Stressmanagement bei der Führung von Einsatzkräften

Stress ist bei Ein­satz­kräf­ten unver­meid­bar. Wie aber gehen aus der Sicht von Füh­rungs­kräf­ten ein bewuss­ter Umgang mit Stress auf der einen Sei­te und die Siche­rung der Ein­satz­stär­ke auf der ande­ren Sei­te zusammen?

In die­sem Bei­trag geht es weni­ger um eine Defi­ni­ti­on von Stress und den Umgang damit aus einer eher indi­vi­du­el­len Sicht. Die­se Din­ge kann man in einem älte­ren Bei­trag auf die­sem Blog nach­le­sen. Hier geht es mehr um prak­ti­sche Fra­gen des Umgangs mit Stress aus der Sicht von Füh­rungs­kräf­ten in Ein­satz­or­ga­ni­sa­tio­nen (v.a. Poli­zei; in Tei­len betref­fen die Dar­stel­lun­gen auch den Ret­tungs­dienst und die Feuerwehr).

Der fol­gen­de Text ist eine Zusam­men­fas­sung eines Teils mei­ner Vor­le­sung zum The­ma Stress­ma­nage­ment an der Hoch­schu­le der Säch­si­schen Polizei.

Eine wich­ti­ge Fähig­keit für den Umgang mit Stress in der Pra­xis: Bin ich in der Lage, in stres­si­gen Situa­tio­nen aus Emo­tio­nen Gedan­ken wer­den zu lassen?

Eine grund­le­gen­de Fra­ge des prak­ti­schen Umgangs mit Stress ist, ob ich in der Lage bin, mich bewusst mit mei­ner aktu­el­len Situa­ti­on und dem ggf. gera­de vor­han­de­nen Stress­le­vel aus­ein­an­der­zu­set­zen. Ste­he ich näm­lich gera­de unter Stress, nei­ge ich ggf. zu „auto­ma­ti­sier­ten“ Ver­hal­tens­wei­sen und bin weni­ger in der Lage, bewusst zu handeln.

Der Unter­schied zwi­schen auto­ma­ti­sier­tem Ver­hal­ten und bewuss­ten Hand­lun­gen ist fol­gen­der: Wie bei allen ande­ren Säu­ge­tie­ren, ist unser Ver­hal­ten zunächst von Emo­tio­nen abhän­gig. Emo­tio­nen sind so etwas wie „Situa­ti­ons­be­wer­tun­gen“: Ich neh­me etwas wahr und „bewer­te“ es anhand von Emo­tio­nen — und ver­hal­te mich ent­spre­chend. Bleibt es bei einer direkt auf die Emo­ti­on fol­gen­den Emo­ti­on, fin­det die­ser Pro­zess unab­hän­gig vom Bewusst­sein statt. Ich ver­hal­te mich.

Wird mir hin­ge­gen mei­ne ver­hal­tens­lei­ten­de Emo­ti­on bewusst, kann ich mir etwas ein­fal­len las­sen — ich kann ver­schie­de­ne Reak­tio­nen simu­lie­ren. Den­ken stellt aus die­ser Sicht nichts ande­res als Pro­be­han­deln dar (Freud). Indem ich etwas wahr­neh­me und mei­ne unmit­tel­ba­re emo­tio­na­le Bewer­tung des­sen ver­ste­he, kann ich bewusst wäh­len, wie ich mich ver­hal­te. So wird aus dem Ver­hal­ten eine Handlung.

Gera­de unter Stress ist es aber nicht ein­fach zu han­deln. Das kann man am bes­ten nach­voll­zie­hen, wenn man sich ein­mal an „Kurz­schluss­re­ak­tio­nen“ oder „über­trie­be­ne Reak­tio­nen“ oder „Aus­ras­ter“ in Stress­si­tua­tio­nen erin­nert. Betref­fen sol­che „Aus­ras­ter“ ande­re, wird man im Nach­hin­ein oft hören, dass man „unter Stress“ gestan­den habe, dass man „noch nie in einer sol­chen Situa­ti­on“ gewe­sen sei usw.

Zum Ver­ständ­nis sol­cher Stress­re­ak­tio­nen ist es hilf­reich, sich eine Art „Affekt­spek­trum“ oder eine Art „emo­tio­na­ler Vor­ein­stel­lung“ vor­zu­stel­len. Befin­det man sich im posi­ti­ven Bereich des Spek­trums oder ist die Vor­ein­stel­lung eini­ger­ma­ßen ent­spannt, fällt es leich­ter, sich Gedan­ken zu machen. Ist die Vor­ein­stel­lung hin­ge­gen nega­tiv bzw. befin­det man sich im eher nega­ti­ven Bereich des Spek­trums, neigt man eher zu auto­ma­ti­sier­ten Verhaltensweisen.

