Wir sind in eine Zeit gezwungen, in der wir uns mit dem Verfall des Vertrauten beschäftigen müssen.
Das ist im Prinzip immer so, aber vielleicht erkennen wir während eines stillen Blicks zurück, dass sich momentan sehr viel sehr schnell ändert — und während die einen sagen, dass wir die Welt nicht schnell genug verändern können, meinen die anderen, dass es viel zu schnell geht.
Nachdem ich die Veränderungen der letzten Jahre beobachtet und Konsequenzen zu spüren bekommen habe, bin ich mindestens skeptisch, wenn nicht zerrissen. Sie vielleicht auch?
Das Licht der Erkenntnis ist ein stiller und seltener Gast. Man weiß nicht recht, wann der Gast kommt oder ob er gerade da ist, aber man kann ziemlich sicher zwei Dinge von diesem Gast sagen: Erstens wird man merken, wenn er da gewesen ist. Manchmal dauert es eine Weile, bis man es merkt, und manchmal macht einem das dann zu schaffen — aber merken wird man es gewiss. Zweitens flieht dieser Gast ziemlich sicher vor der Nacht – und leuchtet fortan woanders. Ein Umstand übrigens, von dem sich die deutschen Universitäten im internationalen Vergleich während der letzten rund 90 Jahre nicht so richtig erholt haben (siehe die Fußnote am Ende des Textes). Der Gast flieht aber nicht nur vor der finsteren Nacht, sondern er wendet sich auch von allzu dröhnender Gewissheit ab.
Die Frage ist, wo das Licht und wo die Dunkelheit ist. Fragen wir jene, die sich ihrer Meinung ganz sicher sind, gibt es mindestens zwei verschiedene Versionen der Welt — mit sich gegenseitig ausschließenden Lichtquellen und Schattenseiten.
Haben wir neben „Meinungen“ vielleicht auch „Erkenntnisse“?
Eigentlich sollten sich Wissenschaftler fragen können, ob neben einer geltenden (also zustimmungsfähigen) Sichtweise auch andere Sichtweisen plausibel oder wenigstens hilfreich wären. Spätestens wenn es aber gar nicht mehr so sehr um Zustimmung geht, sondern es vor demonstrativer Gewissheit tönt und dröhnt, könnten Wissenschaftler anfangen, sich Fragen zu stellen, anstatt mitzudröhnen oder gar die Geschichte umzuschreiben.
Eine spitze Frage: Sind die Sozialwissenschaften (einschließlich verwandter Disziplinen) dieser Tage tatsächlich in der Lage, Erkenntnisse zu produzieren, oder haben sie zur aktuellen Situation auf der Welt zwar Erwartbares, aber kaum Hilfreiches oder gar Neues zu sagen?
Wir erfahren in der Regel, was — und vor allem: wer — das Problem sei und warum.
Die Erkenntnis, dass wir, wenn wir uns suchen, nichts finden, scheint dabei wie ein Messer im Rücken zu stecken, ohne dass es jemand bemerkt. Das sind nur wir: Es kommt niemand, um uns zu retten. Wir jagen uns nur gegenseitig vor uns her.
Wenn wir fragen, was passiert, wenn wir so weitermachen, lauten zwei populäre Antworten: #niewiederistjetzt und: Wir werden die gewesen sein, die zwar gewusst, aber kaum etwas geändert haben, als es noch ging.
Könnte es nicht auch sein, dass, wenn wir so weitermachen, gerade eintritt, was viele verhindern möchten?
Sagen Sie mir, welche Antwort die bessere ist. Ich ahne derweil, welche Antwort die wahrscheinlichere ist, und meine, dass es sich um ein perfektes Dilemma handelt.
Wenn wir weiter belehren, dass es — politisch und ökologisch — nicht progressiv genug zugehen könne, wächst wahrscheinlich nicht die Einsicht, sondern die Gegenreaktion (Widerstand gegen Überzeugungsdruck). Und dann tritt erst recht ein, was verhindert werden sollte.
Auch wenn in unseren Breitengraden kaum noch jemand glaubt: Es ist besser, sich so zu verhalten, als ob es Gott gäbe — so unwahrscheinlich es auch ist, dass stimmt, was in den heiligen Büchern steht.
Solcherlei Gemeinsames gibt es aber nicht (mehr), und dass wir in den progressiven Themen etwas neues Gemeinsames finden, scheint mindestens unwahrscheinlich.
