Werteorientierte Organisationsentwicklung: Wie schaffen Unternehmen wichtige Schritte in Richtung Klimaschutz und Nachhaltigkeit?

Nach­hal­tig­keit als „alter­na­ti­ve Norm“?

Vor zwei Jah­ren stell­te mir ein jun­ger Kol­le­ge die Fra­ge, wie man ein Orga­ni­sa­ti­ons­ent­wick­lungs­mo­dell für Nach­hal­tig­keit schaf­fen könn­te. Ich frag­te zurück, was er genau mein­te. Er sag­te, er hät­te gern ein Modell, dass die Ent­wick­lung einer Orga­ni­sa­ti­on in Rich­tung Nach­hal­tig­keit beför­dern könn­te. Ich mein­te dar­auf­hin, dass es sich dann aber um ein nor­ma­ti­ves Modell han­deln würde.

Ich dach­te bei die­sem Ein­wand an das rela­tiv ver­brei­te­te Drei-Säu­len-Modell, das unter ande­rem unter dem Begriff Cor­po­ra­te Social Respon­si­bi­li­ty bekannt ist. Im Grun­de beschreibt die­ses Modell drei Grund­kri­te­ri­en für unter­neh­me­ri­sche Ent­schei­dun­gen. Manage­ment-Ent­schei­dun­gen kön­nen dem­nach anhand

  • wirt­schaft­li­cher,
  • sozia­ler oder
  • öko­lo­gi­scher Kri­te­ri­en getrof­fen wer­den. 

Wenn ich mit Füh­rungs­kräf­ten über die­ses The­ma spre­che, zeigt sich recht ein­deu­tig, dass das Pri­mat der Ent­schei­dun­gen vor allem auf wirt­schaft­li­chen Kri­te­ri­en liegt bzw. wirt­schaft­li­che Kri­te­ri­en bei Ent­schei­dun­gen die domi­nie­ren­de Rol­le spie­len. Wirt­schaft­li­che Belan­ge ste­hen also im Vor­der­grund, dann fol­gen sozia­le Belan­ge und erst in drit­ter Instanz fol­gen die öko­lo­gi­schen Maß­ga­ben. Der Gewinn (oder min­des­tens: die Exis­tenz­si­che­rung) eines Unter­neh­mens steht also im Vor­der­grund. Nach dem Mot­to: Ohne gesun­de Unter­neh­men kei­ne Arbeits­plät­ze (und schon gar kei­ne gut bezahl­ten!) und auch kei­ne Über­le­gun­gen, wie man Unter­neh­men nach­hal­tig gestal­ten könnte.

In die­ser Denk­wei­se — so ver­traut sie vie­len sein mag und viel­leicht gera­de weil sie vie­len so ver­traut sein mag — steckt eine gewis­se, gleich­sam „gewohn­heits­mä­ßi­ge“ Nor­ma­ti­vi­tät. Irgend­wie ist es selbst­ver­ständ­lich, dass etwas erst wirt­schaft­lich funk­tio­nie­ren muss, bevor sozia­le und/oder öko­lo­gi­sche Kri­te­ri­en grei­fen. Spä­tes­tens unse­re sozia­len Vor­sor­ge-Model­le und die Finan­zie­rung unse­res Mit­ein­an­ders funk­tio­nie­ren ja auch so: Die Wirt­schaft ist die Grund­la­ge für alles ande­re, denn sie stellt das not­wen­di­ge Geld bereit. Ob es sich dann um eine eher libe­ra­le (weni­ger Staat!) oder stär­ker regu­lie­rungs­ori­en­tier­te Vari­an­te han­delt, bleibt eine Fra­ge der Gestal­tung — das Geld aus der Wirt­schaft brau­chen bei­de Varianten.

Mein jun­ger Kol­le­ge woll­te also die her­kömm­li­che Rei­hen­fol­ge der Prio­ri­tä­ten­lis­te umdre­hen: die Umwelt — oder wie es heu­te gern heißt: der Pla­net! — zuerst! Die Nach­hal­tig­keit auf die ers­te Posi­ti­on zu heben stellt der gewohn­heits­mä­ßi­gen Nor­ma­ti­vi­tät eine ande­re nor­ma­ti­ve Vor­stel­lung gegen­über: Ein Geschäft soll dem­nach zuerst nach­hal­tig und dann wirt­schaft­lich und sozi­al — oder drei­er­lei zugleich sein.

