Die letzte Sitzung: Wie Psychologie an (vermeintlicher) Wertschätzung erstickt – und Konfrontation zu einer „höflichen Nebelbank“ verkommt

Konfrontation

Frü­her hieß Kon­fron­ta­ti­on: Streit, Debat­te, Rei­bung. Ein Wag­nis, bei dem zwei Rea­li­tä­ten auf­ein­an­der tra­fen – und viel­leicht wach­sen konn­ten. Frei­lich gab es kei­ne Garan­tie dafür, dass Kon­fron­ta­ti­on auch hilf­reich war. Aber ohne Wag­nis kein Ergebnis.

Heu­te ist Kon­fron­ta­ti­on kein Wag­nis mehr, denn man muss eine Trig­ger­war­nung ein­bau­en. Sonst droht ein Skan­dal, weil eine Kon­fron­ta­ti­on ein Risi­ko für die psy­cho­lo­gi­sche Sicher­heit bedeu­ten könn­te, sich jemand „getrig­gert“ füh­len könn­te, ein „Ver­stoß“ gegen die „hier geleb­te Wert­schät­zungs­kul­tur“ vor­lie­gen könn­te oder ähnliches.

Wir leben in einer Zeit, in der man Men­schen vie­les neh­men darf – nur nicht ihr Gefühl, recht zu haben.

Moment: Wer weiß denn schon, ob sie oder er recht hat? 

Und kann man „recht haben“ füh­len? Wahr­schein­lich nicht.

Aber es darf eben nie­mand mehr ver­lie­ren. Es darf nie­mand mehr „getrig­gert“ wer­den. Das „Gefühl“ wiegt heu­er schwe­rer als die „Sache an sich“. Also selbst wenn jemand nicht recht hat, darf ich ihr oder ihm den­noch nicht das Gefühl „geben“, ggf. nicht recht zu haben.

Das ist der Grund, war­um es heu­er so schwer ist, wirk­lich offen zu spre­chen: Unse­re Egos sind wie Mimo­sen, wir wer­den zu ver­flix­ten Weich­ei­ern. Unse­re Ver­hält­nis­se zuein­an­der sind von einem Kli­ma der Emp­find­sam­keit geprägt.

Men­schen sind „wacher“ gewor­den, sen­si­bler, reflek­tier­ter. Sie erken­nen Mikro­ag­gres­sio­nen, dekon­stru­ie­ren Sprach­bil­der, spü­ren impli­zi­te Hier­ar­chien. Aber gleich­zei­tig haben sie ver­lernt, Wider­spruch aus­zu­hal­ten. Oder viel­mehr: Sie inter­pre­tie­ren Wider­spruch als Kon­fron­ta­ti­on oder gleich als Beziehungskündigung.

Ist das „nor­mal“?

Allein für den Umstand, die­se Fra­ge so zu stel­len, flie­ge ich wahr­schein­lich „gefühlt“ aus jedem „Dis­kurs“. 😉

Ich kann nicht „wach“ oder „acht­sam“ sein, um Miss­stän­de auf­zu­de­cken — und gleich­zei­tig jede Kri­tik an mir selbst wie das reins­te Sen­si­bel­chen abweh­ren, indem ich mei­ne sen­si­blen Sei­ten mit „kri­ti­schen“ Theo­rien mas­kie­re und die durch die Anwen­dung der ent­spre­chen­den theo­re­ti­schen Per­spek­ti­ven fest­ge­stell­ten „Miss­stän­de“ mit heh­ren Wor­ten „dekon­stru­ie­re“. Dahin­ter liegt oft nur simp­ler Selbst­schutz, und die ver­wen­de­ten Theo­rien oder die Art ihrer Ver­wen­dung — das kann man manch­mal nicht so genau aus­ein­an­der­hal­ten — sind oft genug so flach wie das Was­ser am Strand von Usedom.

Kon­fron­ta­ti­on wird nicht mehr als Teil eines Ent­wick­lungs­pro­zes­ses betrach­tet, son­dern als Affront gegen die eige­ne Iden­ti­tät – als Stö­rung im Sys­tem des stän­di­gen Sich-Bestä­tigt-Füh­lens. Die Zumu­tung, die frü­her womög­lich Klar­heit brach­te, muss heu­te höf­lich blei­ben, um die fra­gi­le Selbst­wahr­neh­mung nicht zu gefährden.

Die Verwandlung: Von der Zumutung zur Spiegelbildpflege

Was wir gesell­schaft­lich beob­ach­ten, spie­gelt sich auch in der Psy­cho­lo­gie. Wenn man Psy­cho­lo­gin oder Psy­cho­lo­ge wird, erlernt man eigent­lich einen Beruf, mit dem man Men­schen hel­fen kann, sich selbst zu erken­nen – nicht nur, wie sie sich füh­len, son­dern wie sie (unter den aktu­el­len Gege­ben­hei­ten) sind.