Manche von uns bestaunen noch das Gerippe einer Welt, die sie „Heimat“ nannten, und begreifen nicht, wie das so schnell gehen konnte; sie rufen noch: „Das kann nicht sein!“ Dementsprechend denken sie an eine Zeit, in der vermeintlich vieles „ganzer“ oder „besser“ schien als heute — während andere bereits allein solche Emotionen oder Gedanken für „gestrig“ oder Schlimmeres halten.
Es wird keine „alte Welt“ zurückkehren, auch dann nicht, wenn wir die D‑Mark wieder einführen oder aus der EU austreten. Gleichzeitig können wir uns nur so lange in die „transformationale Richtung“ biegen, bis „systemrelevante Strukturen“ brechen und die Brüche nicht mehr zu verschmerzen sind — oder die Zustimmung zum „transformationalen Programm“ soweit zurückgeht, dass sie ins Gegenteil umschlägt.
Ganz nebenbei: Wer wird den sozialen „Traumzauberwald“, den wir uns zugelegt haben, finanzieren, wenn die Marktführerschaften des Landes derart unter Druck gesetzt werden, wie das gegenwärtig der Fall ist? Und wo werden Innovationen herkommen — und werden es „unsere“ Innovationen sein, also werden „wir“ als Gemeinwesen, als Gesellschaft etwas davon haben?
Damit hier kein falscher Eindruck entsteht: Der Anteil derjenigen, die eine ganz bestimmte politische Protestpartei bevorzugen, ist nicht etwa unter den Älteren am stärksten, im Gegenteil: Der Anteil ist (zumindest laut unseren eigenen Befragungsergebnissen) unter den Jüngeren noch höher, weil es unter den Jüngeren viel weniger Menschen gibt, die „etablierte“ Parteien bevorzugen. Das besagte „Problem“ wird also nicht weggehen; es ist gekommen, um zu bleiben, und es wird vermutlich stärker werden — insbesondere dann, wenn die Belehrungen so weiterdröhnen.
Wie auch immer man die Sache sieht: Der Preis könnte entsetzlich sein.
Anstatt uns tatsächlich unabhängiges (und wenn das schon nicht möglich ist, dann wenigstens vielseitigeres) Denken zu leisten, begeben wir uns in Lagerkämpfe und tun so, als wäre „Wahrheit“ eine Gesinnungssache. Wahrheit ist aber eine Zustimmungssache, bei der (hoffentlich) die „Sehnsucht nach Autorität“ ebenso wenig gewinnt wie die „autoritäre Korrektheit“. Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt. Heuer erwische ich mich manchmal bei dem Gedanken: Aber sie stirbt.
In der Demokratie geht es zunächst einmal um Mehrheiten.
Wie wäre es, wenn wir akzeptierten, dass die Zukunft das Ergebnis eines langen Wettbewerbs ist, Irrtümer eingeschlossen? Insofern steht zu vermuten, dass Projekte wie Genderregelungen, Bürgergeld, Rente mit 63, Homeoffice für alle, Heizgesetz usw. ein „kurzer Sommer“ bleiben.
Die ca. zwischen 1946 und 1966 Geborenen werden wahrscheinlich einfach nur Glück gehabt haben — ihre Biographie fiel in eine Periode relativen Friedens, relativen Wachstums und Wohlstands — einschließlich sich signifikant erweitert habender individueller Entscheidungs- und Gestaltungsspielräume. Es bleibt abzuwarten, ob eine solche „Verbesserung“ innerhalb eines so kurzen Zeitraums noch einmal möglich sein wird, oder ob nachfolgende Generationen sich diesbezüglich nicht die Augen reiben werden (oder schon reiben).
Wir sind in unsere jeweilige Zeit geworfen. An dieser „Geworfenheit“ können wir nichts ändern.
Allerdings erstaunt es, wie leicht es geworden ist, uns gegenseitig zu verachten.
Die neue Verachtung ist dabei wahrscheinlich nur ein Symptom; die Ursache ist womöglich am Ehesten in der Individualisierung zu suchen: Unsere Egos liegen heute viel „offener“ als früher. Narzissmus wird zwar allenthalben angeprangert, aber gleichzeitig nehmen wir uns selbst und unsere persönlichen Interessen so wichtig, dass wir unsere persönlichen Belange „auf Augenhöhe“ mit dem Gemeinsamen, dem uns (theoretisch) Verbindenden verhandeln — oder sogar darüber stellen. Was heute als normal angesehen wird, hätte vor Jahrzehnten womöglich noch als narzisstisch gegolten.