Die Spal­tung der Welt

Kon­se­quent wei­ter­ge­dacht, führt das zur „Sys­tem­fra­ge“, also zu einer Infra­ge­stel­lung des­sen, was uns selbst­ver­ständ­lich ist und wie unser Gemein­we­sen funk­tio­niert. Es han­delt sich dabei um einen Kon­flikt, der in den ver­gan­ge­nen Jah­ren „lau­ter“ gewor­den ist und gegen­wär­tig auf immer mehr Ebe­nen aus­ge­tra­gen wird (Bei­spiel: Fri­days for Future). Wäh­rend die einen („noch“) wie selbst­ver­ständ­lich davon aus­ge­hen, dass etwas wirt­schaft­lich funk­tio­nie­ren muss, um über­haupt nach Kri­te­ri­en der Nach­hal­tig­keit betrach­tet zu wer­den, geht die „Den­ke“ der ande­ren („schon“) davon aus, dass etwas öko­lo­gisch nach­hal­tig sein muss, damit es über­haupt zum Geschäft wer­den kann. Das ist zwar eine Zuspit­zung, aber in die­ser Zuspit­zung wird eine „Spal­tung der Welt“ deut­lich, auf die wir zusteuern.

Die­se „Spal­tung der Welt“ besteht in einer „pro­gres­si­ven“ und einer „kon­ser­va­ti­ven“ Argumentation:

  • Die pro­gres­si­ve Argu­men­ta­ti­ons­li­nie haben wir oben schon gese­hen: „Wenn wir den Pla­ne­ten ret­ten und den Fort­be­stand unse­rer Spe­zi­es sichern wol­len, müs­sen wir han­deln, und zwar viel kon­se­quen­ter, als wozu wir uns bis­her durch­rin­gen können!“
  • Die „wei­che­re“ Vari­an­te der kon­ser­va­ti­ven Argu­men­ta­ti­ons­li­nie besagt in etwa: „Ja, am Kli­ma­wan­del ist etwas dran, und wir müs­sen uns dar­um küm­mern, aber das geht nicht von heu­te auf mor­gen, son­dern es bedeu­tet, behut­sam zu han­deln, zu prü­fen, was funk­tio­niert und unse­re Sys­te­me lang­sam anzu­pas­sen. Aktio­nis­mus ist nicht hilf­reich, und die Viel­zahl von Gemein­we­sen, Staats­for­men und Kul­tu­ren zum koor­di­nier­ten Han­deln in eine Rich­tung zu bewe­gen, dau­ert min­des­tens Jahr­zehn­te. Es ist jeden­falls wert, alle Anstren­gun­gen zu unter­neh­men, aber es dau­ert eben. Und die Wirt­schaft ist einst­wei­len die Wirt­schaft, und wir kön­nen nie­man­dem ver­bie­ten, Geschäf­te zu machen, allen­falls kön­nen wir die Kri­te­ri­en für die­se Geschäf­te lang­sam ver­än­dern, Anrei­ze set­zen, beson­ders arge Ein­flüs­se ver­bie­ten usw.“
  • Die „här­te­re“ Vari­an­te der kon­ser­va­ti­ven Argu­men­ta­ti­on geht einst­wei­len davon aus, dass wir kaum etwas „gesteu­ert“ zu ver­än­dern bräuch­ten, son­dern dass die Wirt­schaft als Sys­tem genü­gend Inno­va­tio­nen her­vor­brin­gen würde.
  • Die „här­tes­ten“ Argu­men­ta­ti­ons­li­ni­en gehen bis hin zu der Annah­me, dass es kei­nen Kli­ma­wan­del gebe (wodurch uns vor Augen geführt wird, dass das, was wir als men­schen­ge­mach­ten Kli­ma­wan­del bezeich­nen, zunächst auch eine Annah­me ist). 

Wenn man die­se Argu­men­ta­ti­ons­li­ni­en dem (idea­li­sier­ten) frei­en Spiel der Dis­kus­sio­nen und Ent­schei­dun­gen über­las­sen wür­de, so die opti­mis­ti­sche Annah­me, käme man irgend­wann zu den „wah­ren“ (sprich: all­ge­mein zustim­mungs­fä­hi­gen) Schluss­fol­ge­run­gen und wür­de dem­entspre­chend „rich­ti­ge“ Ent­schei­dun­gen tref­fen. Und wenn man sich die Pra­xis anschaut, dann kann man ja auch einen star­ken Trend in Rich­tung der „pro­gres­si­ven“ Argu­men­ta­ti­ons­li­ni­en beob­ach­ten. Immer mehr Unter­neh­men set­zen auf nach­hal­tig­keits­ori­en­tier­te Inno­va­tio­nen. Es gibt bereits Was­ser­stoff-Autos und man­che Län­der for­mu­lie­ren Stra­te­gien für den Umbau ihrer Ener­gie­wirt­schaft. Vie­len schwant, dass zehn Mil­li­ar­den Men­schen, gewohnt nach Wohl­stand zu stre­ben, auf der Basis der gegen­wär­ti­gen Model­le, den Pla­ne­ten an den Rand der für Men­schen und vie­le ande­ren Arten geeig­ne­ten oder tole­rier­ba­ren Lebens­be­din­gun­gen bringen.

