs­kräf­te der all­zu schnel­len Erwar­tung, etwas zu tun oder eben zu sagen, wo es lang­ge­hen soll, eine Hal­tung ech­ten Inter­es­ses ent­ge­gen­set­zen können.

Entscheidungen möglichst nicht im Alleingang treffen, sondern Beteiligung bewusst gestalten

Die­se bewuss­te Hal­tung schafft Klar­heit, ohne Aktio­nis­mus zu insze­nie­ren. Sie signa­li­siert: Ich höre zu. Ich neh­me ernst, was hier gewach­sen ist. Und ich ent­schei­de nicht im luft­lee­ren Raum. Wer so vor­geht, legt in den ers­ten 100 Tagen die Grund­la­ge für spä­te­re Füh­rungs­au­tori­tät. Nicht durch Druck oder schnel­le Maß­nah­men, son­dern durch ruhi­ge Prä­senz, ech­tes Zuhö­ren und geziel­tes Beobachten.

Ein häu­fi­ger Feh­ler neu­er Füh­rungs­kräf­te besteht dar­in, Ent­schei­dun­gen mit dem Satz zu begrün­den: „Ich bin jetzt die Füh­rungs­kraft – und des­halb wird das so gemacht.“ Das klingt ent­schlos­sen, ist aber in Wahr­heit ein Zei­chen von Unsi­cher­heit. Sou­ve­rä­ni­tät zeigt sich nicht in Laut­stär­ke oder Ansa­ge, son­dern im Umgang mit Ent­schei­dun­gen und vor allem durch Kompetenz.

In der Regel ist es nicht rat­sam, am Anfang Ent­schei­dun­gen zu tref­fen, ohne die Kol­le­gin­nen und Kol­le­gen zu betei­li­gen. Natür­lich gibt es Situa­tio­nen, in denen schnel­le Ent­schei­dun­gen not­wen­dig sind. Dann muss man sie tref­fen – und hof­fent­lich ver­fügt man über die nöti­ge Kom­pe­tenz. In den meis­ten Fäl­len aber geht es nicht um Sekun­den­ent­schei­dun­gen wie im Feu­er­wehr­ein­satz. Im Gegen­teil: Wer neu in ein Sys­tem kommt, soll­te erst eine Wei­le „mit­lau­fen“, um es wirk­lich zu ver­ste­hen, bevor er selbst die Lei­tung über­nimmt. Schnel­le, schlecht infor­mier­te Ent­schei­dun­gen füh­ren sonst leicht zu Rei­bungs­ver­lus­ten oder Fehl­steue­run­gen, die sich ver­mei­den las­sen. Betei­li­gung bedeu­tet nicht, immer alles mit­be­stim­men zu las­sen. Es geht um die rich­ti­ge „Betei­li­gungs­tie­fe“ und um den rich­ti­gen Zeit­punkt:
1. Bei grund­le­gen­den Ver­än­de­run­gen: Betei­li­gung früh­zei­tig suchen.
2. Bei ope­ra­ti­ven Fra­gen: erst zuhö­ren, dann ent­schei­den.
3. Bei aku­ten Situa­tio­nen: han­deln, aber auch trans­pa­rent machen, warum.

