Mitleid oder Mitgefühl? Ein entscheidender Unterschied…

In Semi­na­ren mit Ange­hö­ri­gen von Hel­fer­be­ru­fen wer­den wir oft gefragt, wie es gelingt, belas­ten­de Din­ge „nicht mit nach Hau­se zu neh­men“. Bei der Fra­ge, wie man Gren­zen zie­hen und mit belas­ten­den Situa­tio­nen umge­hen kann, ist es unse­res Erach­tens hilf­reich, zwi­schen Mit­ge­fühl und Mit­leid zu unterscheiden.

Auf den ers­ten Blick scheint die­se Unter­schei­dung eine theo­re­ti­sche zu sein. Man könn­te bei­spiels­wei­se sagen, dass Empa­thie in Hel­fer­be­ru­fen uner­läss­lich ist, und dass es egal ist, ob man Empa­thie nun als Mit­leid oder Mit­ge­fühl bezeich­net – Haupt­sa­che, man fühlt etwas dabei. Wir mei­nen, dass es dar­auf ankommt, was oder wie man fühlt.

Fra­gen wir uns zunächst, was pas­siert, wenn man mit-lei­det. Wir hören viel­leicht die Geschich­te eines trau­ri­gen Schick­sals, wir sind bewegt – in uns ent­steht viel­leicht der Wunsch zu hel­fen. Was löst die­sen Wunsch aus? Viel­leicht die Ein­sicht, dass die betref­fen­de Per­son Hil­fe braucht, weil wir uns in einer sol­chen Situa­ti­on auch Hil­fe wün­schen wür­den. Mög­li­cher­wei­se löst aber auch ein­fach nur das Nach­voll­zie­hen des beob­ach­te­ten oder geschil­der­ten Leids den Wunsch zu hel­fen aus.

Wenn es so ein­fach wäre, müß­ten wir nicht dar­über spre­chen; Mit­leid wäre dann nichts Pro­ble­ma­ti­sches. Es lohnt sich des­halb, hier ein­mal genau­er hin­zu­schau­en: Vie­le Men­schen, die mit pro­fes­sio­nel­len Hel­fern zu tun hat­ten, mei­nen spä­ter, dass es man­chen die­ser Hel­fer auf eine ver­bor­ge­ne Wei­se mehr um sich selbst ging und weni­ger um den ande­ren. Als wür­den die­se Hel­fer etwas für ihre Hil­fe erwar­ten – als sei die Hil­fe doch nicht so selbst­los, wie sie zunächst daher­kam. Als wür­den die­je­ni­gen, denen gehol­fen wur­den, irgend­wie ver­pflich­tet.

Hier fin­den wir das Unter­schei­dungs­kri­te­ri­um für das, was wir Mit­ge­fühl auf der einen und Mit­leid auf der ande­ren Sei­te nennen.

Mit­ge­fühl ist das, was pas­siert, wenn man vom Schick­sal des Gegen­übers berührt wird, wenn man das, was man sieht oder hört, nach­füh­len kann. Das Mit­ge­fühl führt viel­leicht zu Fra­gen, ob und wie man hel­fen kann. Aber das Mit­ge­fühl bleibt in gewis­ser Wei­se mei­ne Reak­ti­on und das geschil­der­te Schick­sal bleibt das der ande­ren Per­son. Ich kann hel­fen, wenn die ande­re Per­son dies wünscht, ich muss aber nicht hel­fen. Ich lebe viel­mehr mit der Ein­sicht, dass ich nicht hel­fen kann, wenn die ande­re Per­son dies nicht wünscht. Und mir ist klar – und die­se Ein­sicht ist mit­un­ter sehr schmerz­haft – dass es – sogar auch und gera­de dann, wenn ich jeman­den lie­be – Umstän­de gibt, in denen ich nicht hel­fen kann, so sehr ich es auch wollte.