Die Zuspit­zung der Debatte

Wenn die­se opti­mis­ti­sche Vari­an­te auf­gin­ge, wür­de man in der Rea­li­tät viel­leicht bei einer Mischung aus pro­gres­si­ven Zie­len und mode­rat kon­ser­va­ti­ven Vor­ge­hens­wei­sen lan­den und den Wan­del — zwar lang­sam, aber irgend­wie sicher — „zurecht­dis­ku­tie­ren“. Nach dem Mot­to: „Die ent­spre­chen­den Inno­va­tio­nen sind ent­we­der schon da oder wür­den noch gefun­den, uns Men­schen ist immer etwas ein­ge­fal­len, und war­um soll­ten wir das nicht schaffen?“

Aber wie es all­zu oft ist, wenn es kon­tro­vers zugeht, spit­zen sich die Argu­men­ta­ti­ons­li­ni­en zu und die Welt­sicht ver­engt sich bei Tei­len der „Dis­kurs­teil­neh­mer­schaft“ auf die Brei­te von Schieß­schar­ten. Wäh­rend die einen rufen, dass wir kei­ne Zeit mehr haben und bald „Kip­punk­te“ errei­chen wür­den, ab denen die Fol­gen irrever­si­bel wür­den, ver­nei­nen die ande­ren nicht nur den Kli­ma­wan­del, son­dern mei­nen sogar, dass es sich um ein welt­wei­tes Kom­plott han­de­le, bei dem es um die Ver­skla­vung frei­er Men­schen unter die Fuch­tel der Zwe­cke eini­ger weni­ger gehe. 

Was hier bis­her am Bei­spiel der Nach­hal­tig­keit dar­ge­stellt wur­de, lässt sich gegen­wär­tig bei vie­len The­men beob­ach­ten, etwa bei der Fra­ge nach mög­lichst dis­kri­mi­nie­rungs­frei­er Sprach­ver­wen­dung oder der Unter­stel­lung, dass die gesam­te Poli­zei ein gleich­sam „insti­tu­tio­nel­les“ Ras­sis­mus­pro­blem habe. Die Pole tre­ten dabei jeweils gleich­zei­tig in die Welt: Wäh­rend an man­chen ame­ri­ka­ni­schen Hoch­schu­len Lehr­kräf­te allein wegen des Ver­dachts poli­tisch inkor­rek­ter For­mu­lie­run­gen unter Druck gera­ten und bei der New York Times mode­rat kon­ser­va­ti­ve Jour­na­lis­ten regel­recht gemobbt wer­den, wird ein unver­hoh­len poli­tisch unkor­rek­ter und sich bis­wei­len nicht nur pola­ri­sie­rend, son­dern regel­recht spal­tend äußern­der Mensch in den USA zum Prä­si­den­ten gewählt. In Deutsch­land mögen sich die­se Ten­den­zen mode­ra­ter äußern, aber auch hier sind sie spür­bar — wie soll sonst die gene­rel­le Unter­stel­lung, dass die deut­sche Poli­zei ein laten­tes Ras­sis­mus-Pro­blem hät­te, zu erklä­ren sein? 

Die Selbst-Legi­ti­ma­ti­on der „woke community“

Die Rea­li­tät mensch­li­chen Zusam­men­le­bens ist immer vie­les gleich­zei­tig. Selbst in den mode­ra­te­ren Aus­prä­gun­gen tota­li­tä­rer Sys­te­me wird man Fäl­le fin­den, die vom Ursa­chen­zu­sam­men­hang oder vom Phä­no­men her ähn­lich sind, aber je nach Kom­bi­na­ti­on der Umstän­de und der Hal­tung der Betei­lig­ten völ­lig unter­schied­lich behan­delt wer­den. So gab es in der DDR Fäl­le von Berufs­ver­bot Betrof­fe­nen, die unglaub­lich hart „durch­ex­er­ziert“ wur­den — und ande­re Fäl­le, bei denen ein paar Bezie­hun­gen zu ein­fluss­rei­chen Per­so­nen aus­ge­reicht haben, um eine Akte „irgend­wie ver­schwin­den“ zu las­sen und damit das Berufs­ver­bot qua­si aufzuheben.