Widerspruch ernst nehmen, aber nicht um jeden Preis

Wenn man als Füh­rungs­kraft auf Skep­sis oder gar Wider­stand trifft, soll­te man das ernst neh­men und Inter­es­se zei­gen. Skep­sis und Wider­stand kön­nen wich­ti­ge Infor­ma­ti­ons­quel­len sein und im Zwei­fels­fall hel­fen, das eige­ne Han­deln zu ver­bes­sern. Aber Vor­sicht: Skep­sis und Wider­stand kön­nen drei Quel­len haben bzw. aus drei Hal­tun­gen resul­tie­ren:
1. Man ist begrün­det ande­rer Mei­nung und äußert das. Dann lässt sich in der Regel durch Nach­fra­gen ein gewis­ser Dia­log her­stel­len. In den meis­ten Fäl­len kann man sich eini­gen, weil alle Betei­lig­ten mit ihren Handlungen/Bedenken auf ein gemein­sa­mes Ziel ein­zah­len wol­len.
2. Man „tes­tet“ die neue Füh­rungs­kraft. Man­che Kol­le­gin­nen oder Kol­le­gen wol­len wis­sen, „was an der neu­en Füh­rungs­kraft dran ist“ — und tes­ten durch ihr Ver­hal­ten die Füh­rungs­kraft. Sie hin­ter­fra­gen etwas oder hal­ten dage­gen, nur um zu sehen, ob das neue Gegen­über sou­ve­rän reagiert. Nicht dage­gen­hal­ten, son­dern nach­fra­gen — wei­ter nach­fra­gen, kon­kre­ti­sie­rend nach­fra­gen, soweit das mög­lich ist; die ent­spre­chen­den Sicht­wei­sen ein­be­zie­hen, sofern sie kom­pe­tent erschei­nen und der Sache die­nen. Und Gren­zen set­zen, wo man merkt, dass die Nach­fra­gen kei­ne neu­en Infor­ma­tio­nen mehr brin­gen und also nicht mehr hilf­reich sind.
3. Man ist „grund­sätz­lich dage­gen“. Hier hat man es als neue Füh­rungs­kraft in der Regel mit Phä­no­me­nen zu tun, die man nicht selbst ver­ur­sacht, son­dern „geerbt“ hat. Kaum ein Mensch steht mor­gens auf und fragt sich, wie er sich heu­te am bes­ten „quer­stel­len“ kann. Die aller­meis­ten Men­schen wol­len nur in Ruhe arbei­ten oder sich — den Mög­lich­kei­ten ent­spre­chend — ein­brin­gen. Han­delt jemand den­noch „que­ru­lan­tisch“, hat dies oft eine Geschich­te. Hier gilt es, zunächst vor­ur­teils­arm her­an­zu­ge­hen. Durch das oft als „que­ru­lan­tisch“ emp­fun­de­ne skep­ti­sche oder blo­cka­de­haf­te Ver­hal­ten ent­ste­hen aber oft Mei­nun­gen (und spä­ter gewis­se „vor­weg­ge­nom­me­ne“ Ein­stel­lun­gen) auf­sei­ten der neu­en Füh­rungs­kraft. Las­sen Sie die ent­ste­hen­den Mei­nun­gen erst­mal weg und zei­gen Sie vor­ur­teils­frei­es Inter­es­se. So man­ches que­ru­lan­ti­sches Ver­hal­ten ver­schwin­det durch Inter­es­se und ech­ten Dia­log mit der Zeit. Druck ver­stärkt das betref­fen­de Ver­hal­ten hin­ge­gen nur.

Bleibt das Ver­hal­ten trotz wie­der­hol­ter ernst­ge­mein­ter Ver­su­che sta­bil, dann bleibt im Zwei­fels­fall nur eine gewis­se Eska­la­ti­on bis hin zu „fes­te­ren“ Mit­ar­bei­ter­ge­sprä­chen oder zu Aus­spra­chen mit höhe­ren Ebe­nen. Wie so ein Eska­la­ti­ons­mo­dell aus­se­hen kann, bespre­chen wir in einem der nächs­ten Beiträge.

Ein Bei­spiel für die Fra­ge, wann „Inter­es­se“ als Hal­tung nicht mehr aus­reicht und man zu „fes­te­ren“ Metho­den grei­fen soll­te:
Wenn fest­ge­legt ist, dass bei einer Schicht­über­ga­be alle Anwe­sen­den das Über­ga­be­pro­to­koll unter­schrei­ben, und das Team eigen­mäch­tig ent­schei­det, das nicht zu tun, ist das kein Kava­liers­de­likt. Dann führt man zunächst Ein­zel­ge­sprä­che – und wenn sich das ent­spre­chen­de Ver­hal­ten nicht ändert, macht man sei­ne Erwar­tun­gen noch ein­mal deut­lich. Bleibt auch das ohne Wir­kung, führt man eine Aus­spra­che im gesam­ten Team durch. Ggf. wie­der­holt man die­se Aus­spra­che noch ein­mal unter Hin­zu­zie­hung vor­ge­setz­ter Ebe­nen oder einer exter­nen Mode­ra­ti­on bzw. Super­vi­si­on. Bleibt auch das ohne Wir­kung, greift man zur nächst­hö­he­ren Eska­la­ti­ons­ebe­ne – for­ma­le Schrit­te, Abmah­nung, oder was das jewei­li­ge Sys­tem vor­sieht. Denn eine getrof­fe­ne Anord­nung ein­fach zu igno­rie­ren, ist kein Dis­kus­si­ons­punkt, son­dern ein Regelbruch.