Mit­leid hin­ge­gen weist eine gleich­sam zwin­gen­de Ver­knüp­fung zwi­schen der empa­thi­schen Reak­ti­on und der hel­fen­den Hand­lung auf – und hat sowohl auf die hel­fen­de als auch auf die Hil­fe emp­fan­gen­de Sei­te eine ver­pflich­ten­de Wir­kung („Ich muss hel­fen!“ einer­seits; Gefühl der Ver­pflich­tung zur Dank­bar­keit ande­rer­seits). Mit­leid kommt in die­sem Sin­ne hei­schend daher. Und zwar nicht als eine viel­leicht Mit­leid hei­schen­de Geschich­te, son­dern als Hil­fe antra­gen­de, bis­wei­len gar zumu­ten­de („über­grif­fi­ge“), das Gegen­über mit der eige­nen Mit­leids­re­ak­ti­on bis­wei­len regel­recht über­zie­hen­de emo­tio­na­le Reak­ti­on. Dem Mit­leid wohnt der hel­fen­de Hand­lungs­im­puls inne – nicht als Fra­ge, son­dern qua­si als – unter­schwel­lig selbst­ver­ständ­li­cher und des­halb nicht hin­ter­frag­ba­rer – Anspruch. Mit­leid erhebt den Anspruch, dass das Gehör­te oder Beob­ach­te­te tat­säch­lich dra­ma­tisch, schwie­rig, unlös­bar und so wei­ter ist. Die hel­fen­de Hand­lung erhält durch die­sen Anspruch etwas Ent­rück­tes und Ehr­wür­di­ges. Man muss dafür dank­bar sein. Mit­leid hängt sich regel­recht an das Gehör­te oder Beob­ach­te­te, die eige­ne – oft nur vor­geb­lich hel­fen­de – Reak­ti­on „über­nimmt“ qua­si das Gesche­hen, gerät in den Mit­tel­punkt, macht eine Per­for­mance aus der Hil­fe, ist nicht selbst­los, son­dern erwar­tet Dankbarkeit.

Das mag über­trie­ben, ja regel­recht anma­ßend klin­gen. Was wir mei­nen, wird klar, wenn wir fra­gen, war­um man­che Hel­fer Dank­bar­keit erwarten.

Die – eben­so dras­ti­sche wie ein­fa­che – Ant­wort lau­tet: weil man sich selbst nicht genug ist. Weil man nicht gelernt hat, wer man ist, oder weil man nicht zufrie­den ist mit dem, was oder wer man ist. Weil man viel­leicht irgend­wann beschlos­sen hat, jemand anders sein zu wol­len, als man ist, und weil man des­halb sei­ne Umge­bung so mani­pu­liert, dass sie einem das bestä­tigt, was man über sich hören will. Nichts ist dafür geeig­ne­ter als das Enga­ge­ment – oft auch: die Auf­op­fe­rung – in einer Hel­fer­rol­le. Man­che lösen sich regel­recht in ihrer Hel­fer­rol­le auf, wer­den ganz und gar Hel­fer, sind über ihre Rol­le hin­aus kaum noch zu erkennen.

Wem das über­trie­ben vor­kommt, dem mögen fol­gen­de Bei­spie­le als Anre­gung für wei­ter­füh­ren­de Gedan­ken oder Fra­gen dienen:

  1. Anfang des Jah­res frag­te uns der Lei­ter einer Flücht­lings­ein­rich­tung, wie er dafür sor­gen kön­ne, dass Tei­le sei­nes Teams wie­der zuhau­se schlie­fen und nicht mehr in der Ein­rich­tung. Eini­ge wür­den sich bis an die Gren­ze zur Erschöp­fung und dar­über hin­aus enga­gie­ren, und das sei auf Dau­er nicht gesund.
  2. Mit­te des Jah­res frag­te eine Sozi­al­päd­ago­gin in einer Super­vi­si­ons­sit­zung, wie es sein kön­ne, dass sie begin­ne, ihre Kli­en­ten regel­recht zu has­sen. Sie wol­le das nicht, aber sie erwi­sche sich zuneh­mend dabei, wie sie – auch bei mini­ma­len Anläs­sen – wütend wer­de und bis­wei­len auch Hass emp­fin­de. Sie kön­ne man­chen ihrer Kli­en­ten nicht mehr helfen.