Wirk­lich kon­tro­vers wird es dann, wenn ver­meint­lich „Erweck­te“ mei­nen, dass ihre Sicht der Din­ge die ein­zig rich­ti­ge oder gerech­te sei — und das die glei­chen Mit­tel in der Hand der ande­ren zu Dis­kri­mi­nie­rung, Unter­drü­ckung (oder heu­er: Umwelt­zer­stö­rung) füh­ren, in den eige­nen Hän­den aber legi­tim sei­en. Nach dem Mot­to: Die ande­ren dür­fen nicht mob­ben, das haben sie schon zu lan­ge getan, aber wenn wir anpran­gern (und in der Fol­ge auch mob­ben), dann ist das ja nur legi­tim, weil „wir“ ja im Geis­te der bes­se­ren Sache kämp­fen. Der­art zuge­spitzt könn­te man die Selbst-Legi­ti­ma­ti­on der poli­tisch kor­rek­ten „woke com­mu­ni­ty“ in den Ver­ei­nig­ten Staa­ten als auch die Selbst-Ermäch­ti­gung man­cher euro­päi­scher Kli­ma-Akti­vis­ten lesen.

Nun kann man sicher kon­tern: Ohne Zuspit­zung und ohne „Kampf“ kommt kein Wan­del in die Welt. Aber in der Rea­li­tät gibt es auch ande­re For­men des Wan­dels als den Kon­flikt zwi­schen „Revo­lu­tio­nä­ren“ und „Reak­tio­nä­ren“.

In die­sem Bei­trag geht es dar­um, eine die­ser For­men zu beschrei­ben, näm­lich eine, die zwar nicht auf der „Sys­tem­ebe­ne“, wohl aber auf der ganz kon­kre­ten Ebe­ne eines Unter­neh­mens funk­tio­nie­ren kann — und tat­säch­lich funk­tio­niert, wenn die Betei­lig­ten den ent­spre­chen­den Wil­len ent­wi­ckeln. Die Metho­de, die ich hier beschrei­be, ist eine mög­li­che Ant­wort auf die Fra­ge mei­nes jun­gen Kol­le­gen — wenn auch kei­ne „gene­rel­le“ (also immer und über­all ein­setz­ba­re) Metho­de, die zwin­gend zu Nach­hal­tig­keit führt, wohl aber eine, die, den Wil­len der Betei­lig­ten vor­aus­ge­setzt, zu Nach­hal­tig­keit füh­ren kann.

Anstel­le gene­rel­le Zie­le zu ver­ord­nen, ist es bes­ser, die Zukunfts­fä­hig­keit einer Orga­ni­sa­ti­on in den Fokus zu rücken

Die Erfah­run­gen mit mei­nen Kun­den — in der Regel Unter­neh­men, die bestimm­te Ver­än­de­run­gen oder Anpas­sun­gen zu bewäl­ti­gen haben — haben mich zu der Erkennt­nis geführt, dass Orga­ni­sa­tio­nen, ihre Prio­ri­tä­ten, Kul­tu­ren, Füh­rungs­sti­le und Prio­ri­tä­ten zu unter­schied­lich sind, um mit einem ein­zi­gen Modell alle mög­li­chen Orga­ni­sa­tio­nen in die glei­che Rich­tung zu ent­wi­ckeln. Die Idee, Nach­hal­tig­keit sei „per se“ ein „gene­rel­les“ Ziel der Orga­ni­sa­ti­ons­ent­wick­lung, hal­te ich des­halb für wenig ziel­füh­rend. Manch­mal stößt man sich am Begriff der Nach­hal­tig­keit, manch­mal gehö­ren die Akteu­re zu den „Kon­ser­va­ti­ven“ im oben beschrie­be­nen Sin­ne, manch­mal wür­de das ein­fach eine Oktroy­ie­rung bedeu­ten oder wäre der jewei­li­gen Situa­ti­on eines Unter­neh­mens nicht ange­mes­sen. 

Viel­leicht wäre „Zukunfts­fä­hig­keit“ ein bes­se­rer Begriff, zu dem Nach­hal­tig­keit genau­so gehö­ren wür­de wie viel­leicht das Kri­te­ri­um, als Arbeit­ge­ber attrak­tiv für jun­ge Men­schen zu sein oder als Unter­neh­men eine gewis­se sozia­le oder „umfeld­ori­en­tier­te“ Ver­ant­wor­tung wahr­zu­neh­men. Der „Kapi­ta­list alter Schu­le“ mag als Modell aus­ge­dient haben, was jedoch nicht bedeu­tet, dass gera­de die Anhän­ger die­ser „Schu­le“ kein Geld mehr ver­die­nen wür­den, im Gegen­teil — und das ist eine mäch­ti­ge und hier nicht dis­ku­tier­te Dimen­si­on des Pro­blems. 

