Mach, was Du kannst, dort, wo Du bist, so gut es eben geht

Matrix beruflicher Entscheidungen

Sagt ein Kli­ent im Gespräch zu mir: “Mein Leben war immer auf Leis­tung getrimmt. Ich will das nicht mehr. Aber seit ich das nicht mehr will, weiß ich auch nicht, was ich will. Da ist so eine Lee­re.” Es geht in dem Gespräch viel um Sinn.

Mit dem Sinn ist es aber so eine Sache. Wenn man den Sinn sucht, fin­det man nichts. Das bedeu­tet kei­nes­wegs, dass es kei­nen Sinn gäbe. Aber es gibt kei­nen letz­ten, irgend­wie objek­tiv vor­han­de­nen Sinn. Man kann Sinn nicht suchen und fin­den, Sinn ist wahr­schein­lich eher eine Ent­schei­dung. Frei nach Camus: Das Leben an und für sich hat kei­nen Sinn, ist aber lebens­wert, wenn man die­sen Umstand erst ein­mal akzep­tiert hat. Ähn­lich ver­hält es sich mit Gott: Die Wahr­schein­lich­keit, dass es Gott gibt, ist ver­schwin­dend gering. Doch man kann leben, als gäbe es ihn.

Es han­delt sich also weni­ger um eine Suche nach etwas, das schon da ist und das man fin­den kann, son­dern es han­delt sich um die Tätig­keit selbst, und zwar weni­ger im Sin­ne einer Suche, son­dern mehr im Sin­ne eines Schaf­fens­pro­zes­ses. Ist man da nicht aber wie­der bei Leis­tung? Wer meint, hier bei­ße sich die Kat­ze in den Schwanz, muss, den­ke ich, eine Ebe­ne wei­ter gehen und nach dem Zweck bzw. dem Wozu der Tätig­keit oder der Leis­tung fragen.

Eine Tätig­keit kann einem sinn­ent­leert vor­kom­men. Man erin­ne­re sich an Char­lie Chap­lins Film “Modern Times”, nach mei­nem Dafür­hal­ten eine der schöns­ten Ver­bild­li­chun­gen sinn­ent­leer­ter Tätig­keit. Viel­leicht so: Damit eine Tätig­keit einen Sinn hat, muss es eine Bezie­hung zwi­schen dem täti­gen Men­schen und der Tätig­keit selbst geben. So wie die Din­ge an und für sich kei­ne Bedeu­tung haben, son­dern sich die Bedeu­tung von Din­gen aus der Bezie­hung ergibt, die man zu ihnen hat (Mead), so ver­hält es sich auch mit der Tätig­keit: Eine Ent­schei­dung für eine Tätig­keit kann gleich­zei­tig auch eine Ent­schei­dung für einen Sinn sein. Kann, muss nicht.

Hier gibt es ein gan­zes Spek­trum von Mög­lich­kei­ten – von der bereits ange­spro­che­nen sinn­ent­leer­ten Vari­an­te bis hin zu einer rein selbst gewähl­ten oder gar selbst kre­ierten, den jewei­li­gen Men­schen erfül­len­den Tätig­keit. Es las­sen sich auch alle mög­li­chen Vari­an­ten den­ken, wie man zu Tätig­kei­ten kommt – von eher “gedan­ken­los hin­ein­ge­rutscht” bis zu “bewuss­ter Ent­schei­dung”, von “weni­ge Mög­lich­kei­ten” oder “kaum eine Wahl gehabt” bis hin zu jenem sprich­wört­li­chen Teu­fel, der in dem Umstand steckt, zu vie­le Optio­nen zu haben.

Wer soll eine Ant­wort fin­den auf die Fra­ge, was man will? Man­che wür­den viel­leicht gern ant­wor­ten, dass es bes­ser sei, kei­ne Wahl zu haben. Und den­je­ni­gen, die lan­ge suchen und nichts fin­den, mögen jene als glück­se­lig erschei­nen, die irgend­wo hin­ein­ge­rutscht sind, kaum etwas hin­ter­fra­gen und “ein­fach machen”. Der Umgang mit sol­chen Fra­gen ist letzt­lich auch eine Fra­ge der Per­sön­lich­keit, indem man eher hand­lungs­ori­en­tier­te von eher lage­ori­en­tier­ten Men­schen unter­schei­den kann. Packen die Ers­te­ren eher zu und ver­än­dern ihre Lage, war­ten die Letz­te­ren eher ab und blei­ben erst­mal, wo und wie sie sind.