Psy­cho­ana­ly­tisch gespro­chen kommt es also dar­auf an, ob man die Fähig­keit besitzt, nega­ti­ve Emo­tio­nen (oder eine Art durch Stress aus­ge­lös­ter nega­ti­ver Vor­ein­stel­lung) aus­zu­hal­ten und den­noch zu han­deln. Die Fra­ge lau­tet, ob man in der Lage ist, auch bei nega­ti­ven Emo­tio­nen (Ärger, Wut, Furcht, Trau­er usw.) aus den Emo­tio­nen Gedan­ken wer­den zu las­sen und Hand­lungs­op­tio­nen durch­zu­spie­len, also zu denken.

Die­se Fähig­keit kann man trai­nie­ren. Und auch wenn die­ses Trai­ning kaum bewusst bzw. for­mal als sol­ches benannt statt­fin­det, ist es doch gera­de bei Ein­satz­kräf­ten ein wich­ti­ger Teil der Aus­bil­dung: Durch das wie­der­hol­te Trai­ning von Ein­satz- und Gefah­ren­si­tua­tio­nen wer­den einer­seits die Hand­lungs­rou­ti­nen so ein­ge­übt, dass sie auch unter Stress abruf­bar bzw. rea­li­sier­bar sind; ande­rer­seits ent­steht durch Trai­ning und zuneh­men­de Erfah­rung genau jene Fähig­keit, auch in Situa­tio­nen mit hohem nega­ti­ven Emo­ti­ons­po­ten­ti­al (Gefahr, Stress, Hand­lungs­druck, star­ke Emo­tio­nen bei ande­ren Ein­satz­kräf­ten oder dem jewei­li­gen Gegen­über im Ein­satz) den sprich­wört­li­chen „küh­len Kopf“ zu bewahren.

Fazit: Es ist hilf­reich, sich gera­de in neu­ar­ti­gen oder beson­ders zuge­spitz­ten Stress­si­tua­tio­nen kurz von sich selbst zu ent­set­zen (sich gegen­über den eige­nen Emo­tio­nen distan­zie­ren) und sich zu fra­gen, was die momen­ta­nen Hand­lungs­op­tio­nen sind. Sonst läuft man Gefahr, durch auto­ma­ti­sier­tes Ver­hal­ten ggf. Feh­ler zu machen.

Ein­satz­kräf­te ken­nen „Stan­dard-Stress­si­tua­tio­nen“, für die sie in der Aus­bil­dung oder durch Erfah­rung Reak­ti­ons­wei­sen und Rou­ti­nen ein­ge­übt haben. Hier geht es in der Regel nicht dar­um, sich jedes Mal von sich selbst zu ent­set­zen, um aus den eige­nen Emo­tio­nen Gedan­ken wer­den zu las­sen. Aber es gibt immer wie­der Situa­tio­nen, für die es noch kei­ne „Blau­pau­se“ gibt oder in denen die vor­han­de­nen Blau­pau­sen kei­ne adäqua­ten Hand­lungs­al­ter­na­ti­ven wären. Für sol­che Situa­tio­nen ist die hier beschrie­be­ne Fähig­keit wichtig.

Stress ist nicht ver­meid­bar: Wel­che For­men des Umgangs mit Stress gibt es, und wel­che davon sind gesund?

Bei der Stress­be­wäl­ti­gung (Coping) las­sen sich grund­sätz­lich zwei ver­schie­de­ne Stra­te­gien beobachten:

So genann­te „instru­men­tel­le“ Stra­te­gien haben zwar kei­ne kurz­fris­ti­ge stress­re­du­zie­ren­de Wir­kung, sind aber lang­fris­tig wirk­sam und gesund. Hier­zu zäh­len vor allem Schlaf, Bewe­gung und Ernäh­rung. Ent­spre­chen­de Ver­hal­tens­tipps oder ‑kata­lo­ge sind unüber­seh­bar zahl­reich, wes­halb hier nur in weni­gen Sät­zen auf eine mei­nes Erach­tens recht hilf­rei­che Schlaf-Sys­te­ma­tik ein­ge­gan­gen wer­den soll. Wenn es um den indi­vi­du­el­len Umgang mit Stress geht, lau­tet mei­ne oft ers­te Fra­ge: „Darf ich fra­gen, wie und wie lan­ge Sie im Durch­schnitt schlafen?“

Im Grun­de gilt die Regel, dass genug Schlaf hat, wer sich erholt fühlt. Die indi­vi­du­el­len Unter­schie­de sind hier so groß, dass es kei­nen Sinn macht, eine „idea­le Schlaf­dau­er“ zu pos­tu­lie­ren. In Bezug auf Stress las­sen sich hin­ge­gen drei gro­be Stu­fen beobachten:

  • 7h: Genü­gend Schlaf
  • 5h: Für man­che Men­schen ist auch das aus­rei­chend, aber bei vie­len ist eine durch­schnitt­li­che Schlaf­zeit von 5h bereits ein Zei­chen für Belas­tung. Das hält man zwar mit­un­ter sehr lan­ge aus, aber lang­fris­tig gesund ist es nicht.
  • 3h: Der Kör­per sen­det Alarmzeichen.