Es geht dar­um, sou­ve­rän zu handeln. 

Sou­ve­rä­ni­tät heißt: Klar­heit in der Kom­mu­ni­ka­ti­on, Kon­se­quenz im Han­deln. Weich zu den Men­schen, hart in der Sache. Auto­ri­tät ent­steht dabei kei­nes­wegs dadurch, dass man Füh­rungs­kraft ist. Auto­ri­tät ent­steht dadurch, wie Ent­schei­dun­gen getrof­fen, kom­mu­ni­ziert und durch­ge­setzt wer­den. Wer Betei­li­gung ermög­licht, Ent­schei­dun­gen begrün­det und bei Regel­ver­stö­ßen kon­se­quent han­delt, führt sou­ve­rän. Wer sich hin­ge­gen hin­ter der Posi­ti­on ver­steckt, erzeugt eher Trotz oder ver­deck­te Abwehr.

Führen aus der „letzten Position“: Kompetenzbeweis vor Führungsanspruch

Wenn man als neue und zudem jun­ge Füh­rungs­kraft ein Team oder einen Bereich über­nimmt, in dem vor allem erfah­re­ne­re und/oder dienst­äl­te­re Per­so­nen arbei­ten, ist es rat­sam, aus der so genann­ten „letz­ten Posi­ti­on“ her­aus zu füh­ren. Ein Bei­spiel: Ein rela­tiv jun­ger Arzt über­nimmt als neu­er Chef­arzt eine Kli­nik und soll Ober­ärz­tin­nen und ‑ärz­te füh­ren, die im Schnitt deut­lich mehr Berufs­jah­re hin­ter sich haben als er. Fach­lich und füh­rungs­be­zo­gen bringt er Kom­pe­ten­zen mit – sonst hät­te er die Posi­ti­on nicht bekom­men. Aber er kann nicht ein­fach am ers­ten Tag sagen: „Ich bin jetzt der neue Chef, und ab mor­gen läuft alles anders.“ Wer das ver­sucht, ver­liert schnell. 

Aus der „letz­ten Posi­ti­on“ her­aus zu füh­ren, bedeu­tet, die – zunächst ja im Hin­blick auf die Erfah­rungs­jah­re vor­han­de­ne, gewis­ser­ma­ßen „jüngs­te“ und, was die Zuge­hö­rig­keit zum Bereich betrifft, „letz­te“ Posi­ti­on anzuerkennen. 

Punkt.

Es geht dar­um, sich das zu vergegenwärtigen. 

Wie wür­de es Ihnen gehen, wenn Ihnen ein viel­leicht hoch spe­zia­li­sier­ter, aber deut­lich jün­ge­rer Mensch „vor­ge­setzt“ wird? Reicht die Behaup­tung, dass sie oder er eine Kory­phäe ist, oder müss­te Ihnen die betref­fen­de Per­son das beweisen? 

Genau um die Art und Wei­se die­ses „Bewei­ses“ geht es. Die Behaup­tung reicht nicht. Und der Umstand, dass jemand die Füh­rungs­po­si­ti­on erhal­ten hat, reicht auch nicht. Es geht dar­um, wie die Per­son han­delt. Hört sie zu? Respek­tiert sie Erfahrungen? 

Kom­pe­tenz sieht man erst mit der Zeit, weil es sich bei Kom­pe­tenz um die Fähig­keit han­delt, zwi­schen Wis­sen und Pra­xis eine trag­fä­hi­ge Ver­bin­dung her­zu­stel­len. Es kann ja sein, dass ich das Zeug habe, eine Füh­rungs­po­si­ti­on aus­zu­fül­len. Aber allein die Behaup­tung, die Abschlüs­se oder der Umstand, dass ich die Posi­ti­on habe, rei­chen dafür nicht aus. Einen Kom­pe­tenz­be­weis erbrin­ge ich, indem ich mich selbst nicht zu wich­tig neh­me, zuhö­re, nach­fra­ge, ande­re in Ent­schei­dun­gen ein­be­zie­he, mei­ne Ent­schei­dun­gen begrün­de, hin­ter mei­nen Leu­ten ste­he, Feh­ler zuge­be usw. 