Mana­ger und Bera­ter, die vor allem ein Orga­ni­sa­ti­ons­mo­dell oder eine Phi­lo­so­phie ver­fol­gen, haben gegen­über der hier vor­ge­schla­ge­nen „Den­ke“ regel­mä­ßig einen Vor­teil: Ihr jewei­li­ges Modell (Lean Manage­ment, Agi­le Unter­neh­mens­or­ga­ni­sa­ti­on o.ä.) ermög­licht, rich­tig von falsch zu unter­schei­den, wäh­rend in dem hier unter­brei­te­ten Vor­schlag vor allem ver­sucht wird, die jewei­li­ge Lage der Orga­ni­sa­ti­on zu ver­ste­hen. Aus­ge­hend von die­sem Ver­ständ­nis wird dann ver­sucht, die jeweils aus Sicht der Füh­rungs­kräf­te und Mit­ar­bei­ter not­wen­di­gen Schrit­te zu beglei­ten. 

Wie gelingt Organisationsentwicklung?

Gelin­gen­de Orga­ni­sa­ti­ons­ent­wick­lung ist nach mei­nem Dafür­hal­ten eine Ver­stän­di­gung von Füh­rungs­kräf­ten und Mit­ar­bei­tern über die aktu­el­le Situa­ti­on der Orga­ni­sa­ti­on und der ggf. not­wen­di­gen Ent­wick­lungs­schrit­te vor dem Hin­ter­grund der jewei­li­gen Bran­chen- und Unter­neh­mens­si­tua­ti­on. 

Doch bevor ich hier mei­nen, wie ich mei­ne, den gegen­wär­ti­gen Her­aus­for­de­run­gen ange­mes­se­nen „Weg nach Rom“ beschrei­be, sei hier zuge­ge­ben, dass es sich auch bei unse­rem Den­ken über Orga­ni­sa­tio­nen um eine Art vor-dar­wi­ni­schen Zeit­al­ters han­delt (Edgar Schein) — und es also vie­le „Wege nach Rom“ gibt. Zwei mög­li­che Wege:

  1. Wer die kom­ple­xe Fra­ge nach der Ent­wick­lung von Orga­ni­sa­tio­nen ein­fach und ver­ständ­lich her­un­ter­bre­chen möch­te, schaue sich das Modell der „spi­ral dyna­mics“ an. Das Modell beschreibt eine eher gene­rel­le, wenn auch dyna­mi­sche Ent­wick­lung von Orga­ni­sa­tio­nen in Rich­tung einer aus sich selbst anpas­sungs­fä­hi­gen und ler­nen­den Orga­ni­sa­ti­on — her­kom­mend aus einer irgend­wie „alten“, auto­ri­tä­ren oder gar von „Stam­mes­prin­zi­pi­en“ gelei­te­ten Welt von Orga­ni­sa­tio­nen. Das Modell ist popu­lär und passt eben­so gut zu den aktu­el­len „pro­gres­si­ven“ Strö­mun­gen des Zeit­geis­tes wie auch zu den aktu­el­len Ent­wick­lungs­er­for­der­nis­sen vie­ler Orga­ni­sa­tio­nen. Dazu pas­send gibt es einen aktu­el­len, prak­tisch-metho­disch ori­en­tier­ten Leit­fa­den für die Ent­wick­lung von Orga­ni­sa­tio­nen — das Buch heißt ganz tref­fend „Reinven­ting Orga­niza­ti­ons“. Bei­de fol­gen wie gesagt mehr oder min­der gene­rell dem „pro­gres­si­ven“ Pfad.
  2. Wer lie­ber einen eige­nen Weg geht oder begrün­de­ter­wei­se der Ansicht ist, dass eine gene­rel­le Ent­wick­lungs­rich­tung der aktu­el­len Lage einer Orga­ni­sa­ti­on nicht ange­mes­sen ist, kann auch — und die­ses Rezept eig­net sich beson­ders gut auch für neu gegrün­de­te Orga­ni­sa­tio­nen — ein „Bau­kas­ten-Prin­zip“ wäh­len und sich in der Land­schaft der vor­han­de­nen Orga­ni­sa­ti­ons­mo­del­le umschau­en. Dann lese man zum Bei­spiel das „Agi­le Mani­fest“ und eini­ge Tex­te über „Holok­ra­tie“, „Empower­ment“ oder „Team­ing“ und kom­bi­nie­re die ent­spre­chen­den Struk­tur- und Pro­zess-Ideen zu einer Soll-Vor­stel­lung oder Visi­on eines Unter­neh­mens, und man wird im Ide­al­fall eine Orga­ni­sa­ti­on schaf­fen, die in der Lage ist, sich fort­an selbst an die jewei­li­gen Erfor­der­nis­se anzu­pas­sen bzw. zu ler­nen. Wich­tig ist hier­bei der Gedan­ke, so viel wie mög­lich „in die Pro­zes­se zu ver­la­gern“, d.h. die Pro­zes­se einer Orga­ni­sa­ti­on so zu gestal­ten, dass die Orga­ni­sa­ti­on auch unab­hän­gig von ein­zel­nen Per­so­nen und unab­hän­gig von Macht in der Lage ist, nicht nur zu funk­tio­nie­ren, son­dern eben sich auch aus sich selbst her­aus zu ver­än­dern bzw. anzu­pas­sen. Per­sön­lich hal­te ich hier­bei Amy Edmond­sons Modell des „Team­ing“ für beson­ders aus­sa­ge­kräf­tig bzw. hilfreich.