Die zwei­te Grup­pe von Stress­be­wäl­ti­gungs­stra­te­gien wer­den „pal­lia­ti­ve Coping-Stra­te­gien“ genannt und haben eine vor allem kurzfristig/unmittelbar stress­re­du­zie­ren­de Wir­kung, sind aber lang­fris­tig gesund­heits­schäd­lich. Bleibt es bei spo­ra­di­scher Nut­zung sol­cher Stra­te­gien, kann man  ggf. noch von Genuss oder Hob­by spre­chen; kommt es hin­ge­gen zu regel­mä­ßi­ger Anwen­dung, betritt man ggf. eine Grau­zo­ne, spre­chen wir von täg­li­cher Nut­zung die­ser Stra­te­gien über län­ge­re Zeit­räu­me hin­weg, muss mit nega­ti­ven Fol­gen gerech­net wer­den. Im Prin­zip gibt es zwei wesent­li­che pal­lia­ti­ve Stra­te­gien, näm­lich Ablen­kung (bspw. „zocken“) und Sub­stan­zen (bspw. Alko­hol, Medi­ka­men­te). Ins­be­son­de­re Alko­hol hat kurz­fris­tig eine erheb­lich stress­re­du­zie­ren­de Wir­kung, wobei sich die nega­ti­ven Fol­gen erst nach ver­gleichs­wei­se lan­ger Zeit zeigen.

Stress nicht über­be­wer­ten: Die Gefahr der Psychologisierung

In den ver­gan­ge­nen Jahr­zehn­ten sind psy­cho­lo­gi­sche Begrif­fe und Metho­den auch im Kon­text von Ein­satz­or­ga­ni­sa­tio­nen immer stär­ker berück­sich­tigt wor­den. Sind bspw. aus den Acht­zi­ger und Neun­zi­ger Jah­ren noch Fäl­le des negie­ren­den oder „ver­drän­gen­den“ Umgangs bspw. mit schwe­ren trau­ma­ti­schen Fol­gen von Ein­sät­zen bekannt, so hat sich die­ser Umgang spä­tes­tens in den ver­gan­ge­nen 20 Jah­ren deut­lich gewan­delt. Das sich ver­brei­ten­de Wis­sen zu post­trau­ma­ti­schen Balas­tungs­re­ak­tio­nen und die stär­ke­re öffent­li­che The­ma­ti­sie­rung sol­cher Ein­satz­fol­gen gera­de bei Sol­da­ten und die stär­ke­re Akzep­tanz psy­cho­lo­gi­scher Metho­den sind nicht ohne Wir­kung geblieben.

In die­sem Zusam­men­hang gibt es m.E. fol­gen­de Din­ge zu beach­ten und in der Füh­rungs­pra­xis zu berücksichtigen:

Die meis­ten psy­cho­lo­gi­schen Model­le und Metho­den sind im Prin­zip für „durch­schnitt­li­che“ Men­schen gül­tig und erprobt. Wenn wir aber vom Umgang mit Stress reden, dann erle­ben Ein­satz­kräf­te in der Regel ein höhe­res Maß an „poten­ti­ell stress­aus­lö­sen­den Situa­tio­nen“ bzw. sind durch ent­spre­chen­de Erfah­run­gen in höhe­rem Maße an den Umgang mit sol­chen Situa­tio­nen gewöhnt. Auch lässt sich Stress bei der Aus­übung eines „ein­satz­las­ti­gen Berufs“ nicht so ein­fach redu­zie­ren, wie das viel­leicht in ande­ren Berufs­fel­dern mög­lich wäre.

