Im Coaching über Ziele reden

In die­sem Bei­trag wer­den drei Model­le vor­ge­stellt, die bei der The­ma­ti­sie­rung von Zie­len im Coa­ching hilf­reich sein kön­nen. Im Anschluss geht der Text auf die The­ma­ti­sie­rung von Zie­len im Coa­ching spe­zi­ell im Orga­ni­sa­ti­ons­kon­text ein, wodurch eini­ge für die­sen Kon­text spe­zi­fi­sche Limi­tie­run­gen sicht­bar werden. 

Es sei vor­ab dar­auf hin­ge­wie­sen, dass es sich nicht um neue, son­dern eher um bekann­te und bewähr­te Model­le han­delt. Der Wert des Tex­tes liegt also mehr im Bereich der prak­ti­schen Anwen­dung bereits bekann­ter Modelle.

Wie in einem kürz­lich ver­öf­fent­lich­ten Bei­trag schon ange­deu­tet wur­de, lohnt es sich, ein sehr bekann­tes Zeit­ma­nage­ment-Modell ein­mal genau­er unter die Lupe zu nehmen:

Bei der hier abge­bil­de­ten Matrix han­delt es sich um eine Art Koor­di­na­ten­sys­tems mit „wich­tig“ und „drin­gend“ auf den Ach­sen, wor­aus sich vier Qua­dran­ten erge­ben: Was wich­tig & drin­gend ist, soll man MACHEN, was nicht wich­tig, aber drin­gend ist, soll man DELEGIEREN, was wich­tig, aber nicht drin­gend ist, soll man PLANEN, und was weder wich­tig noch drin­gend ist, soll man LASSEN.

Nun ist es aber so, dass vie­le Füh­rungs­kräf­te gera­de dar­über kla­gen, dass sie kei­ne Zeit hät­ten, ihre eigent­li­chen Auf­ga­ben zu erfül­len, weil sie stän­dig damit beschäf­tigt sei­en, drin­gen­de, zumeist eher ope­ra­ti­ve Din­ge zu erle­di­gen. Man­che wün­schen sich dann umso mehr, von ihren Vor­ge­setz­ten ent­spre­chen­de Prio­ri­tä­ten gesetzt zu bekom­men. Dabei han­delt es sich oft um eine Art ent­las­ten­den Argu­ments, nach dem Mot­to: „Mei­ne Vor­ge­setz­ten sind es ja, die mir so vie­le Auf­ga­ben geben, dass ich die gar nicht schaf­fen kann. Ich sau­fe in ope­ra­ti­ven Din­gen regel­recht ab. Ich fah­re 80 Pro­zent mei­ner Zeit nur Feu­er­wehr. Ich habe kei­ne Zeit für das, was eigent­lich mei­ne Auf­ga­be wäre…“

Wer ist hier ver­ant­wort­lich? Die Vor­ge­setz­ten oder die han­deln­de Per­son selbst? In den meis­ten Fäl­len lau­tet die Ant­wort: Beide. 

Natür­lich kommt Vor­ge­setz­ten eine gewis­se Ver­ant­wor­tung zu, Inter­es­se zu zei­gen, Fra­gen zu stel­len und im Bedarfs­fall Prio­ri­tä­ten zu set­zen. Aber kei­ne vor­ge­setz­te Per­son kennt die indi­vi­du­el­len Prio­ri­tä­ten und vor allem die kon­kre­ten Hand­lun­gen einer nach­ge­ord­ne­ten Füh­rungs­kraft so genau, dass sie die vol­le Ver­ant­wor­tung für deren Prio­ri­tä­ten­set­zung über­neh­men könn­te. Hier ist auch und vor allem Eigen­ver­ant­wor­tung gefragt. 

Genau das unter­schei­det ja die Mit­ar­bei­te­rin oder den Mit­ar­bei­ter von der Füh­rungs­kraft: die Fähig­keit, die eige­nen Prio­ri­tä­ten im Ver­hält­nis zum Orga­ni­sa­ti­ons­zweck und zu den für die betref­fen­de Posi­ti­on for­mu­lier­ten Erwar­tun­gen zu bestim­men – und die­ses Ins-Ver­hält­nis-Set­zen auch für die zuge­ord­ne­ten Mit­ar­bei­te­rin­nen und Mit­ar­bei­ter zu moderieren.

