Neue Monster

Erstes Beispiel:

Ein Mäd­chen stürmt aus dem Hin­ter­aus­gang eines Neu­bau­blocks in einer gro­ßen Stadt. Sie ruft: „Der hat mich ange­fasst, der hat mich ange­fasst!“ Ein Nach­bar beob­ach­tet das und ruft die Poli­zei. Die Ein­satz­kräf­te kom­men und fra­gen das Mäd­chen, was pas­siert ist. Die Schil­de­rung des Mäd­chens ist sehr detail­reich. Spä­ter wird ein Mann abge­führt. Der Mann ist — bald: war — der Stief­va­ter des Mädchens.

Grund­la­ge war eine sehr detail­lier­te und des­halb glaub­haft erschei­nen­de Aussage.

So plau­si­bel das zunächst viel­leicht klin­gen mag — das „des­halb“ ist (min­des­tens: erst­mal) fehl am Platz. Etwas ist nicht glaub­haft, nur weil es detail­reich ist. Etwas kann glaub­hafter sein, wenn es detail­reich ist. Aber Detail­reich­tum kann auch das Pro­dukt einer leb­haf­ten Phan­ta­sie sein. Und Detail­reich­tum kann auch ent­ste­hen, nach­dem etwas sug­ge­riert wur­de. Glaub­haf­tig­keit ist in der Pra­xis hof­fent­lich von ein paar mehr Kri­te­ri­en abhän­gig als nur Detailreichtum.

In der Gerichts­ver­hand­lung sagt das Mäd­chen irgend­wann die fol­gen­den Sät­ze: „Ich soll­te mein Zim­mer auf­räu­men, und ich hat­te kei­nen Bock. Ich kann ihn nicht lei­den. Der ist nicht mein Vater. Als Stief­va­ter ist er ein­fach nur blöd.“
„Hat er irgend­was von dem gemacht, wor­um es hier geht?“, fragt die Rich­te­rin.
Das Mäd­chen schweigt. „Nein“, sagt sie dann.

Dem Mann hilft es nichts mehr. Die Bezie­hung ist kaputt, der Beruf dahin. Der Mann arbei­te­te im sozia­len Bereich. Ihm bleibt nur, weit wegzuziehen.

Zweites Beispiel:

Ein jun­ger Poli­zist ist eine Haus­num­mer in einer bestimm­ten Sport­art. Er kann sich sogar Chan­cen auf einen der vor­de­ren Plät­ze bei den nächs­ten Euro­pa­meis­ter­schaf­ten aus­rech­nen. Und weil er in den sozia­len Netz­wer­ken als Leis­tungs­sport­ler bekannt ist und gern Fotos von sich pos­tet, hat er auch eine der­art hohe Anzahl Fol­lower, dass ande­re Sport­ler sei­ner Art und zuneh­mend auch Kol­le­gen aus dem Poli­zei­dienst nei­disch sind.

Irgend­wann macht er eine bestimm­te Ges­te auf den Fotos. Die Ges­te gefällt ihm. Er hat sich nichts bei der Ges­te gedacht. Sie ist ihm beim Foto­shoo­ting ein­fach eingefallen.

Plötz­lich knallt es. Jemand hat ihn ange­zeigt — wegen des Gebrauchs rechts­ra­di­ka­ler Sym­bo­le. Er wird eine Wei­le sus­pen­diert. Ein Anwalt sagt ihm, da sei nichts dran. Das offi­zi­el­le Ver­fah­ren läuft ins Leere.

Aber der Arbeit­ge­ber hat mitt­ler­wei­le eine Bera­tungs­in­stanz ein­ge­schal­tet (= das betref­fen­de Innen­mi­nis­te­ri­um ist von der Minis­ter­prä­si­den­tin des Bun­des­lan­des ange­hal­ten wor­den, die­se Bera­tungs­in­stanz ein­zu­schal­ten, bevor bestimm­te Jour­na­lis­ten dies öffent­lich ver­lan­gen wür­den). Das betref­fen­de Bun­des­land hat eine unab­hän­gi­ge Struk­tur — nen­nen wir die­se Struk­tur ein­mal „Insti­tut“ — geschaf­fen, die sol­che Fäl­le beur­tei­len soll. Die Leu­te aus dem Insti­tut emp­feh­len kon­se­quen­tes Vorgehen.