Das bedeu­tet prak­tisch, dass die Grau­zo­ne zwi­schen „gesund“ und „belas­tet“ unter Ein­satz­kräf­ten brei­ter als unter der Nor­mal­be­völ­ke­rung. Es gibt ja kei­ne genau­en Kri­te­ri­en für „gesund“, „belas­tet“ oder „gestört“, auch nicht für die Nor­mal­be­völ­ke­rung, son­dern es gibt Grau­zo­nen und dia­gnos­ti­sche Instru­men­te für eine begriff­li­che Annä­he­rung an den ein­zel­nen Fall. Frei­lich gibt es pro­to­ty­pi­sche Sym­ptom­bil­der, aber in der Regel ent­spricht ein kon­kre­ter Fall nicht gänz­lich dem Pro­to­ty­pen. Auf­grund des ein­satz-spe­zi­fisch höhe­ren „Belas­tungs­ho­ri­zonts“ ist damit zu rech­nen, dass die an der Durch­schnitts­be­völ­ke­rung geeich­ten Dia­gno­se­instru­men­te für Ein­satz­kräf­te nicht adäquat sind. Das kann im Ein­zel­fall bspw. die Fest­stel­lung einer Sym­pto­ma­tik bedeu­ten, die zu einer unan­ge­mes­se­nen Bewer­tung (Dia­gno­se) führt. Des­halb ist eine gewis­se Vor­sicht bei der Anwen­dung psy­cho­lo­gi­scher Metho­den not­wen­dig bzw. ist auf psy­cho­lo­gi­sche Fach­kräf­te zurück­zu­grei­fen, die sich mit den spe­zi­fi­schen Belan­gen von Ein­satz­kräf­ten aus­ken­nen. Wer z.B. ansons­ten regu­lär the­ra­peu­tisch arbei­tet und kei­ne per­sön­li­chen Erfah­run­gen mit Ein­sät­zen oder min­des­tens umfang­rei­che Erfah­run­gen in der Arbeit mit Ein­satz­kräf­ten hat, kann für eine sol­che Arbeit unge­eig­net sein.

Des Wei­te­ren ist zu beach­ten, dass sich durch die Ver­brei­tung psy­cho­lo­gi­schen Wis­sens und der mit der Zeit gewach­se­nen Akzep­tanz und heu­te häu­fi­ge­ren Anwen­dung ent­spre­chen­der Metho­den auch eine gewis­se Gefahr der Über­stra­pa­zie­rung psy­cho­lo­gi­scher Kate­go­rien ergibt — bis hin zu der prak­tisch sicher schwer zu the­ma­ti­sie­ren­den Gefahr des gleich­sam „vor­beu­gen­den Miss­brauchs“ von Dia­gno­sen durch Einsatzkräfte.

Was bedeu­tet das? Im Grun­de kom­men Ein­satz­or­ga­ni­sa­tio­nen, zuge­spitzt for­mu­liert, eher aus einer „Gewohn­heit des Ver­drän­gens“ — Ein­satz­fol­gen für die Psy­che wur­den lan­ge eher igno­riert als the­ma­ti­siert, im Ein­zel­fall bis hin zur akti­ven Stig­ma­ti­sie­rung Betrof­fe­ner. Betrof­fe­nen ist mehr gehol­fen, wenn tat­säch­li­che psy­chi­sche Fol­gen für die Psy­che the­ma­ti­siert wer­den kön­nen bzw. ent­spre­chen­de Metho­den Anwen­dung fin­den. Aller­dings muss die­se Anwen­dung adäquat erfol­gen und darf m.E. nicht etwa zu einem „Pri­mat des Psy­cho­lo­gi­schen“ in Gestalt unan­ge­mes­se­ner Psy­cho­lo­gi­sie­run­gen füh­ren. Das Pri­mat liegt immer auf dem Zweck der Orga­ni­sa­ti­on — also auf den Ein­sät­zen, und bei der Durch­füh­rung von Ein­sät­zen kann und wird es zu belas­ten­den Situa­tio­nen kom­men. Das muss sowohl bei der Füh­rung als auch bei Prä­ven­ti­on (also bspw. der Vor­be­rei­tung von Ein­satz­kräf­ten auf bestimm­te Situa­tio­nen) und Nach­sor­ge berück­sich­tigt wer­den, denn ein zu hohes Maß an vor­be­rei­ten­der Sen­si­bi­li­sie­rung hat ggf. nega­ti­ve Fol­gen für die Einsatzstärke.

Wenn sich Ein­satz­kräf­te betro­gen füh­len und des­halb Belas­tungs­re­ak­tio­nen zei­gen: moral injury

Die zuletzt kurz ange­spro­che­nen nega­ti­ven Fol­gen für die Ein­satz­mo­ti­va­ti­on bzw. ‑stär­ke wer­den m.E. ins­be­son­de­re am Begriff der „moral inju­ry“ deut­lich. Bevor wir genau­er dar­auf ein­ge­hen, lohnt es sich, etwas wei­ter auszuholen.

