Mitleid vs. Mitgefühl

Eine für die prak­ti­sche Arbeit in einem Hel­fer­be­ruf mei­nes Erach­tens sehr pra­xis­re­le­van­te Unter­schei­dung ist die zwi­schen Mit­ge­fühl und Mit­leid. Pra­xis­re­le­vant ist die­se Unter­schei­dung vor allem im Hin­blick auf die Dyna­mik der Kom­mu­ni­ka­ti­on bzw. der Zusam­men­ar­beit zwi­schen Per­so­nen, die hel­fen und Per­so­nen, denen gehol­fen wird. Die­se Dyna­mi­ken kön­nen sowohl im Bereich ganz per­sön­li­cher, pri­va­ter Hil­fe auf­tre­ten, als auch im pro­fes­sio­nel­len Bereich. Auch wenn die Zuspit­zung der Dyna­mi­ken im pro­fes­sio­nel­len Bereich sel­te­ner sein mögen als im privaten/freiwilligen Kon­text, so bedeu­tet das nicht, dass sie im pro­fes­sio­nel­len Bereich nicht auf­tre­ten kön­nen. Die hier modell­haft geschil­der­ten Dyna­mi­ken las­sen sich auf ent­spre­chen­de Situa­tio­nen sowohl im privaten/freiwilligen Bereich als auch auf den pro­fes­sio­nel­len Kon­text anwen­den. Im pro­fes­sio­nel­len Kon­text ist ein Ver­ständ­nis not­wen­di­ger, hilf­reich kön­nen ent­spre­chen­de Erkennt­nis­se aber auch für den pri­va­ten Bereich sein.

Zunächst han­delt es sich erst ein­mal um eine auf den ers­ten Blick ganz posi­ti­ve Sache. Jemand braucht Hil­fe — und bekommt sie. Die Bereit­stel­lung von Hil­fe geschieht aus Empa­thie her­aus und mit einer ent­spre­chen­den Moti­va­ti­on — im pro­fes­sio­nel­len Kon­text: mit einer ent­spre­chen­den Hal­tung, wobei die Hal­tung (Inter­es­se an Men­schen) wich­ti­ger ist als die ver­wen­de­te Tech­nik (Edgar Schein).

Empa­thie kann sich als Mit­ge­fühl äußern. In die­sem Fall führt das Mit­ge­fühl zu einem Hilfs­an­ge­bot und einer unter­stüt­zen­den Hand­lung. Empa­thie kann sich aber auch als Mit­leid äußern. Mit­leid führt in der Regel nicht nur zu Unter­stüt­zung, son­dern zu direk­ter Hil­fe. Wäh­rend ich in dem einen Fall viel­leicht „Hil­fe zur Selbst­hil­fe“ leis­te, wer­de ich in den ande­ren Fall direkt hel­fen, also der Per­son Auf­ga­ben abneh­men oder bestimm­te Din­ge für die Per­son erledigen.

Natür­lich ist die­se Unter­schei­dung zuge­spitzt, und frei­lich bleibt die­se Unter­schei­dung irgend­wie theo­re­tisch — weil die Pra­xis eben erfor­dert, was sie erfor­dert. Wenn jemand etwas nicht weiß oder kann, zum Bei­spiel jemand, der neu in Deutsch­land ist und der Lan­des­spra­che nicht mäch­tig ist, sich nicht zurecht­fin­det und Hil­fe bei For­mu­la­ren und Behör­den­gän­gen braucht oder sich nicht durch einen Super­markt fin­det, weil buch­stäb­lich ALLES unbe­kannt ist, dann benö­tigt die­se Per­son direk­te Hil­fe. Wer sich mit die­ser Form direk­ter Hil­fe aus­kennt, weiß aber auch, dass es hier eine inter­es­san­te Fra­ge gibt — näm­lich die, wann man mit wel­cher direk­ten Hil­fe­leis­tung auf­hört und damit den Ver­selbst­stän­di­gungs­pro­zess in Gang setzt.