Die recht­li­che Prü­fung ergibt wei­ter­hin: nichts.

Aber nun steht die Ergeb­nis­lo­sig­keit der recht­li­chen Prü­fung gegen die Emp­feh­lung des Insti­tuts. Am Ende wird ein hoher Beam­ter aus dem Innen­mi­nis­te­ri­um beim Vor­ge­setz­ten des sport­li­chen Poli­zis­ten anru­fen und sagen: „Ich weiß, da ist wahr­schein­lich nichts dran, aber die­ses Insti­tut ist so hoch ange­han­gen, da kön­nen jetzt nicht kei­ne Kon­se­quen­zen fol­gen. Es muss was pas­sie­ren. Sonst steht in der Pres­se, dass die Poli­zei hier nicht gegen rechts mitmacht.“

Der Poli­zist ist dann zwar nicht bestraft wor­den. Aber er ist auch nicht nicht bestraft wor­den. Das ist eine in büro­kra­tiena­hen Orga­ni­sa­tio­nen durch­aus mög­li­che und auch häu­fig zele­brier­te Opti­on: Man eska­liert nicht, aber man tut auch nichts ande­res. Bspw. bleibt man als vor­ge­setz­te Per­son schweig­sam und zurück­hal­tend, obwohl man genau sieht, dass das durch das feh­len­de Feed­back unsi­che­rer wer­den­de Gegen­über genau das bräuch­te: direk­te Anspra­che und Rück­mel­dung — oder ein­fach nur: nor­ma­le Kom­mu­ni­ka­ti­on. Oder man beför­dert die Per­son ein­fach nicht — obwohl die Per­son ggf. genug geleis­tet hat. Oder man ver­setzt die Per­son auf eine Stel­le, die sie nicht möch­te — oder schlim­mer noch: für die sie inhalt­lich nicht geeig­net, for­mal aber sehr wohl qua­li­fi­ziert ist, UND die sie nicht möchte.

Der sport­li­che Poli­zist hat sei­nen Beam­ten­sta­tus auf­ge­ge­ben, ist in ein ande­res Bun­des­land gezo­gen und hat sich recht erfolg­reich selb­stän­dig gemacht.

Drittes Beispiel:

Ein noch jun­ger Mann denkt über die Fra­ge nach, ob sein Job als Schwei­ßer im Anla­gen­bau noch rich­tig ist. Er ver­dient zwar gut, aber er denkt an die Gän­ge­lei sei­ner Aus­bil­dungs­jah­re und dar­an, wie man hier immer noch mit ihm umgeht. Er fragt sich, was er wol­len wür­de, wenn er könn­te. Irgend­wann wird ihm klar, dass er lie­ber mit Men­schen arbei­tet. Der Mann hört, dass es in Kin­der­gär­ten an Per­so­nal man­gelt. Er beschließt, etwas zu wol­len — und kün­digt. Er erkun­digt sich, schreibt eine Bewer­bung und wird ange­nom­men. Er fängt an, in der Kita zu arbei­ten und geht berufs­be­glei­tend in die Berufsschule.

An einem der ers­ten Tage in sei­ner Kita begeg­net der Mann sei­ner Ex-Freun­din. Sie ist eine der Müt­ter, die Kin­der in Betreu­ung in der Kita haben. Man sagt sich eben­so über­rascht wie fros­tig „Hal­lo“. Ein paar Tage spä­ter sieht der Mann auch den Vater des Kin­des, der ihm gegen­über distan­ziert bleibt.

Der Mann lernt das Kind sei­ner Ex-Freun­din ken­nen — und fragt sich manch­mal, wie die­ses Kind wäre, wenn er der Vater wäre. Dann ver­drängt er den Gedan­ken und ver­sucht, die Ange­le­gen­heit zu ignorieren.

Ein paar Wochen spä­ter blitzt es. Der Mann wur­de ange­zeigt. Die Poli­zei ver­nimmt ihn. Es stellt sich her­aus, dass der Vor­wurf lau­tet, dass er sei­ne Hand in der Hose DES Kin­des gehabt habe.