Das ist ein Unter­schied. Aber es wird zuneh­mend schwie­ri­ger, die­sen Unter­schied zu benennen.

Die für die­sen Beruf not­wen­di­ge Hal­tung wur­de u.a. mit fol­gen­den Begrif­fen beschrie­ben: Wahr­haf­tig­keit, Echt­heit, Wert­schät­zung, Empa­thie, Inter­es­se. Es war kei­ne Rede davon, dass es nicht mehr mög­lich sei zu kon­fron­tie­ren. Man muss das ja nicht gleich im Sti­le man­cher älte­rer Psy­cho­ana­ly­ti­ker prak­ti­zie­ren — kla­re Wor­te rei­chen ja.

Aber sind heu­er kla­re Wor­te über­haupt noch möglich?

Wir leben in einem „Zeit­al­ter der Zart­heit“. Was einst Kon­fron­ta­ti­on war, wur­de „Grenz­über­schrei­tung“. Was einst Klar­heit war, wur­de „Käl­te“. Was einst The­ra­pie war, wur­de Ser­vice: ein war­mes, wei­ches Gesprächs­an­ge­bot im Diens­te einer Gesell­schaft, die alles dul­det – außer der Zumu­tung, sich anders zu sehen, als man sich selbst sehen will.

Die Psy­cho­lo­gie hat sich ein­ge­fügt, und zwar aus einem gewis­sen Anpas­sungs­druck her­aus — Anpas­sung an eine Kul­tur, die Rei­bung ver­mei­det, Ver­letz­bar­keit glo­ri­fi­ziert und jede Irri­ta­ti­on als Mikro­ag­gres­si­on etikettiert.

Aus dem Spie­gel der Selbst­er­kennt­nis wur­de ein Karus­sell der Selbstro­ta­ti­on: Man dreht sich. Man betrach­tet sich. Man ver­steht sich. Und man bleibt, wo man war.

Empathie als Endstation

Empa­thie dien­te einst der Ver­trau­ens­bil­dung – und war dann oft genug der Tür­öff­ner zur Kon­fron­ta­ti­on. Heu­te ist sie End­sta­ti­on. Der Kli­ent weint – wir affir­mie­ren. Die Kli­en­tin ver­mei­det – wir spie­geln. Der Kli­ent wie­der­holt Mus­ter – wir nen­nen es Pro­zess.

Wir kon­fron­tie­ren nicht.

Doch ein Schmerz, der nicht unter­bro­chen wird, wächst nicht in die Tie­fe, son­dern ins Sys­tem. Wenn jede Regung als rich­tig gilt — und wenn dem gegen­über jede Zumu­tung bei­na­he als „Gewalt“ gilt, dann stirbt Ver­ant­wor­tung an einer Über­do­sis Verständnis.

Die Fol­ge: Kei­ne Rei­bung. Kei­ne Ent­wick­lung. Nur noch spie­gel­wei­che Bestätigung.

Nebel als neues Gesicht der Konfrontation

Kon­fron­ta­ti­on ist heu­te oft pas­siv-aggres­siv ver­packt: in Feed­back­rhe­to­rik, durch­ge­spült mit Coaching-Vokabular.

„Ich fin­de es span­nend, wie du damit umgehst…“
„Ich habe da eine Irri­ta­ti­on gespürt…“
„Ich neh­me bei dir ein Bedürf­nis wahr…“

Es sind Wor­te, die Dia­log sug­ge­rie­ren – aber Nebel erzeu­gen.
Kein Risi­ko, kei­ne Rei­bung — nur wei­ches Kon­flikt­ma­nage­ment mit ein­ge­bau­ter Emotionspolsterung.

Und wer sich dem ver­wei­gert? Wer noch klar spricht, Posi­ti­on bezieht, viel­leicht sogar „aus­holt“? Der wird schnell als „toxisch“, „unan­ge­mes­sen“ oder „nicht kon­struk­tiv“ etikettiert.

Der Therapeut als Komplize

In einer nar­ziss­tisch getön­ten Gesell­schaft wird der The­ra­peut oft zum Kom­pli­zen des (ver­drän­gen­den) Ichs, nicht mehr zum Her­aus­for­de­rer. Er sorgt für Sicher­heit, Spie­ge­lung, Selbst­re­gu­la­ti­on – in einem Raum, in dem das Selbst längst nicht mehr wächst, son­dern sich nur noch um sich selbst dreht und sich ver­mark­tet. The­ra­pie wird zur Dienst­leis­tung an der Selbst­be­stä­ti­gung, nicht mehr zur Ein­la­dung zum Wachstum.

Was ist Konfrontation wirklich?