Hel­fe ich aus Mit­ge­fühl, habe ich die­se Gren­ze eher im Blick, als wenn ich aus Mit­leid her­aus han­de­le. Anders, ggf. über­trie­ben aus­ge­drückt: Mit­leid führt eher zu Über­grif­fig­keit, also zur Behel­li­gung mit Hil­fe­leis­tun­gen, die die ande­re Sei­te gar nicht erfragt hat. Direk­te Hil­fe führt aber eben mit der Zeit auch zu Abhän­gig­keit – gewöhnt man sich erst ein­mal an direk­te Hil­fe, sinkt die Not­wen­dig­keit (und mit der Zeit auch die Bereit­schaft), sich selbst zu hel­fen. Das erklärt die bis­wei­len nega­ti­ven Emo­tio­nen der Hel­fer: „Da hel­fe ich denen so viel, und dann wer­den sie undank­bar und begin­nen zu for­dern. Das ärgert mich.“ Zu lan­ge gewähr­te direk­te Hil­fe kann auf bei­den betei­lig­ten Sei­ten zu Wut füh­ren: Wut dar­über, dass die ande­re Sei­te undank­bar und for­dernd ist, und Wut dar­über, dass die Hil­fe plötz­lich nicht mehr in der gewohn­ten Form gewährt wird. 

Die Fra­ge nach dem Beginn die­ser Dyna­mik gleicht der sprich­wört­li­chen Fra­ge nach der Hen­ne oder dem Ei, bzw. wel­ches von bei­den zuerst da war. Ich hel­fe, weil ich Mit­leid habe, und mein Gegen­über ist dank­bar; ich hel­fe wei­ter, mein Gegen­über ist immer noch dank­bar, gewöhnt sich aber dar­an. Ich erken­ne den Punkt nicht, an dem es hilf­reich wäre, die Hil­fe zu redu­zie­ren — ich habe mich ja ver­pflich­tet, und die ande­re Sei­te fragt danach und ist dank­bar. Eige­ne Hand­lungs­in­itia­ti­ven blei­ben aus, man hat ja mich. Ich mache auch wei­ter. Die emo­tio­na­le Bin­dung des anfäng­li­chen Enga­ge­ments, getrie­ben durch das Mit­leid, lässt zwar nach, aber die Ver­pflich­tung ist noch stark. Es wird schon klap­pen, sage ich mir. Aber es klappt irgend­wie nicht. Und der Hand­lungs­druck (Behör­den­gän­ge oder wel­che Hil­fe­be­dar­fe auch immer) bleibt hoch. Also los. 

Spä­tes­tens hier fängt die Kat­ze an, sich in den sprich­wört­li­chen Schwanz zu bei­ßen. Ich wun­de­re mich, ärge­re mich viel­leicht, ich spre­che die not­wen­di­ge Ver­selb­stän­di­gung zwar an und mein Gegen­über nickt auch, aber das nächs­te Pro­blem kommt… Und ja, es ist viel ein­fa­cher und geht viel schnel­ler, wenn ich es gleich selbst mache. 

Zack, der Gewöh­nungs­ef­fekt tritt ein — damit kommt es auch zu immer neu­en Fra­gen nach direk­ter Hil­fe — und damit star­tet auch lang­sam die Frus­tra­ti­ons­spi­ra­le bei mir. Spä­ter folgt Unver­ständ­nis, lei­se Wut, am Ende Erschöp­fung und im schlimms­ten Fall sogar Hass. Nicht weni­ge erschöpf­te Sozi­al­ar­bei­ter, Leh­rer, Job­cen­ter­mit­ar­bei­ter „has­sen“ ihre Kli­en­ten regel­recht. Sie ver­su­chen natür­lich, das zu ver­drän­gen, es irgend­wie nicht raus­zu­las­sen, aber so man­che oder man­cher macht irgend­wann Sprü­che wie: „Die krie­gen alles in den … gebla­sen, aber wer küm­mert sich um mich?!“ Vari­an­ten die­ses Sat­zes sind ein siche­res Zei­chen dafür, dass man irgend­wann vor lan­ger Zeit — und spä­ter immer wie­der — ver­ges­sen hat, aus dem Modus der direk­ten Hil­fe auszusteigen.

Man könn­te jetzt schnell und spitz schluss­fol­gern, dass „Mit­ge­fühl“ und aus dem Mit­ge­fühl resul­tie­ren­de Unter­stüt­zung bzw. Hil­fe zur Selbst­hil­fe der irgend­wie „bes­se­re“ Modus sei. Aber das stimmt nicht. Das sieht nur so aus. Der Modus passt nur bes­ser zu unse­rer komi­schen, durch­in­di­vi­dua­li­sier­ten, mehr oder min­der aus schein­bar „auto­no­men“ Ein­zel­per­so­nen bestehen­den Gesell­schaft. Es ist sicher auch der — Ach­tung, böses Wort — „hygie­ni­sche­re“ Modus für die See­le der hel­fen­den Person. 