Der Mann beteu­ert, dass da nichts dran sei. Eine Poli­zis­tin sagt die fol­gen­den Sät­ze: „Ganz egal, ob da etwas dran ist oder nicht; Sie wer­den den Erzie­her­be­ruf wohl ver­ges­sen kön­nen. Der Ein­trag ist da, egal, ob was dran ist oder nicht. Ich fürch­te, dass Sie in die­sem Beruf kei­nen Fuß mehr auf den Boden bekommen.“

Die Summe der Probleme bleibt womöglich gleich

Der ers­te Satz, den es zu all dem zu sagen gibt, ist der fol­gen­de: Wenn da etwas dran ist, soll es, ver­dammt noch­mal, blit­zen. Wie gesagt: Wenn.

Der zwei­te Satz lau­tet dann wie folgt: In jenen Zei­ten, als wir sol­che Sachen noch weg­ge­schwie­gen, ver­drängt und so wei­ter haben, war mehr Mut und mehr Anspre­chen usw. immer auch besser.

Nun leben wir in Zei­ten, in denen das Anspre­chen leich­ter gewor­den ist. Der Dis­kurs hat sich ver­scho­ben, wir sind sen­si­bler für sol­che Din­ge. Aber die Sum­me der Pro­ble­me bleibt womög­lich gleich. Wenn wir die einen Mons­ter abschaf­fen, kom­men neue Mons­ter durch die Hin­ter­tür her­ein. Wir erken­nen sie nicht gleich. Will hei­ßen: Wenn es leich­ter ist, etwas anzu­spre­chen, sinkt die Mut-Schwel­le, braucht es weni­ger Mut, wird das Anspre­chen wahr­schein­li­cher — so weit, so gut — aber irgend­wann kom­men die ers­ten auch auf die Idee, eine gewis­se Grau­zo­ne viel­leicht stra­te­gisch zu nut­zen oder sich die gan­ze Sache sogar auszudenken.

Spitz for­mu­liert muss man fest­stel­len, dass jene häss­li­che Kul­tur des Ver­drän­gens und Beschwei­gens nicht weg ist, wohl aber signi­fi­kant zurück­ge­gan­gen ist. An ihre Stel­le trat mehr Sicher­heit, mehr Schutz, mehr Akzep­tanz, wenn so etwas ange­spro­chen wird. Aber nicht nur das: Irgend­wann gab es die ers­ten, die sich gedacht haben: Ich bin allei­ne mit ihm, ich kann nach­her sonst­was behaup­ten, er ist ein­fach ein Arsch­loch, und das bekommt er jetzt zu spüren.

Und los.

Die Natur des Menschen ändert sich nicht

Haben wir frü­her geschwie­gen und ver­drängt und konn­ten Täter ihre Opfer dem­entspre­chend leich­ter in Schwei­ge­spi­ra­len hal­ten, erle­ben wir heu­te einer­seits einen erleich­ter­ten Umgang mit dem Pro­blem auf der Opfer­sei­te, also im Prin­zip eine Stär­kung der deut­lich schwä­che­ren Sei­te — aber auch eine neue Täter­schaft. Durch die neu­en Rege­lun­gen zum Kin­der­schutz usw. wird es leich­ter zu denun­zie­ren. Es reicht nun oft das Anzäh­len. Danach kann man die Sache eben nicht mehr aus­schlie­ßen. Bewei­se gibt es ggf. kei­ne. Aber aus­schlie­ßen kann man es eben auch nicht. Der sprich­wört­li­che „Schwar­ze Peter“ lan­det viel­leicht beim Beschul­dig­ten, aber es ist ja gar nicht erwie­sen — aber das Jugend­amt ist invol­viert und kann die Sache nicht abschlie­ßend ent­schei­den, weil ja nicht aus­ge­schlos­sen wer­den kann, dass…

Der sprich­wört­li­che „Schwar­ze Peter“ geht in Fet­zen oder wird in der Schwe­be gehal­ten, nie­mand weiß das so genau. Im Ide­al­fall han­deln alle Sei­ten pro­fes­sio­nell, aber oft genug kommt auch dabei nichts her­aus, weil die Geset­zes­la­ge eben erlaubt, Din­ge zu behaup­ten, die in der Fol­ge dann eben nicht mehr aus­ge­schlos­sen wer­den kön­nen, und nie­mand will zum Bei­spiel einem fünf­jäh­ri­gen Kind zumu­ten, was es bedeu­ten wür­de, bei einem Miss­brauchs­ver­dacht auf BEWEISE zu war­ten, also wie­der Schwe­be­zu­stand. Aber was ist, wenn nichts dran ist, wenn das Kind nur geflun­kert hat, was natür­lich vor­kom­men kann, oder wenn sich die Psy­cho­lo­gin beim Ein­satz ihrer pro­jek­ti­ven Spiel­me­tho­den geirrt hat und etwas zu sehen meint, das nie statt­ge­fun­den hat? Sol­che Irr­tü­mer sind viel­leicht sel­ten, aber möglich. 