Hier die Fra­ge danach zu stel­len, wie viel gene­tisch bedingt und wie viel erlernt ist, bleibt müßig, denn genaue Ant­wor­ten sind hier aus wis­sen­schaft­li­cher Sicht noch nicht mög­lich. Und vor allem: Was wür­de eine Ant­wort hel­fen, wenn man das Pro­blem hat? Wenn eine Schrau­be locker ist, muss die Mut­ter dran schuld sein – sol­che Sprü­che sind ein­fa­che Aus­re­den, die einem nicht dazu ver­hel­fen, etwas zu ändern.

Hal­ten wir fest: Wenn ein Mensch mit dem Leis­tungs­be­griff hadert, ist wahr­schein­lich die mit der Leis­tung ver­bun­de­ne Tätig­keit für den betref­fen­den Men­schen sinn­los gewor­den. All­zu oft ver­fal­len Gesprä­che an die­ser Stel­le in eine Kri­tik der Leis­tungs­ge­sell­schaft. Die­se Kri­tik mag zutref­fend sein, hilft aber der betref­fen­den Per­son kaum. Es geht ja nicht um den Schmerz der Welt oder die Defi­zi­te west­li­cher Gesell­schaf­ten, son­dern um den ein­zel­nen Men­schen. Wie soll ein ein­zel­ner Mensch aber sinn­voll leben, wenn das gan­ze Sys­tem falsch ist? Das führt zu Gesell­schafts­kri­tik und ist eine poli­ti­sche Fra­ge, die auch poli­tisch beant­wor­tet wer­den muss. Viel­leicht rutscht dann eine poli­ti­sche Betä­ti­gung in den Bereich des Mög­li­chen. Ansons­ten aber geht es dar­um, das Gespräch an sol­chen Stel­len immer wie­der zum eigent­li­chen Kern zurückzuführen.

Wenn man den Men­schen etwas unro­man­tisch betrach­tet, kann man zu dem Schluss kom­men, dass wir aus Tätig­kei­ten, Ent­schei­dun­gen, Gewohn­hei­ten und Erin­ne­run­gen bestehen. Wir ent­schei­den uns bei­spiels­wei­se, einen Beruf zu erler­nen – oder wir sind nicht schnell genug weg­ge­rannt, als die Ent­schei­dung über uns kam (viel­leicht von den Eltern getrof­fen oder durch Man­gel an Optio­nen ent­stan­den). Ich kann mit der Zeit mit die­sem Beruf glück­lich wer­den, dann bestä­tigt sich die eige­ne Ent­schei­dung. Oder ich kann den Beruf akzep­tie­ren, dann hat­te ich zwar sei­ner­zeit viel­leicht kei­ne Wahl, aber ich freun­de mich im Nach­hin­ein mit den Umstän­den an und akzep­tie­re sie. Ich kann zudem auch kei­ne Wahl gehabt haben und hin­neh­men, was mir gesche­hen ist. Oder ich hadere.

Wenn ich hade­re, habe ich zwei Mög­lich­kei­ten: Ich kann mei­ne Gefüh­le an die Rea­li­tät anpas­sen oder aber die Rea­li­tät an die Gefüh­le. Das ist aber mehr etwas für die hand­lungs­ori­en­tier­te­ren Men­schen unter uns und weni­ger etwas für die lage­ori­en­tier­te­ren, die lie­ber erst­mal abwar­ten. Die Psy­cho­lo­gie ist voll von Bei­spie­len, dass einem erst Sym­pto­me zei­gen müs­sen, dass man irgend­wie falsch oder über­an­ge­passt lebt. Etwas redu­ziert betrach­tet geht sogar Freuds Pro­zess des Begrei­fens des Unbe­wuss­ten auf die­sen Zusam­men­hang zurück: Fehl­hand­lun­gen las­sen sich als Aus­druck ver­bor­ge­ner, unter­drück­ter Impul­se begrei­fen, und Sym­pto­me kön­nen auf ein “ver­krümm­tes” oder über­an­ge­pass­tes Dasein hinweisen.