Kon­fron­ta­ti­on ist ein Loya­li­täts­an­ge­bot. Sie sagt:
„Ich traue dir zu, dass du das aus­hältst.“
„Ich neh­me dich ernst genug, um dich zu stö­ren.“
„Ich will nicht Har­mo­nie – ich will Klarheit.“

Kon­fron­ta­ti­on ist unbe­quem. Kon­fron­ta­ti­on for­dert. Sie ist not­wen­dig, wenn Men­schen wach­sen wol­len, wenn Sys­te­me gesund blei­ben sol­len, wenn Wahr­heit eine Chan­ce haben soll.

Die Zukunft der Konfrontation

Die Zukunft der Kon­fron­ta­ti­on hängt davon ab, ob wir (wie­der) ler­nen, dass Unstim­mig­keit kein Bruch, son­dern ein Prüf­stein ist. Dass eine Gren­ze kein Angriff ist. Dass Klar­heit nicht Käl­te bedeu­tet. Dass Respekt nichts mit unbe­ding­ter Zustim­mung zu tun hat.

Sonst steu­ern wir auf eine Welt zu, in der alles gesagt wird, ohne dass es jemals zur Spra­che kommt. Dann wird Kon­fron­ta­ti­on nicht ster­ben. Sie wird nur unsicht­bar. Sie äußert sich „hin­ten­rum“ über Drit­te. Damit wird sie unehr­li­cher — und gefährlicher.

Wann immer ein The­ra­peut oder eine The­ra­peu­tin in sei­nem oder ihrem Büro sitzt und sagt: „Ich wer­de dir nicht hel­fen, dich wei­ter um dich selbst zu dre­hen. Ich wer­de dir hel­fen, dich bes­ser zu ver­ste­hen, indem ich dich stö­re.“ — dann beginnt Psy­cho­lo­gie jedes Mal, neu zu leben — nicht als Trost, son­dern als Ernst­fall der Weiterentwicklung.

Eigent­lich war das so gemeint. Nur dass wir ab ca. dem Jahr 2000 begon­nen haben, uns unse­ren Kin­dern zu unter­wer­fen und ihnen damit bei­zu­brin­gen, dass sie nichts müs­sen, wenn sie nicht wol­len. Die Welt dreht sich aber wei­ter und wird unse­ren Kin­dern zei­gen, wie sie ist — und dar­auf soll­ten wir sie vorbereiten.

Im Wes­ten Deutsch­lands sieht man das viel­leicht nicht so deut­lich; im Osten ist die letz­te „tota­le“ Trans­for­ma­ti­on noch gar nicht lan­ge her, also wer­den ggf. mehr Men­schen ver­ste­hen, wor­über ich hier schreibe.

Jörg Hei­dig

PS: Das Bei­trags­bild wur­de mit Hil­fe künst­li­cher Intel­li­genz erstellt.

Von Jörg Heidig

Dr. Jörg Heidig, Jahrgang 1974, ist Organisationspsychologe, spezialisiert vor allem auf Einsatzorganisationen (Feuerwehr: www.feuerwehrcoach.org, Rettungsdienst, Polizei) und weitere Organisationsformen, die unter 24-Stunden-Bedingungen funktionieren müssen (bspw. Pflegeheime, viele Fabriken). Er war mehrere Jahre im Auslandseinsatz auf dem Balkan und hat Ende der 90er Jahre in Görlitz bei Herbert Bock (https://de.wikipedia.org/wiki/Herbert_Bock) Kommunikationspsychologie studiert. Er schreibt regelmäßig über seine Arbeit (www.prozesspsychologen.de/blog/) und hat eine Reihe von Büchern veröffentlicht, darunter u.a. "Gesprächsführung im Jobcenter" oder "Die Kultur der Hinterfragung: Die Dekadenz unserer Kommunikation und ihre Folgen" (gemeinsam mit Dr. Benjamin Zips: www.kulturderhinterfragung.de). Dr. Heidig lebt in der Lausitz und begleitet den Strukturwandel in seiner Heimat gemeinsam mit Stefan Bischoff von MAS Partners mit dem Lausitz-Monitor, einer regelmäßig stattfindenden Bevölkerungsbefragung (www.lausitz-monitor.de). In jüngster Zeit hat Jörg Heidig gemeinsam mit Viktoria Klemm und ihrem Team im Landkreis Görlitz einen Jugendhilfe-Träger aufgebaut. Dr. Heidig spricht neben seiner Muttersprache fließend Englisch und Serbokroatisch sowie Russisch. Er ist häufig an der Landesfeuerwehrschule des Freistaates Sachsen in Nardt tätig und hat viele Jahre Vorlesungen und Seminare an verschiedenen Universitäten und Hochschulen gehalten, darunter an der Hochschule der Sächsischen Polizei und an der Dresden International University. Sie erreichen Dr. Heidig unter der Rufnummer 0174 68 55 023.