Damit sich hier die sprich­wört­li­che Kat­ze nicht in den Schwanz beißt und ein Teu­fels­kreis ent­steht, in des­sen Dyna­mik ope­ra­ti­ve Auf­ga­ben so über­wie­gen, dass Stress ent­steht und die eigent­li­che Rol­le nicht erfüllt wer­den kann, emp­fiehlt Jürg Kes­sel­ring, den Fokus von den „WICHTIGEN UND DRINGENDEN“ Auf­ga­ben weg hin zu den „WICHTIGEN, ABER NICHT DRINGENDEN“ Auf­ga­ben zu ver­schie­ben. Dann wür­de nicht nur der Stress gerin­ger, son­dern die eige­nen Hand­lun­gen wür­den im Sin­ne der eigent­li­chen Rol­le auch viel wirksamer.

Aus die­ser Ver­schie­bung ergibt sich ein im Coa­ching wun­der­bar anwend­ba­res Modell:

Ein zwei­tes, nach mei­nem Dafür­hal­ten eben­falls sehr prak­ti­ka­bles Modell stellt einen Zusam­men­hang zwi­schen Leis­tung und Ziel­schwie­rig­keit auf. Grob gesagt: Es bedarf für gro­ße Leis­tun­gen einer gewis­sen (mäßi­gen) Über­for­de­rung. Sind die Her­aus­for­de­run­gen zu nied­rig bzw. sind die Auf­ga­ben zu ein­fach, bleibt die Leis­tung hin­ter den Mög­lich­kei­ten der han­deln­den Per­son zurück. Sind die Her­aus­for­de­run­gen hin­ge­gen hoch, steigt die Leis­tung in der Regel an. Aller­dings fällt die Leis­tung rapi­de, wenn die Her­aus­for­de­rung viel zu groß wird. Woll­te man das Gan­ze als Bild dar­stel­len, han­delt es sich um fol­gen­den Kur­ven­ver­lauf: Bleibt die Her­aus­for­de­rung nied­rig, sackt auch die Leis­tungs­be­reit­schaft gleich wie­der ab. Opti­mal ist eine mitt­le­re bis hohe Her­aus­for­de­rung – mit in den meis­ten Fäl­len posi­ti­ver Aus­wir­kung auf die Leis­tungs­mo­ti­va­ti­on. Erst im letz­ten Fünf­tel der Stei­ge­rung des Levels der Her­aus­for­de­rung sackt die Leis­tungs­kur­ve ab, dann aber wie gesagt rapi­de. Das Opti­mum ist also nicht, wie oft behaup­tet wird, eine mode­ra­te Schwie­rig­keit. Das Opti­mum ist eine leich­te bis mitt­le­re Überforderung.

Wie schon Lew Wygot­ski in Bezug auf die Erzie­hung von Kin­dern for­mu­liert hat: Man soll zu jeder Zeit auch Anfor­de­run­gen aus der “Zone der nächs­ten Ent­wick­lung” ein­be­zie­hen, um Kin­der opti­mal zu för­dern. Im Coa­ching ist es natür­lich sehr schwer, die rich­ti­gen Her­aus­for­de­run­gen zu for­mu­lie­ren. Aber mit der Zeit bekommt man den Bogen raus und lernt die Gren­zen der Kom­fort­zo­nen sei­ner Gesprächs­part­ne­rin­nen und Gesprächs­part­ner ken­nen. Man soll natür­lich nicht immer jen­seits der Gren­zen der Kom­fort­zo­nen ope­rie­ren müs­sen – aber eben oft genug.

Dabei kann man natür­lich das Gleich­ge­wicht ver­lie­ren und in der Fol­ge den Leis­tungs­ge­dan­ken ins­ge­samt infra­ge stel­len. Aber das ist dann eine Fra­ge des Umgangs mit Stress oder eine Fra­ge der Besin­nung, das hebelt aber nicht den grund­sätz­li­chen Zusam­men­hang zwi­schen Her­aus­for­de­rung und Leis­tung aus.