Die stra­te­gi­schen Leit­fra­gen der Aus­rich­tung von Organisationen

Einer der pro­fi­lier­tes­ten Autoren der Manage­ment-Leh­re, Peter Dru­cker, hat in sei­nem Buch „Die fünf ent­schei­den­den Fra­gen des Manage­ments“ den Exis­tenz­grund eines Unter­neh­mens ins Zen­trum stra­te­gi­scher Über­le­gun­gen gestellt. Die wich­tigs­te Fra­ge der Unter­neh­mens­füh­rung sei, war­um und wozu es das Unter­neh­men gebe. Je kla­rer man den Exis­tenz­grund eines Unter­neh­mens for­mu­lie­ren kön­ne, so Dru­cker, des­to ein­fa­cher sei es, Zie­le abzu­lei­ten und alle Akti­vi­tä­ten, Ent­schei­dun­gen, Struk­tu­ren und Pro­zes­se des Unter­neh­mens aus­zu­rich­ten. Der Fra­ge nach dem Exis­tenz­grund oder Zweck des Unter­neh­mens fol­gen nach Dru­cker 

  • die Fra­ge, wer die pri­mä­ren Kun­den des Unter­neh­mens bzw. wel­che deren Bedürf­nis­se sei­en (die­je­ni­gen, die die Leis­tun­gen oder Pro­duk­te des Unter­neh­mens brauchen),
  • die Fra­ge, wer die sekun­dä­ren Kun­den des Unter­neh­mens und wel­che deren Erwar­tun­gen oder Prio­ri­tä­ten sei­en (die­je­ni­gen, die bspw. gut über das Unter­neh­men den­ken oder spre­chen müss­ten, damit sich das Unter­neh­men gut ent­wi­ckeln kann),
  • die Fra­ge nach den Pro­duk­ten oder Leis­tun­gen des Unter­neh­mens (die direkt auf die Bedürf­nis­se der pri­mä­ren Kun­den aus­ge­rich­tet sein soll­ten) sowie
  • die Fra­ge nach dem geeig­ne­ten Mar­ke­ting (das sich aus den Ant­wor­ten auf die vor­her genann­ten Fra­gen — (1) Existenzgrund/Zweck, (2a) Bedürf­nis­se der pri­mä­ren Kun­den, (2b) Erwar­tun­gen der sekun­dä­ren Kun­den, (3) Pro­duk­te oder Leis­tun­gen — ergibt; Mar­ke­ting ist dem­nach nichts ande­res als eine geeig­ne­te Dar­stel­lung der Bezie­hung zwi­schen Kun­den­be­dürf­nis­sen und der Ant­wort auf die­se Bedürf­nis­se, also dem Pro­dukt oder der Leistung).
  • Der Charme von Dru­ckers Modell liegt in sei­ner Schlicht­heit bzw. der Fol­ge­rich­tig­keit der Fra­gen. Der Bestim­mung des Zwecks folgt eine Refle­xi­on der Bedürf­nis­se, und die Leis­tun­gen oder Pro­duk­te sind qua­si Ant­wor­ten auf die Bedürf­nis­se. Mar­ke­ting macht die Bedarf-Ant­wort-Bezie­hung im Grun­de nur bei der Ziel­grup­pe bekannt. 

Eine ähn­li­che Fol­ge­rich­tig­keit ergibt sich, wenn man den Zweck nicht (nur) markt-. son­dern (auch) wer­te­ba­siert for­mu­liert.