Im Grun­de fin­den Ein­sät­ze in einem Span­nungs­feld aus min­des­tens vier star­ken Grup­pen von Fak­to­ren statt:

  1. Zunächst gibt es die gesetz­li­chen Grund­la­gen. Ein­satz­kräf­te han­deln inner­halb eines stren­gen recht­li­chen Rah­mens — es gibt defi­nier­te Ein­satz­an­läs­se und ‑abläu­fe und vie­le zu beach­ten­de Regeln und Ver­bo­te. Dem indi­vi­du­el­len Ermes­sen im Ein­satz sind ent­spre­chend enge Gren­zen gesetzt. Hier kön­nen sich Span­nun­gen zwi­schen gel­ten­dem Recht und indi­vi­du­el­ler Bewer­tung einer Situa­ti­on ergeben.
  2. Ein­satz­or­ga­ni­sa­tio­nen wei­sen zudem eine ver­gleichs­wei­se strik­te Hier­ar­chie auf — Vor­ge­hens­wei­sen kön­nen im Vor­feld oder im Nach­gang reflek­tiert wer­den, im Ein­satz jedoch gibt es wenig Mög­lich­kei­ten, einen Befehl oder Auf­trag zu hin­ter­fra­gen, es sei denn, der Ein­satz wider­sprä­che in ekla­tan­ter Wei­se gel­ten­dem Recht oder wür­de zu einer unver­hält­nis­mä­ßi­gen Gefähr­dung von Leib und Leben füh­ren. Hier kön­nen sich Span­nun­gen zwi­schen dem indi­vi­du­el­len Ermes­sen und den Vor­ga­ben durch Vor­ge­setz­te ergeben.
  3. Des Wei­te­ren gibt es noch die Ebe­ne der kon­kret han­deln­den Per­so­nen — also die indi­vi­du­el­len Ein­satz­kräf­te mit ihren per­sön­li­chen Hand­lungs­maß­stä­ben und Wert­vor­stel­lun­gen. Hier kön­nen sich Span­nun­gen zwi­schen den Maß­stä­ben und Wert­vor­stel­lun­gen der indi­vi­du­el­len Ein­satz­kraft und den mit dem Ein­satz ver­bun­de­nen Ziel­stel­lun­gen erge­ben. Ein­fa­che Bei­spie­le wären etwa ein Ein­satz gegen Demons­tran­ten, deren Zie­le man als Pri­vat­per­son nicht unsym­pa­thisch fin­det, oder Ein­sät­ze, deren Durch­füh­rung man selbst für unver­hält­nis­mä­ßig oder unan­ge­mes­sen hält.
  4. Eine star­ke, aber oft zu wenig berück­sich­tig­te, weil schwer zu fas­sen­de Ebe­ne ist die des „gesell­schaft­li­chen Rück­halts“ bzw. der im gesell­schaft­li­chen Dis­kurs ver­han­del­ten Legi­ti­ma­ti­on von Ein­sät­zen. Ist die gesell­schaft­li­che Stim­mung eher für die frag­li­che Art oder Form von Ein­sät­zen, kann sich das posi­tiv auf die Moral von Ein­satz­kräf­ten aus­wir­ken. Wer­den Art und Form bestimm­ter Ein­sät­ze jedoch zuneh­mend hin­ter­fragt oder wird, wie jüngst im Fal­le bestimm­ter mili­tä­ri­scher Eli­te­ein­hei­ten, die Legi­ti­ma­ti­on der Exis­tenz der Ein­hei­ten ins­ge­samt infra­ge gestellt, kann dies zu einer Schwä­chung der Moral der betref­fen­den Ein­satz­kräf­te bis hin zur „moral inju­ry“ führen.

Unter „moral inju­ries“ wer­den psy­chi­sche Fol­gen bis hin zu Phä­no­me­nen ähn­lich einer post­trau­ma­ti­schen Belas­tungs­re­ak­ti­on ver­stan­den, die durch wahr­ge­nom­me­ne mora­li­sche Dis­kre­pan­zen ent­ste­hen, etwa

  • zwi­schen dem Ein­satz­zweck und per­sön­li­chen Moral- und Wer­te­vor­stel­lun­gen oder
  • zwi­schen dem kom­mu­ni­zier­ten Ein­satz­zweck und den gewähl­ten Ein­satz­mit­teln oder der ggf. aus­blei­ben­den Ein­satz­wir­kung (bspw. über­dau­ern­de Erfah­rung der Wir­kungs­lo­sig­keit von Ein­sät­zen, etwa durch fort­dau­ern­des Auf­tre­ten von Gewalt bei eige­ner Ohn­macht, das zu ändern) oder auch
  • feh­len­den gesell­schaft­li­chen Rück­halt in Bezug auf den Ein­satz bzw. den Einsatzzweck.