Aber spä­tes­tens für den Fall der­je­ni­gen, die hier­her­kom­men und noch kaum etwas oder nichts über unse­re Spra­che oder unse­re Kul­tur­tech­ni­ken wis­sen — und vor allem für den Fall der ganz pri­va­ten Hilfs­be­reit­schaft: Wo kom­men wir hin, wenn wir nicht mehr mitleiden? 

Frei­lich kann man mit Mit­leid nichts aus­rich­ten. Man kann bei­spiels­wei­se einem Men­schen, der an Krebs erkrankt ist, nicht wirk­lich direkt hel­fen, auch wenn man ihn liebt. Aber genau die­ser Impuls, nicht nur pro­fes­sio­nell-distan­ziert empa­thisch zu reagie­ren, son­dern mit­zu­füh­len und bis­wei­len auch mit­zu­lei­den, sorgt für jene wenig berühm­te und schon gar nicht insta­gram­fä­hi­ge All­tags­de­mut, die Men­schen bereit macht, Opfer zu bringen. 

Nur ist es eben auch in die Natur des Men­schen gelegt, nicht nur Opfer zu brin­gen und nichts dafür haben zu wol­len, son­dern irgend­wann bis an die eige­nen Gren­zen zu gehen und dann doch etwas haben zu wol­len (was zu Über­grif­fig­keit und zur For­de­rung nach Dank­bar­keit führt), oder an die Gren­zen zu gehen und sich dann zu fra­gen, wie man eigent­lich dort­hin gekom­men ist (was zu Distanz und Rück­zug führt). Wir haben es sicher auch mit einem Erbe der frömm­le­ri­schen Über­hö­hung der Selbst­auf­op­fe­rung zu tun. 

Aber zwi­schen der in pro­fes­sio­nel­le Distanz umin­ter­pre­tier­ten Käl­te der durch­in­di­vi­dua­li­sier­ten und neu­er­dings auch dis­kri­mi­nie­rungs­frei-ste­ri­len (Es gibt kei­ne Wit­ze in einer voll­stän­dig inklu­si­ven Gesell­schaft!) Gesell­schaft und der über­grif­fi­gen Mit­leid­e­rei der vom reins­ten Hel­fer­syn­drom Befal­le­nen (hin­ter der For­de­rung nach Dank­bar­keit dreht sich eine zwar gut getarn­te, aber trotz­dem nicht weni­ger lupen­rei­ne Form von Nar­ziss­mus um sich selbst) gibt es einen Mit­tel­weg — den der nichts for­dern­den All­trags­de­mut, die ent­we­der direkt hilft oder eben Hil­fe zur Selbst­hil­fe leis­tet — und zwar unab­hän­gig von der Fra­ge, ob die Hil­fe nun per­sön­lich und frei­wil­lig im pri­va­ten Bereich oder auf pro­fes­sio­nel­lem Wege statt­fin­det. Nur die Gren­ze zu erken­nen, wann es bes­ser ist, mit direk­ter Hil­fe auf­zu­hö­ren, bleibt eine her­aus­for­dern­de Auf­ga­be. Die Ant­wort kann nur eben nicht lau­ten, dass man alles irgend­wie pro­fes­sio­nell und mit Distanz betrach­ten muss. Der sozia­le Preis einer gene­rell distan­zier­ten Ant­wort wäre ungleich höher als die Rei­bungs­ver­lus­te durch den Ärger, den ein Nicht­er­ken­nen der Gren­ze verursacht.

Jörg Hei­dig

Titel­bild: Das Titel­bild wur­de mit Hil­fe künst­li­cher Intel­li­genz erzeugt. 

Von Jörg Heidig

Jörg Heidig, Jahrgang 1974, nach Abitur und Berufsausbildung in der Arbeit mit Flüchtlingen zunächst in Deutschland und anschließend für mehrere Jahre in Bosnien-Herzegowina tätig, danach Studium der Kommunikationspsychologie, anschließend Projektleiter bei der Internationalen Bauausstellung in Großräschen, seither als beratender Organisationspsychologe, Coach und Supervisor für pädagogische Einrichtungen, soziale Organisationen, Behörden und mittelständische Unternehmen tätig. 2010 Gründung des Beraternetzwerkes Prozesspsychologen. Lehraufträge an der Hochschule der Sächsischen Polizei, der Dresden International University, der TU Dresden sowie der Hochschule Zittau/Görlitz.