Kom­pe­tenz kann man in den eige­nen Augen für sich selbst haben; ob man sie als Füh­rungs­kraft besitzt, ergibt sich aber im Blick der anderen.

Auch in die­sem Fall geht es zunächst dar­um, Ver­trau­en auf­zu­bau­en. Erst wenn ein gewis­ses Ver­trau­en da ist, wenn klar ist, dass die getrof­fe­nen Ent­schei­dun­gen fach­lich soli­de und nach­voll­zieh­bar sind, ent­steht auch die Bereit­schaft, ihnen zu fol­gen – spä­ter auch im Fal­le unbe­que­mer Ent­schei­dun­gen. Die­ses Zutrau­en ent­steht nicht über Nacht. Bis ein Team wirk­lich dar­auf ver­traut, dass Ent­schei­dun­gen kom­pe­tent getrof­fen wer­den, ver­ge­hen oft Mona­te. Erst dann beginnt die Pha­se, in der man auch in schwie­ri­gen Situa­tio­nen füh­ren kann, ohne alles immer wie­der neu begrün­den zu müssen. 

Aus der letz­ten Posi­ti­on zu füh­ren bedeu­tet nicht, pas­siv zu sein. Es bedeu­tet, die Rei­hen­fol­ge rich­tig zu set­zen: erst Ver­trau­en auf­bau­en und für die Wahr­neh­mung der eige­nen Kom­pe­tenz sor­gen – dann führen. 

Wer die­sen Weg geht, wird sich im neu­en Kol­le­gen­kreis zunächst „unter­schätzt“ füh­len. Aber wer die­sen Weg geht, baut ein Fun­da­ment, das spä­ter trägt. Wer hin­ge­gen ver­sucht, feh­len­des Ver­trau­en mit Ansa­gen zu erset­zen, erzeugt Wider­stand – offen oder ver­deckt — und hat spä­ter umso mehr zu kämp­fen — und zwar im buch­stäb­li­chen Sinne.

Vertrauen ist nicht „nice to have“, sondern Fundament

Ver­trau­en ist kein „net­ter Blu­men­strauß“, nach dem Mot­to: Schön, dass man dran gedacht hat. 

Ver­trau­en ist nichts, das man spä­ter irgend­wann nach­ho­len kann. 

Ver­trau­en ist das Fun­da­ment, auf dem die meis­ten trag­fä­hi­gen Füh­rungs­be­zie­hun­gen ste­hen. Man hat Ver­trau­en geschaf­fen oder nicht.

Es sei denn, man hät­te es, wie vor allem in der Poli­tik, aber auch in man­chen Kon­zer­nen oder ande­ren, vor allem gro­ßen Orga­ni­sa­tio­nen, mit den Fol­gen eines gewis­sen „Macht-Pokers“ zu tun, bei dem kei­ne Sei­te „mäch­tig genug“ ist. Dann schlös­se man einen „Deal“ und lie­ße sich gegen­sei­tig in Ruhe, aber das wür­de im Zwei­fels­fall immer „diplo­ma­ti­schen Auf­wand“ und „Unsi­cher­heit“ bzw. immer wie­der neue Ver­hand­lun­gen bedeuten.

Bei­spiel: Ein Arzt, des­sen Spe­zia­li­sie­run­gen und Ermäch­ti­gun­gen eben­so sel­ten wie teu­er sind, kann sich im Zwei­fel mehr her­aus­neh­men, als für ein sta­bi­les Orga­ni­sa­ti­ons­kli­ma gut ist. Die Geschäfts­lei­tung macht mit ihm (oder nicht mit ihm, son­dern nur mit sich selbst) einen Deal, von den eigent­lich gel­ten­den Erwar­tun­gen abzu­wei­chen — und nimmt die deut­lich erhöh­te Fluk­tua­ti­on in Kauf, um ihn nicht zu verlieren. 