Wenn zum Bei­spiel die fol­gen­den Fak­to­ren zusammenwirken:

  • wie­der­holt beob­ach­te­tes Leid beim Gegen­über, ins­be­son­de­re bei Kindern,
  • beob­ach­te­te Über­for­de­rung von Füh­rungs­kräf­ten (oder Fehl­ent­schei­dun­gen) und
  • hohe Ein­satz­dich­te über län­ge­re Zeit hin­weg ver­bun­den mit Schlafmangel,

dann kann dies bei ggf. ohne­hin vor­han­de­ner Dis­kre­panz zwi­schen den Ein­satz­zie­len und per­sön­li­chen Wert­vor­stel­lun­gen, bei aus­blei­ben­dem Ein­satz­er­folg oder feh­len­der gesell­schaft­li­cher Legi­ti­ma­ti­on des Ein­sat­zes (bspw. spür­bar durch Ent­frem­dung im Gespräch mit Ange­hö­ri­gen oder Freun­den) zu Schuld- und Scham­ge­füh­len füh­ren, die wie­der­um sozia­len Rück­zug bewir­ken. Der wesent­li­che Unter­schied zwi­schen der moral-inju­ry-Belas­tungs­re­ak­ti­on und einer post­trau­ma­ti­schen Belas­tungs­re­ak­ti­on liegt in dem Gefühl, mora­lisch falsch gehan­delt zu haben. Betrof­fe­ne Ein­satz­kräf­te kön­nen sich betro­gen füh­len und mit Wut und mora­li­scher Des­ori­en­tie­rung reagieren.

Jede Ein­satz­kraft han­delt im Span­nungs­feld zwi­schen gesetz­li­chen Grund­la­gen, Vor­ga­ben durch Vor­ge­setz­te, gesell­schaft­li­cher Legi­ti­ma­ti­on und eige­nem Ermes­sen bzw. eige­nen Wert­vor­stel­lun­gen. Es kommt auf die Vor­ge­setz­ten an, die rich­ti­gen Wor­te bei der Kom­mu­ni­ka­ti­on von Ein­satz­zie­len und ‑zwe­cken zu fin­den und ange­mes­sen auf mög­li­che Äuße­run­gen der genann­ten Span­nun­gen zu reagieren.

Die wich­tigs­te Ein­fluss­va­ria­ble bleibt die Bin­dung zwi­schen den Ein­satz­kräf­ten sowie zwi­schen den Ein­satz­kräf­ten und ihrer Füh­rungs­kraft. Die­se Bin­dung bil­det den Kern der Ein­satz­stär­ke, und eine ange­mes­se­ne, die Span­nun­gen einer­seits aner­ken­nen­de, das Ein­satz­ziel den­noch nicht aus den Augen ver­lie­ren­de Kom­mu­ni­ka­ti­on hilft, die­se Bin­dung auf­recht­zu­er­hal­ten und den sich aus indi­vi­du­el­len Schuld- und Scham­ge­füh­len erge­ben­den Rück­zugs­ten­den­zen entgegenzuwirken.

Es ist des­halb rat­sam, im Bedarfs­fall regel­mä­ßig über die­se Span­nun­gen zu spre­chen und ihr Vor­han­den­sein nicht „weg­zu­dis­ku­tie­ren“. Es geht dar­um, ein Gefühl zu erzeu­gen, vor dem Hin­ter­grund des Ein­satz­ziels und der situa­ti­ven Gege­ben­hei­ten alles rich­tig gemacht zu haben. Es geht um die Stär­kung der gemein­sa­men Moral durch die Beant­wor­tung der fol­gen­den Fragen:

  • Was war unser Auftrag?
  • Was war über­haupt möglich?
  • Was haben wir war­um gemacht?
  • Was hat es bewirkt?
  • Was konn­te es bewirken?
  • Wo sind Gren­zen, die wir akzep­tie­ren müssen?
  • Wel­che Wer­te ste­hen mit unse­ren Hand­lun­gen im Konflikt?
  • Inwie­fern kön­nen wir das ändern?