Jörg Hei­dig

Von Jörg Heidig

Jörg Heidig, Jahrgang 1974, nach Abitur und Berufsausbildung in der Arbeit mit Flüchtlingen zunächst in Deutschland und anschließend für mehrere Jahre in Bosnien-Herzegowina tätig, danach Studium der Kommunikationspsychologie, anschließend Projektleiter bei der Internationalen Bauausstellung in Großräschen, seither als beratender Organisationspsychologe, Coach und Supervisor für pädagogische Einrichtungen, soziale Organisationen, Behörden und mittelständische Unternehmen tätig. 2010 Gründung des Beraternetzwerkes Prozesspsychologen. Lehraufträge an der Hochschule der Sächsischen Polizei, der Dresden International University, der TU Dresden sowie der Hochschule Zittau/Görlitz.

2 Kommentare

  1. Mal von einer ganz ande­ren Sei­te her betrach­tet – aber ich den­ke es passt zum The­ma. Und wäh­rend ich wis­sen­schaft­li­che Erkennt­nis­se schät­ze, hal­te ich das, was wir Wis­sen­schaft nen­nen, nicht für der Weis­heit letz­ten Schluss. Es ist so schön aus­ge­drückt, dass ich es ein­fach nur zitiere:

    Dann sag­te ein Rei­cher: Sprich uns vom Geben.

    Und er antwortete:
    Ihr gebt nur wenig, wenn ihr von eurer Habe gebt. Wahr­haft gebt ihr erst, wenn ihr von euch gebt.
    Denn was ist eure Habe ande­res als Din­ge, die ihr aus Furcht, ihr könn­tet sie mor­gen benö­ti­gen, auf­be­wahrt und bewacht?
    Und mor­gen – was wird das Mor­gen dem über­vor­sich­ti­gen Hund schon brin­gen, der Kno­chen im weg­lo­sen Sand ver­gräbt, wäh­rend er den Pil­gern zur hei­li­gen Stadt folgt?
    Und was ist Furcht vor Not denn ande­res als Not?
    Ist nicht die Angst vor Durst, wenn euer Brun­nen voll ist, erst der Durst, den nichts je löschen kann?

    Men­schen gibt’s, die von dem Vie­len, das sie haben, wenig geben – und es nur um der Aner­ken­nung wil­len tun -, und ihr gehei­mer Wunsch macht ihre Gabe unbekömmlich.
    Und Men­schen gibt’s, die wenig haben und es rest­los hingeben.
    Sie sind die­je­ni­gen, die an das Leben und des Lebens Fül­le glau­ben, und ihre Tru­he wird nie­mals leer.
    Men­schen gibt es, die vol­ler Freu­de geben, und die­se Freu­de ist ihr Lohn.
    Und es gibt Men­schen, die unter Schmer­zen geben, und die­ser Schmerz ist ihre Läuterung.
    Und Men­schen gibt’s, die geben und nichts vom Schmerz des Gebens wis­sen noch nach Freu­de stre­ben noch um der Tugend wil­len geben; Sie geben so, wie die Myr­te im Tal dort drü­ben atmend ihren Duft verbreitet.
    Durch sol­cher Men­schen Hand spricht Gott, und aus ihren Augen lächelt er nie­der auf die Welt.

    Gut ist es, wenn gefragt, zu geben, bes­ser aber, unge­fragt zu geben, aus eige­ner Einsicht;
    Und für den Frei­gie­bi­gen ist die Suche nach einem, der emp­fan­gen soll, eine grö­ße­re Freu­de als das Geben.
    Und gibt es etwas, das ihr für euch behal­ten könntet?
    Was ihr auch habt, wird eines Tages hin­ge­ge­ben werden;
    Gebt also jetzt, damit die Zeit des Gebens eure sei und nicht die eurer Erben.

    Oft sagt ihr: „Ich möch­te wohl geben, aber nur dem, der es verdient.“

    Reden die Bäu­me in eurem Gar­ten etwa so oder die Her­den auf eurer Wei­de? Sie geben, um zu leben, denn gei­zen heißt sterben.
    Wer es wert ist, sei­ne Tage und Näch­te zu emp­fan­gen, ist doch wohl alles ande­ren wür­dig, was ihr ihm geben könntet.
    Und wer’s ver­dient hat, vom Lebens­meer zu trin­ken, ver­dient es auch, aus eurem schma­len Bach zu schöpfen.
    Und welch grö­ße­ren Ver­dienst könn­te es wohl geben als den, der in dem Mut und dem Ver­trau­en, ja der Barm­her­zig­keit des Emp­fan­gens liegt?
    Und wer bist du, dass Men­schen ihr Gewand zer­rei­ßen und ihren Stolz ent­blö­ßen soll­ten, damit du ihren Wert nackt und ihren Stolz unver­hüllt sehen kannst?
    Sorg erst dafür, dass du’s ver­dienst, ein Geben­der zu sein und ein Werk­zeug des Gebens.
    Denn in Wahr­heit ist es nur das Leben, das dem Leben gibt – wäh­rend du, der du dich für einen Geben­den hältst, ein blo­ßer Zeu­ge bist.