Was hier gesagt wird, ist also kei­nes­wegs all­ge­mein­gül­tig, son­dern hat Gren­zen, bspw. durch gesetz­li­che oder betriebs­wirt­schaft­li­che Belan­ge. Aber es ist auch nicht nur „nice to have“, weil es eben einen Unter­schied macht — und in Zukunft immer stär­ker einen Unter­schied machen wird, zumin­dest in bestimm­ten Bran­chen. Wenn es die „Kory­phäe“ der­art über­treibt, dass nie­mand mehr kommt, dann nutzt auch der fach­li­che Sta­tus nichts. Es ist also immer eine Fra­ge der „Wohl­tem­pe­riert­heit“.

Die ers­ten 100 Tage sind dabei die Pha­se, in der ein gewis­ses Fun­da­ment gelegt wird. Wer die­se Zeit nutzt, gewinnt lang­fris­tig Hand­lungs­spiel­räu­me. Wer sie über­geht, zahlt spä­ter mit Rei­bung, Distanz oder Widerstand.

Die ent­schei­den­den Hebel in die­ser Pha­se sind nicht Stra­te­gie-Work­shops, neue Regeln oder Umstruk­tu­rie­run­gen, son­dern Inter­es­se, Beob­ach­tung und Klar­heit.
1. Inter­es­se öff­net Türen.
2. Beob­ach­tung schützt vor Fehl­grif­fen.
3. Klar­heit schafft Verlässlichkeit.

Auto­ri­tät ent­steht nicht durch Posi­ti­on oder Laut­stär­ke, son­dern durch die Art, wie man Ent­schei­dun­gen vor­be­rei­tet, kom­mu­ni­ziert und kon­se­quent umsetzt. Und bei jun­gen Füh­rungs­kräf­ten gilt beson­ders: Erst Kom­pe­tenz zei­gen und zum Vor­bild wer­den, dann füh­ren — was dau­ern und die Geduld stra­pa­zie­ren kann, letz­te­res oft über das Maß der heu­te „nor­ma­len“ Erwar­tun­gen hinaus.

Ver­trau­en braucht Zeit. Es ent­steht lei­se und lang­sam. Wer die­sen Pro­zess ver­steht und respek­tiert, führt wirk­sa­mer – nicht, weil er „lau­ter“ oder „bes­ser“ ist, son­dern weil er sei­ne Haus­auf­ga­ben gemacht und Geduld hat.

Jörg Hei­dig

Von Jörg Heidig

Dr. Jörg Heidig, Jahrgang 1974, ist Organisationspsychologe, spezialisiert vor allem auf Einsatzorganisationen (Feuerwehr: www.feuerwehrcoach.org, Rettungsdienst, Polizei) und weitere Organisationsformen, die unter 24-Stunden-Bedingungen funktionieren müssen (bspw. Krankenhäuser, Pflegeheime, viele Fabriken). Er war mehrere Jahre im Auslandseinsatz auf dem Balkan und hat Ende der 90er Jahre in Görlitz bei Herbert Bock (https://de.wikipedia.org/wiki/Herbert_Bock) Kommunikationspsychologie studiert. Er schreibt regelmäßig über seine Arbeit (www.prozesspsychologen.de/blog/) und hat eine Reihe von Büchern veröffentlicht, darunter u.a. "Gesprächsführung im Jobcenter" oder "Die Kultur der Hinterfragung: Die Dekadenz unserer Kommunikation und ihre Folgen" (gemeinsam mit Dr. Benjamin Zips: www.kulturderhinterfragung.de). Dr. Heidig lebt in der Lausitz und begleitet den Strukturwandel in seiner Heimat gemeinsam mit Stefan Bischoff von MAS Partners mit dem Lausitz-Monitor, einer regelmäßig stattfindenden Bevölkerungsbefragung (www.lausitz-monitor.de). In jüngster Zeit hat Jörg Heidig gemeinsam mit Viktoria Klemm und ihrem Team im Landkreis Görlitz einen Jugendhilfe-Träger aufgebaut. Dr. Heidig spricht neben seiner Muttersprache fließend Englisch und Serbokroatisch sowie etwas Russisch. Er ist häufig an der Landesfeuerwehrschule des Freistaates Sachsen in Nardt tätig und hat viele Jahre Vorlesungen und Seminare an verschiedenen Universitäten und Hochschulen gehalten, darunter an der Hochschule der Sächsischen Polizei und an der Dresden International University. Sie erreichen Dr. Heidig unter der Rufnummer 0174 68 55 023 sowie per Mail unter heidig@prozesspsychologen.de.