Durch eine (rea­lis­ti­sche!) Beant­wor­tung die­ser Fra­gen beru­hi­gen sich die mora­li­schen Kon­flik­te in der Regel, weil die Betrof­fe­nen die Erfah­rung machen, dass es ande­ren genau­so geht, und dass es Restrik­tio­nen gibt, nach dem Mot­to: „Wir kön­nen nicht die Welt ret­ten, aber wir kön­nen unse­ren Job machen und akzep­tie­ren, dass nicht mehr geht. Wir müs­sen hin­neh­men, dass wir dafür nicht gemocht wer­den, aber wir tun es trotz­dem, weil das unser Job ist.“

Die Grat­wan­de­rung zwi­schen der zuneh­men­den Hin­ter­fra­gung poli­zei­li­cher Vor­ge­hens­wei­sen und der Siche­rung der Einsatzstärke

Blei­ben wir noch ein wenig beim The­ma „Ein­satz­stär­ke“. Deut­li­cher for­mu­liert, als das gegen­wär­tig viel­leicht üblich ist, bedeu­tet die Füh­rung von Ein­satz­kräf­ten zuneh­mend auch eine Grat­wan­de­rung. Auf der einen Sei­te gilt es, den Zusam­men­halt und die Ein­satz­stär­ke von Ein­satz­kräf­ten zu sichern. Auf der ande­ren Sei­te bedeu­tet Füh­rung auch, mit der sich aus dem gegen­wär­ti­gen gesell­schaft­li­chen Dis­kurs bzw. ent­spre­chend pola­ri­sier­ten Dis­kus­sio­nen über Poli­zei­ein­sät­ze und der Art und Wei­se man­cher Bericht­erstat­tung erge­ben­den, ins­ge­samt zuneh­men­den Hin­ter­fra­gung von poli­zei­li­chen Vor­ge­hens­wei­sen umzu­ge­hen. Die­se Grat­wan­de­rung ist alles ande­re als einfach.

Es ist ein wesent­li­ches Ele­ment nicht nur jour­na­lis­ti­scher Frei­heit, son­dern der Frei­heit jedes Ein­zel­nen, unrecht­mä­ßi­ge Hand­lun­gen, sei es von­sei­ten ande­rer Bür­ger, vor allem aber auch von­sei­ten des Staa­tes und sei­ner Behör­den zu hin­ter­fra­gen. Ich darf anmer­ken, wenn mir etwas nicht passt, ich kann mich beschwe­ren, ich kann kla­gen — und ich kann Recht bekom­men oder nicht.

Hier­bei han­delt es sich um ein in unse­rer Gesell­schaft unver­zicht­ba­res Recht.

Was pas­siert aber, wenn die­ses Recht nicht nur genutzt wird, wenn tat­säch­lich unge­recht­fer­tig­te Ein- oder Über­grif­fe vor­ge­nom­men wer­den? Was ist, wenn ich die­ses Recht nut­ze, weil ich es kann, qua­si als pro­phy­lak­tisch-unter­stüt­zen­de Maß­nah­me zur Errei­chung mei­ner Ziele?

Ein Bei­spiel: Wenn es auf einer Demons­tra­ti­on gegen einen G20-Gip­fel zu unver­hält­nis­mä­ßi­ger Poli­zei­ge­walt kommt, dann soll man das ent­spre­chend anzei­gen kön­nen — in der Hoff­nung, dass es ent­spre­chen­de Ermitt­lun­gen gibt. Was pas­siert aber, wenn man statt­des­sen selbst in schwers­tem Aus­maß maro­diert, nur um sich, wenn man erwischt wird, mehr oder min­der sofort der Hil­fe eines ehren­amt­lich arbei­ten­den Anwalts ver­si­chern kann, der einem rät, sofort „stra­te­gisch“ den Vor­wurf der Poli­zei­ge­walt zu erheben?

Im Zusam­men­hang mit Gerichts­ver­fah­ren ist stra­te­gi­sche Kom­mu­ni­ka­ti­on nichts Unge­wöhn­li­ches. Was pas­siert aber, wenn die Hin­ter­fra­gung einer Gegen­sei­te zuneh­mend in Situa­tio­nen ver­wen­det wird, die in unse­rer Gesell­schaft all­täg­lich sind. Ein bana­les Bei­spiel: Ein Stu­dent bat mich um Klau­sur­ein­sicht. Als die Ein­sicht kei­ne zusätz­li­chen Punk­te zuta­ge för­der­te und wir uns einig waren, dass sich an der Bewer­tung nichts ändert, stell­te ich die Fra­ge nach dem Grund für die Klau­sur­ein­sicht. Die Ant­wort: „Am Gym­na­si­um hat das immer geklappt.“ Aha. Also kei­ne Hin­ter­fra­gung aus dem Ver­dacht her­aus, unge­recht behan­delt wor­den zu sein, son­dern eine Hin­ter­fra­gung, weil man es eben kann — und sich so die Kom­fort­zo­ne etwas erweitert.

Wenn das Schu­le macht (und an eini­gen Hoch­schu­len führt das mitt­ler­wei­le zu einer Art „1,0 für alle“, dann hat das dra­ma­ti­sche Fol­gen: Men­schen, die eigent­lich etwas ent­schei­den sol­len, hal­ten sich pro­phy­lak­tisch zurück, um kei­nen Ärger zu bekommen.