Ein drit­tes Modell, das übli­cher­wei­se mit dem Psy­cho­lo­gen Mihá­ly Csíks­zent­mi­há­lyi in Ver­bin­dung gebracht wird und unter dem Begriff „Flow“ bekannt gewor­den ist, setzt die Fähig­keit in Bezie­hung mit der Kom­ple­xi­tät der Her­aus­for­de­rung. Csíks­zent­mi­há­lyi war zwar kei­nes­wegs der Ent­de­cker des Zustands, den ande­re auch schon als „krea­ti­ve Lei­den­schaft“ bezeich­net haben, aber der Zusam­men­hang zwi­schen der Aus­prä­gung der Fähig­keit einer Per­son und der Höhe der Her­aus­for­de­rung wird anhand die­ses Modells so anschau­lich dar­ge­stellt, dass es zu einem wirk­lich grif­fi­gen Tool für das Coa­ching wird. 

Im Grun­de betont das Modell, dass es ein geeig­ne­tes Ver­hält­nis zwi­schen Fähig­keit und Her­aus­for­de­rung geben soll­te, um dass die Bewäl­ti­gung der Her­aus­for­de­rung zu einem posi­ti­ven Erleb­nis wird bzw. man in eine Art „Leis­tungs-Trance“ oder eben „Erle­ben, im Fluss zu sein“ (Flow-Erle­ben) kommt.

So char­mant das Modell auch ist – in man­chen Fäl­len stellt sich mir die Fra­ge: Ist es wirk­lich so ein­fach? Kann tat­säch­lich jeder Mensch in so einen Fluss kom­men, oder gibt es Situa­tio­nen oder Umstän­de, die das ein­schrän­ken oder gänz­lich ver­hin­dern? Gehen wir nicht all­zu selbst­ver­ständ­lich davon aus, dass Zie­le zu haben selbst­ver­ständ­lich ist? Kann man eigent­lich auch kei­ne Zie­le haben? Es lebt sich doch viel­leicht auch ohne ganz gut. Man­che fin­den den Gedan­ken viel­leicht ganz sym­pa­thisch, dass man bes­ser lebt, wenn man nichts will – oder zumin­dest nichts ande­res will als das, was man hat.

Gleich­zei­tig schei­nen Zie­le, evo­lu­tio­när gese­hen, in unse­re Hand­lun­gen regel­recht ein­ge­wo­ben zu sein. In der Regel geht es dar­um, dass unse­re Hand­lun­gen auf einen bestimm­ten Zweck ein­zah­len; es gibt, evo­lu­tio­när gespro­chen, kein „zweck­frei­es Ver­hal­ten“. Des­halb haben Hand­lun­gen in der Regel auch Ziele.

Neh­men wir ein­mal an, dass die meis­ten Coa­chings nicht von den bera­te­nen Per­so­nen selbst, son­dern von den Unter­neh­men bezahlt wer­den, für die die­se Per­so­nen arbei­ten. Und neh­men wir des­halb ein­mal an, dass die­se Coa­chings – sicher nicht nur, aber eben auch, und oft genug auch: vor allem – dem Zweck die­nen, dass die Hand­lun­gen der bera­te­nen Per­so­nen wirksam(er) auf den Zweck der Orga­ni­sa­ti­on ein­zah­len. Dann erscheint Coa­ching etwas lei­den­schafts­los als eine Art „Ein­rei­hung“. Frei­lich wird Coa­ching gern aus­ge­schmückt; man­che mei­nen sogar, es han­de­le sich bei Coa­ching um viel mehr als bei Bera­tung: Wo sonst womög­lich schlicht “Erwei­te­rung der Per­spek­ti­ven und Hand­lungs­mög­lich­kei­ten” gestan­den hät­te, klin­gen Coa­ching-Ver­spre­chen heu­te oft viel blu­mi­ger. Coa­ching ist alles ande­re als eine unbrauch­ba­re Metho­de, aber Coa­ching soll­te mei­nes Erach­tens als das ver­stan­den wer­den, was es ist, zumin­dest in der Mehr­zahl der Fäl­le: eine Bera­tungs­dienst­leis­tung, die in der Regel von der die Kli­en­tin oder den Kli­en­ten beschäf­ti­gen­den Orga­ni­sa­ti­on bezahlt wird. Wenn einer Füh­rungs­kraft eine sol­che Bera­tung zuteil wird, dann mag es dabei auch um die Per­son ins­ge­samt gehen – bezahlt wird das Coa­ching aber, weil es um die Hand­lun­gen der Per­son in der Orga­ni­sa­ti­on geht. Des­halb muss man im Coa­ching selbst­re­dend auch über Zie­le spre­chen, und zwar nicht nur über indi­vi­du­el­le, son­dern auch orga­ni­sa­to­ri­sche Zie­le – und vor allem über die Schnitt­men­gen und Dif­fe­ren­zen zwi­schen den bei­den Ziel­ka­te­go­rien. Und falls man tat­säch­lich an den Punkt kommt, an dem sich die Erwar­tun­gen der bera­te­nen Per­son und der Orga­ni­sa­ti­on wider­spre­chen, gewinnt am Ende wer? 