Hier soll weder für noch gegen etwas gespro­chen wer­den. Alles, was hier gesagt wer­den soll, ist, dass an die Stel­le der alten Mons­ter ver­mut­lich neue Mons­ter tre­ten und die Sum­me der Pro­ble­me womög­lich gleich bleibt. 

Wie wir die Din­ge sehen, sagt mehr über uns selbst aus, als über die jewei­li­gen Din­ge — und je nach dem, wann sich die Grund­li­ni­en unse­res Den­kens gebil­det haben, ist unse­re Pro­blem­wahr­neh­mung auch ggf. durch den jewei­li­gen Zeit­geist kon­no­tiert bzw. „vor­ge­prägt“. Es gibt die Vor­stel­lung des vor­ur­teils­frei­en Her­an­ge­hens an die Din­ge. Aber die­se Vor­stel­lung führt lei­der wahr­schein­lich wie­der­um zu einem Vorurteil.

Eine spit­ze Bemer­kung zum Schluss, qua­si nur als Bei­spiel: Die cri­ti­cal race theo­ry hat mit ein paar all­zu fins­te­ren Selbst­ver­ständ­lich­kei­ten, Vor­ur­tei­len usw. auf­ge­räumt. Aber der Auf­räum­pro­zess war so kon­se­quent, dass nun, gewis­ser­ma­ßen durch die Hin­ter­tür der Gegen­re­ak­ti­on, ein Hau­fen neu­er Pro­ble­me auf den Tisch kommt. Wäh­rend die ver­meint­li­chen Sie­ger noch damit beschäf­tigt sind, ihre neue Welt zu bestau­nen und die Geschich­te neu zu schrei­ben, machen sich in ihrem Rücken neue Pro­ble­me breit, die theo­re­tisch zwar nicht exis­tie­ren, es real aber sehr wohl tun. Spal­tung der Welt nichts dagegen. 😉

Jörg Hei­dig

Von Jörg Heidig

Dr. Jörg Heidig, Jahrgang 1974, ist Organisationspsychologe, spezialisiert vor allem auf Einsatzorganisationen (Feuerwehr: www.feuerwehrcoach.org, Rettungsdienst, Polizei) und weitere Organisationsformen, die unter 24-Stunden-Bedingungen funktionieren müssen (bspw. Pflegeheime, viele Fabriken). Er war mehrere Jahre im Auslandseinsatz auf dem Balkan und hat Ende der 90er Jahre in Görlitz Kommunikationspsychologie studiert. Er schreibt regelmäßig über seine Arbeit (www.prozesspsychologen.de/blog/) und hat eine Reihe von Büchern veröffentlicht, darunter u.a. "Gesprächsführung im Jobcenter" oder "Die Kultur der Hinterfragung: Die Dekadenz unserer Kommunikation und ihre Folgen" (gemeinsam mit Dr. Benjamin Zips). Dr. Heidig lebt in der Lausitz und begleitet den Strukturwandel in seiner Heimat gemeinsam mit Stefan Bischoff von MAS Partners mit dem Lausitz-Monitor, einer regelmäßig stattfindenden Bevölkerungsbefragung (www.lausitz-monitor.de). In jüngster Zeit hat Jörg Heidig gemeinsam mit Viktoria Klemm und ihrem Team im Landkreis Görlitz einen Jugendhilfe-Träger aufgebaut. Dr. Heidig spricht neben seiner Muttersprache fließend Englisch und Serbokroatisch sowie Russisch. Er ist häufig an der Landesfeuerwehrschule des Freistaates Sachsen in Nardt tätig und hat viele Jahre Vorlesungen und Seminare an verschiedenen Universitäten und Hochschulen gehalten, darunter an der Hochschule der Sächsischen Polizei und an der Dresden International University. Sie erreichen Dr. Heidig unter der Rufnummer 0174 68 55 023.