Mitt­ler­wei­le sind auch unter Ein­satz­kräf­ten Anzei­chen einer sol­chen „vor­beu­gen­den Zurück­hal­tung zu beob­ach­ten. Spä­tes­tens an die­ser Stel­le gerät die Ein­satz­stär­ke unter Druck bzw. wird die Ein­satz­stär­ke geschwächt — zuguns­ten einer an die­ser Stel­le völ­lig falsch ver­stan­de­nen Gerech­tig­keit oder Korrektheit.

Ich möch­te behaup­ten, dass es sich bei die­ser Grat­wan­de­rung um eine der wesent­li­chen Her­aus­for­de­run­gen an Füh­rungs­kräf­te in Ein­satz­or­ga­ni­sa­tio­nen der kom­men­den Jahr­zehn­te han­delt. Eine ste­te — eben­so intern gehal­te­ne wie offe­ne — Refle­xi­on der Hand­lun­gen in Ein­sät­zen vor dem Hin­ter­grund des gesetz­li­chen Rah­mens scheint das bes­te Instru­ment zu sein, der Hin­ter­fra­gung etwas ent­ge­gen zu set­zen. Dies ist im Sin­ne einer inter­nen Aus­ein­an­der­set­zung um die Inter­pre­ta­ti­on der Aus­le­gung von Ein­satz­zie­len und ‑mit­teln gemeint, nicht im Sin­ne der oft von außen gefor­der­ten „lücken­lo­sen Auf­klä­rung“ oder etwa der Betei­li­gung exter­ner „Moral­in­stan­zen“. Lässt man Ein­satz­ein­hei­ten über Jah­re unre­flek­tiert tun, was sie tun, ent­wi­ckeln sich Beson­der­hei­ten. Das ist zunächst ein nor­ma­ler Vor­gang. Es braucht m.E. daher orga­ni­sa­ti­ons­in­ter­ne Pro­zes­se, die poten­ti­ell hin­ter­fra­gungs­wür­di­ge Ent­wick­lun­gen tat­säch­lich hin­ter­fra­gen und Gren­zen set­zen. Dann wür­de das die Ein­satz­stär­ke sichern. Gefähr­lich für die Ein­satz­stär­ke wäre hin­ge­gen eine voll­kom­men trans­pa­ren­te Hin­ter­fra­gung durch exter­ne Stel­len, denn das wür­de zu Vari­an­ten der beschrie­be­nen pro­phy­lak­ti­schen Zurück­hal­tung führen.

Man­che kri­ti­sche exter­ne Stim­me wird nun anmer­ken, dass eine ledig­lich inter­ne Kon­trol­le regel­mä­ßig ver­sa­gen wird. Die nega­ti­ven Fol­gen einer ver­sa­gen­den inter­nen Kon­trol­le wie­gen aber eben­so schwer wie die nega­ti­ven Fol­gen einer falsch ver­stan­de­nen trans­pa­ren­ten Kon­trol­le von außen, die ja oft genug in der Gestalt gene­ra­li­sie­ren­der Unter­stel­lun­gen daher­kä­me und ent­spre­chend ein­sei­tig blie­be — und also min­des­tens zu pro­phy­lak­ti­scher Zurück­hal­tung, wenn nicht zu moral inju­ries füh­ren wür­de. Die rich­ti­ge Schluss­fol­ge­rung lau­tet des­halb mei­nes Erach­tens, die besag­te Grat­wan­de­rung zur Auf­ga­be ent­spre­chend reflek­tier­ter höhe­rer und mitt­le­rer Füh­rungs­kräf­te zu machen.

Zu der zuletzt beschrie­be­nen „Kul­tur der Hin­ter­fra­gung“ sie­he auch unser gleich­na­mi­ges Buch.

Jörg Hei­dig

Von Jörg Heidig

Jörg Heidig, Jahrgang 1974, nach Abitur und Berufsausbildung in der Arbeit mit Flüchtlingen zunächst in Deutschland und anschließend für mehrere Jahre in Bosnien-Herzegowina tätig, danach Studium der Kommunikationspsychologie, anschließend Projektleiter bei der Internationalen Bauausstellung in Großräschen, seither als beratender Organisationspsychologe, Coach und Supervisor für pädagogische Einrichtungen, soziale Organisationen, Behörden und mittelständische Unternehmen tätig. 2010 Gründung des Beraternetzwerkes Prozesspsychologen. Lehraufträge an der Hochschule der Sächsischen Polizei, der Dresden International University, der TU Dresden sowie der Hochschule Zittau/Görlitz.