Peter Dru­cker wür­de sagen, dass sich das gar nicht aus­schlie­ße, son­dern dass er genau das sogar gemeint habe, aber hier lie­gen in sehr vie­len Fäl­len intel­lek­tu­el­ler Anspruch und geleb­te Manage­ment-Pra­xis noch viel zu weit aus­ein­an­der, als dass man ein sol­ches — logisch rich­ti­ges, aber an der geleb­ten Unter­neh­mens­rea­li­tät oft genug kon­se­quent vor­bei­ge­hen­des — Gegen­ar­gu­ment anneh­men könnte.

Man fragt dann nicht mehr nur, was der markt­be­zo­ge­ne Zweck eines Unter­neh­mens ist, wel­che Bedürf­nis­se die pri­mä­ren Kun­den haben und wel­che Pro­duk­te oder Leis­tun­gen opti­ma­le Ant­wor­ten auf die­se Bedürf­nis­se lie­fern. Die­ser Zusam­men­hang bil­det nach wie vor die wirt­schaft­li­che Grund­la­ge eines Geschäfts — ohne Bedürf­nis gibt es ja qua­si kei­ne Bereit­schaft, ein Pro­dukt oder eine Leis­tung zu bezah­len. Aber die­ser Zusam­men­hang ist nicht mehr der allein ent­schei­den­de, son­dern er rückt gewis­ser­ma­ßen „in die zwei­te Rei­he“ oder „tritt neben“ die Refle­xi­on von Wer­ten. 

Die Leit­fra­gen einer wer­te­ori­en­tier­ten Organisationsentwicklung

Indem man die Wer­te in den Mit­tel­punkt stellt, reflek­tiert man vor dem wirt­schaft­li­chen Zweck die Wer­te, die den Akti­vi­tä­ten einer Orga­ni­sa­ti­on zugrun­de lie­gen (sol­len). Man spannt den betriebs­wirt­schaft­li­chen Kern­zu­sam­men­hang qua­si in den Rah­men einer (nor­ma­ti­ven) Wer­te­dis­kus­si­on ein — und macht ihn damit von den Wer­ten abhängig.

Den „gewohn­ten“ zweck­be­zo­ge­nen Über­le­gun­gen (Nach­fra­ge­ori­en­tie­rung und Mach­bar­keit) wer­den also nor­ma­ti­ve Zweck­re­fle­xio­nen (Wozu soll die Orga­ni­sa­ti­on gut sein? Unter wel­chen Bedin­gun­gen wol­len wir Geschäf­te machen? Was soll mit den Geschäf­ten bewirkt wer­den? Was ist kon­se­quent zu ver­mei­den?) vorangestellt.

Das negiert den betriebs­wirt­schaft­li­chen Zusam­men­hang nicht, ord­net ihn aber in einen „grö­ße­ren“ Zusam­men­hang ein. Wenn man zuerst Wer­te bestimmt, ergibt sich dar­aus eine „Mess­lat­te“ für alle Akti­vi­tä­ten und Ent­schei­dun­gen eines Unter­neh­mens. 

Gleich­sam par­al­lel zu dem Dru­cker­schen Fra­ge­strang vom Zweck über die Bedürf­nis­se zu den Pro­duk­ten und zum Mar­ke­ting ergibt sich also ein zwei­ter — oder gänz­lich alter­na­ti­ver — Fragestrang:

  1. Wel­che Wer­te ste­hen im Zen­trum der Akti­vi­tä­ten des Unternehmens?
  2. Wel­che Zie­le lei­ten sich aus die­sen Wer­ten ab?
  3. In wel­chen Hand­lun­gen schla­gen sich die Wer­te und Zie­le des Unter­neh­mens nieder?

Ein Unter­neh­men und sei­ne (mög­li­chen) Geschäf­te erhal­ten dadurch einen „Kom­pass“, der zu ent­schei­den hilft, wel­che Zie­le ver­folgt wer­den bzw. ob und wie gehan­delt wird — also auch ob und ggf. wie ein Geschäft statt­fin­den kann.

Nach­hal­tig­keit als frei­wil­li­ge Ver­pflich­tung oder als ver­bind­li­che Norm — was denn nun?