Die oben vor­ge­stell­ten Model­le kön­nen bei der The­ma­ti­sie­rung von Zie­len im Coa­ching sehr hilf­reich sein. Aller­dings gilt es dabei zu berück­sich­ti­gen, zu wel­chem Zweck und in wel­chem Hand­lungs­rah­men bzw. unter wel­chen Bedin­gun­gen ein Coa­ching statt­fin­det, denn es gibt immer ein Span­nungs­feld zwi­schen den Inter­es­sen und dem Erle­ben einer ein­zel­nen Per­son und den Erwar­tun­gen einer Orga­ni­sa­ti­on. Und weil es die­ses Span­nungs­feld gibt, ist Coa­ching im Orga­ni­sa­ti­ons­kon­text in der Regel kei­ne Bera­tungs­leis­tung aus­schließ­lich für ein Indi­vi­du­um, son­dern steht von vorn­her­ein unter bestimm­ten Vor­zei­chen, die man ken­nen muss, weil sich dar­aus Limi­tie­run­gen erge­ben. Man hat es als Coach mit einem „Erwar­tungs­drei­eck“ zu tun: Das Unter­neh­men hat in sich stark an Coa­ching-Regeln hal­ten­den Vari­an­ten kei­ne expli­zi­ten, aber eben oft genug impli­zi­te Erwar­tun­gen. In ande­ren Fäl­len wer­den die Erwar­tun­gen ganz deut­lich aus­ge­spro­chen. Die Kli­en­ten­sei­te hat eben­falls Erwar­tun­gen. Man ope­riert also in der Regel von vorn­her­ein im Bereich einer Schnitt­men­ge mög­li­cher Zie­le. Des­halb ist es hilf­reich, die Zie­le einer han­deln­den Per­son vor dem Hin­ter­grund der an sie gestell­ten Erwar­tun­gen zu ana­ly­sie­ren. Ande­ren­falls läuft man Gefahr, wesent­li­che Din­ge aus­zu­las­sen – oder das Unter­neh­men wun­dert sich irgend­wann, war­um das Coa­ching irgend­wie dazu bei­getra­gen hat, den Wech­sel­wil­len der betref­fen­den Per­son zu erhöhen. 😉

Jörg Hei­dig

Von Jörg Heidig

Jörg Heidig, Jahrgang 1974, nach Abitur und Berufsausbildung in der Arbeit mit Flüchtlingen zunächst in Deutschland und anschließend für mehrere Jahre in Bosnien-Herzegowina tätig, danach Studium der Kommunikationspsychologie, anschließend Projektleiter bei der Internationalen Bauausstellung in Großräschen, seither als beratender Organisationspsychologe, Coach und Supervisor für pädagogische Einrichtungen, soziale Organisationen, Behörden und mittelständische Unternehmen tätig. 2010 Gründung des Beraternetzwerkes Prozesspsychologen. Lehraufträge an der Hochschule der Sächsischen Polizei, der Dresden International University, der TU Dresden sowie der Hochschule Zittau/Görlitz.