Wir erkennen andere Meinungen oft nicht als das an, was sie sind: andere Meinungen, sondern wir erkennen andere Meinungen als falsch an, weil wir es besser zu wissen glauben, weil der eigene Standpunkt „wahrer“ (= zustimmungsfähiger) erscheint — nur dass es eben früher zur Zustimmungsfähigkeit der Zustimmung anderer bedurft hätte, in Zeiten überfeinerter individueller Ansprüche aber die Zustimmung meiner selbst zu meiner eigenen Meinung ausreicht, um die Sache für wahr zu halten.
So wird plausibel, dass es nicht nur Fakten, sondern auch „alternative Fakten“ (Kellyanne Conway) gibt — und alternative Fakten als wahr betrachtet werden können. Gleichzeitig stellt der gleichsam universelle Geltungsanspruch jeder möglichen individuellen Spielart des Daseins das vermeintlich Gemeinsame dar, ohne dass es mehr etwas tatsächlich Gemeinsames gibt — womit die Atomisierung der Gesellschaft vollendet wäre.
Hinzu kommt, dass die Erlebnisgeneration tot ist. Zeigten viele Angehörige dieser Generation vielleicht angesichts des Entsetzlichen, das stattgefunden hatte, eine gewisse Zurückhaltung im Umgang miteinander oder, umgekehrt formuliert, einen trotz heftigen Streits starken Willen, gemeinsam an der Zukunft des Landes zu arbeiten (auch über Meinungsverschiedenheiten oder gar regelrechte Gräben hinweg), so ist von einer solchen Zurückhaltung und einem solchen Willen heute kaum etwas zu spüren.
Es ist gar nicht schlimm, sich heftig zu streiten. Wir aber sprechen uns in einem Streit lieber gegenseitig die Legitimität der Wortwahl oder gleich des ganzen Standpunkts ab, anstatt dass wir uns tatsächlich stritten. Es findet „gefühlt“ ein „Kampf um die Wahrheit“ statt, und indem Teile der Wissenschaften (die „sozialen“ vornweg) hier „mitkämpfen“, werden sie mehr zum Teil des Problems als zum Teil eines Weges in die Zukunft.
Die „neue Verachtung“ breitet sich auf allen Seiten aus — auch die vermeintlich „Progressiven“ begründen die eigene Wählbarkeit mitunter mit der Verachtung anderer. Die — oft als allgemeingültig postulierten — Korrektheitsansprüche gelten quasi nur im eigenen Garten.
Damit wird die Sache zum kollektiven Phänomen; es gibt m.E. keine Seite, die sich der Verachtung noch nicht bedient hätte.
Man möge sich also ernsthaft fragen, was dabei herauskommt, wenn wir so weitermachen.
Es ist allerdings auch eine interessante Frage, ob man angesichts der Funktionsweise unserer heutigen Kommunikationsmechanismen (soziale Netzwerke) wirklich anders weitermachen könnte, ohne sich selbst in die Bedeutungslosigkeit zu schicken.
Die sprichwörtliche Katze beißt sich vermutlich (mal wieder) in den Schwanz.
Fußnote:
Die Vertreibung jüdischer und nichtkonformer Wissenschaftler während des Dritten Reiches hatte tiefgreifende Auswirkungen auf das deutsche Universitätssystem. Vor 1933 zählten deutsche Universitäten zu den weltweit führenden Institutionen in Wissenschaft und Forschung. Durch die erzwungene Emigration vieler herausragender Gelehrter verlor Deutschland jedoch einen erheblichen Teil seines intellektuellen Kapitals. Nach dem Zweiten Weltkrieg gelang es den deutschen Universitäten nur teilweise, an ihre frühere Exzellenz anzuknüpfen. Obwohl einige Institutionen in bestimmten Fachbereichen international anerkannt sind, erreichen heute nur wenige deutsche Universitäten Spitzenplätze in globalen Rankings. Dies wird oft auf die langfristigen Folgen der Vertreibungen während des Nationalsozialismus zurückgeführt, die eine nachhaltige Schwächung der deutschen Wissenschaftslandschaft bewirkten.
PS: Das Beitragsbild wurde mit Hilfe künstlicher Intelligenz erstellt.