    Und ihr Emp­fan­gen­den – und Emp­fan­gen­de seid ihr alle – befrach­tet euch nicht selbst mit Dank­bar­keit, damit ihr nicht euch selbst und dem, der gibt, ein Joch aufbürdet.
    Schwingt euch viel­mehr auf, gemein­sam mit dem Geben­den, auf den Flü­geln sei­ner Gaben.
    Denn ein zu deut­li­ches Bewusst­sein eurer Schuld ist ein Zwei­feln an sei­ner Groß­zü­gig­keit, deren Mut­ter die frei­gie­bi­ge Erde ist und deren Vater Gott selbst ist.
    —-
    Quel­le: Kha­lil Gibran (1923). Der Pro­phet. 7. Auf­la­ge Sep­tem­ber 2009, Deut­scher Taschen­buch Ver­lag GmbH & Co. KG , München

  2. Rein von der Seman­tik her wür­de ich das Wort Mit­ge­fühl als neu­tra­len Begriff hin­sicht­lich sei­ner Aus­prä­gung des Gefühls ein­ord­nen. Es ist mög­lich sich mit­zu­freu­en oder auch mit­zu­lei­den. Bei posi­ti­ven Gefüh­len scheint das ja dann auch kein Pro­blem zu sein, da dar­aus kei­ne Abwer­tung des Ande­ren oder Auf­wer­tung des Selbst geschieht. Nega­ti­ve Gefüh­le hin­ge­gen „kön­nen“ das nach sich zie­hen. Der Unter­schied liegt mei­nes Erach­tens nach dar­in, wie der Mit­füh­len­de damit umgeht – das Gegen­über abwer­ten und sich selbst durch die ange­bo­te­ne oder auf­ge­zwun­ge­ne Hil­fe über den Ande­ren zu stel­len. Da wir hier immer noch von einer zwei­sei­ti­gen Bezie­hung aus­ge­hen, wür­de ich unter­stel­len, dass die nega­ti­ven Aspek­te des Abwer­tens hier zwei­sei­tig beein­fluss­bar sind und das Selbst­wert­ge­fühl bei­der Sei­ten dabei eine Rol­le spielt.
    Ent­schei­dend aus mei­ner Sicht ist es, dass der Hel­fer die Pro­ble­me des Gegen­übers nicht zu sei­nen Pro­ble­men macht – er ist und bleibt Hel­fer (eine außen­ste­hen­de Per­son). Hil­fe kann ange­nom­men und abge­lehnt wer­den. Dem Gegen­über die Kom­pe­tenz abzu­spre­chen sich selbst zu hel­fen (und mei­net­we­gen sich gern dabei unter­stüt­zen zu las­sen), das erzeugt Abwer­tung und zeigt den mög­li­chen inne­ren Kon­flikt des Hel­fers (außer im nach­fol­gen­den Szenario). 

    Span­nend wird die Her­aus­for­de­rung dann, wenn die Per­son in der pro­ble­ma­ti­schen und hilfs­be­dürf­ti­gen Lage tat­säch­lich Hil­fe braucht (und das ganz objek­tiv betrach­tet, wie z.B. ein Demenz­kran­ker, des­sen Mün­dig­keit per Beschluss auf ande­re Per­so­nen über­tra­gen wur­de) und sich nicht hel­fen las­sen will. Hier scheint die Abwer­tung nur schwer abzu­wen­den zu sein. Der Hel­fen­de hat die Chan­ce Distanz für sich zu wah­ren und sich durch die Hil­fe nicht selbst auf­zu­wer­ten. Der Pati­ent hin­ge­gen kann unab­hän­gig vom Gefühl des Hel­fen­den der Abwer­tung kaum entgehen.

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