Aber was pas­siert, wenn man die­se – hier etwas sim­pli­fi­zie­rend dar­ge­stell­ten – Zusam­men­hän­ge in Bezug auf sein eige­nes Leben zwar begrif­fen hat, und man sich auf die Suche macht, aber nichts fin­det? Wenn da nichts ist, außer ein paar Gewohn­hei­ten? Aus der For­schung weiß man, dass es den­je­ni­gen Men­schen leich­ter fällt, mit schwie­ri­gen oder belas­ten­den Situa­tio­nen umzu­ge­hen, die sich bewusst für den jewei­li­gen Lebens­um­stand (Beruf, Ehe…) ent­schie­den haben. Am Ende lan­det man viel­leicht wirk­lich bei einer simp­len Ant­wort: Mach, was Du kannst, dort wo Du bist, so gut es eben geht. Und wenn das mit den Emo­tio­nen nicht so gut gelingt, wenn Dir die Emo­tio­nen im Weg ste­hen, dann akzep­tie­re sie, fra­ge Dich, was sie bedeu­ten, ände­re viel­leicht etwas, erar­bei­te Dir aber auch eine gewis­se Steue­rung der Emo­tio­nen, sonst ist das ggf. schlecht für Dein Ver­hält­nis zu Dei­ner Umgebung.

Es ist ja lei­der so, dass, wer ein über­an­ge­pass­tes, ver­krümm­tes Leben ent­wi­ckeln muss­te, oft erst ein­mal sei­ne Emo­tio­nen frei­le­gen muss, ler­nen muss, sich zu ver­trau­en. Und wie das mit aller Ent­fal­tung ist, kommt es zu Über­trei­bun­gen aus Unsi­cher­heit, zum Aus­tes­ten von Gren­zen usw. – was für das Umfeld sehr irri­tie­rend sein kann, ins­be­son­de­re wenn die Ent­fal­tung pas­siert, wenn man schon etwas älter ist. Hin­zu kommt, dass es heu­te durch­aus zum Volks­sport wird, dass man sich um sei­ne Ent­fal­tung auch dre­hen kann wie um einen “Zweck an und für sich”, dass Selbst­su­che und Ent­fal­tung qua­si zum Selbst­zweck gera­ten und auch stän­dig mit neu­en Inhal­ten gefüllt wer­den kön­nen. Aus not­wen­di­ger und hilf­rei­cher Selbstrefle­xi­on im Sin­ne eines Lern- und Ent­fal­tungs­pro­zes­ses wird dann schnell nar­ziss­ti­sche Selbstrota­ti­on, die das sich wan­deln­de Schil­lern eines Ent­fal­tungs­pro­zes­ses zum Selbst­zweck nimmt.

Es gibt hier sicher kein Rich­tig oder Falsch, klar kön­nen auf einen Ver­such wei­te­re fol­gen, klar kann man lan­ge brau­chen und wer­den man­che nie ankom­men, wobei auch die Fra­ge zu stel­len wäre, wo man denn ankom­men soll. Bei sich selbst? Wenn es doch aber kein “letz­tes, objek­ti­ves Selbst” gibt, son­dern wir aus Tätig­kei­ten und Erin­ne­run­gen und Gewohn­hei­ten und Ent­schei­dun­gen bestehen? Dann gilt es, eben die­se Din­ge in den Blick zu neh­men und die Bedeu­tun­gen zu ana­ly­sie­ren: Was machen Sie so, wenn der Tag lang ist? Was bedeu­tet das für Sie? Was machen Sie gern? Wor­an mer­ken Sie, dass Sie etwas gern machen? Was wür­den Sie gern öfter tun? Was viel­leicht las­sen? Wen tref­fen Sie so? Mit wem ver­brin­gen Sie Zeit? Wel­che Struk­tu­ren hat Ihr Tag? Was ist für Sie genug? Wonach haben Sie Sehn­sucht? Wel­che Auf­ga­ben lie­gen vor Ihnen? Wenn Sie Ihre Umge­bung betrach­ten, wo möch­ten Sie da etwas ändern? Wofür möch­ten Sie sich engagieren?

Mach, was Du kannst, dort wo Du bist, so gut es eben geht.

Jörg Hei­dig

Von Jörg Heidig

Jörg Heidig, Jahrgang 1974, nach Abitur und Berufsausbildung in der Arbeit mit Flüchtlingen zunächst in Deutschland und anschließend für mehrere Jahre in Bosnien-Herzegowina tätig, danach Studium der Kommunikationspsychologie, anschließend Projektleiter bei der Internationalen Bauausstellung in Großräschen, seither als beratender Organisationspsychologe, Coach und Supervisor für pädagogische Einrichtungen, soziale Organisationen, Behörden und mittelständische Unternehmen tätig. 2010 Gründung des Beraternetzwerkes Prozesspsychologen. Lehraufträge an der Hochschule der Sächsischen Polizei, der Dresden International University, der TU Dresden sowie der Hochschule Zittau/Görlitz.