Damit steht die Nach­hal­tig­keit nicht per se an die Spit­ze der Lis­te — was ja wie gesagt eine „nor­ma­ti­ve Behaup­tung“ wäre, die einer jewei­li­gen Situa­ti­on ange­mes­sen sein kann (aber nicht muss) oder die den jewei­li­gen Ent­schei­dern pas­sen kann (aber nicht muss). Viel­mehr erlaubt die­se Vor­ge­hens­wei­se, die Ver­ant­wor­tung dort zu las­sen, wo sie hin­ge­hört. Die Nach­hal­tig­keit wird damit nicht zum „abso­lu­ten Wert an sich“, son­dern wird zu einem mög­li­chen (und sicher wün­schens­wer­ten oder gar not­wen­di­gen) Wert unter meh­re­ren — aber indem die­ser Wert eine Fra­ge des frei­en Wil­lens bleibt, wer­den die dar­aus fol­gen­den Hand­lun­gen im gelin­gen­den Fall ver­bind­li­cher bzw. han­deln die jewei­li­gen Füh­rungs­kräf­te enga­gier­ter bzw. „invol­vier­ter“. 

Damit bleibt die Vor­ge­hens­wei­se fle­xi­bel für unter­schied­li­che Situa­tio­nen, Aus­gangs­la­gen, Bran­chen, Kul­tu­ren usw. und schafft gleich­zei­tig die Mög­lich­keit, Nach­hal­tig­keit in den Mit­tel­punkt der Bemü­hun­gen zu stel­len, ohne die han­deln­den Per­so­nen dazu zu „ver­don­nern“. 

Damit ist die Metho­de im Sin­ne der Fra­ge mei­nes jun­gen Kol­le­gen qua­si nicht „selbst­ver­ständ­lich“ (= aus sich her­aus oder zwangs­läu­fig) nach­hal­tig — was in vie­len Bran­chen nach mei­nem Dafür­hal­ten zum gegen­wär­ti­gen Zeit­punkt ein viel zu gro­ßer Sprung wäre, der nicht so ein­fach zu schaf­fen wäre, son­dern der vie­le Ver­wer­fun­gen, Plei­ten usw. ver­ur­sa­chen wür­de. 

Sie bemer­ken es sicher schon: Die­ser Text „mäan­dert“ zwi­schen den aus der Aner­ken­nung des men­schen­ge­mach­ten Kli­ma­wan­dels und sei­ner Fol­gen resul­tie­ren­den „nor­ma­ti­ven“ Schluss­fol­ge­run­gen, die vie­len Men­schen nicht nur ange­ra­ten, son­dern regel­recht „zwin­gend“ erschei­nen und der Fra­ge, wie man (not­wen­di­ge) Ver­än­de­run­gen ohne Zwang, son­dern ver­nünf­tig und auf der Basis des frei­en Wil­lens von Unter­neh­mern und Mana­gern her­vor­ru­fen kann.

Mein eige­ner Stand­punkt scheint trotz aller Argu­men­ta­ti­on durch: Als Kind der ehe­ma­li­gen DDR ist mir Zwang einer­seits ver­traut und ande­rer­seits zuwi­der, zu sehr ahne ich die nega­ti­ven Wir­kun­gen der Akti­vi­tä­ten jener „wokes“ bzw. „poli­tisch Kor­rek­ten“ oder „öko­lo­gisch Erweck­ten“. 

Frei­lich erschre­cke ich, wenn etwa ein Wis­sen­schaft­ler, der sich sein Leben lang mit der Erfor­schung von Wegen in Rich­tung Nach­hal­tig­keit beschäf­tigt hat, in einem Inter­view anläss­lich sei­ner Eme­ri­tie­rung kon­sta­tiert, dass er pes­si­mis­tisch sei, weil das Wachs­tum jeg­li­che Effek­te im Bereich Ein­spa­run­gen, Ener­gie­ef­fi­zi­enz, Ver­bes­se­rung des Recy­clings, res­sour­cen­scho­nen­de­rer Pro­dukt­ent­wick­lun­gen usw. ein­fach nur auf­fres­se, weil wir trotz­dem immer mehr her­stell­ten und ver­brauch­ten. 

Ande­rer­seits meh­ren sich die Anzei­chen, dass es jun­gen Men­schen immer wich­ti­ger wird, nach­hal­tig zu leben, und immer­hin gibt es mitt­ler­wei­le Pro­gno­sen, die besa­gen, dass die Welt­be­völ­ke­rung noch eine Wei­le wach­sen, ab ca. 2060 aber wie­der schrump­fen wird. Wie dem auch immer sei: Pro­gno­sen abzu­ge­ben ist schwie­rig, und am Ende einer Berufs­lauf­bahn pes­si­mis­tisch zu sein, ist eher die Regel als ein Ein­zel­fall. 

Ich kann und will mich hier nicht ent­schlie­ßen zu behaup­ten, dass der von mir vor­ge­schla­ge­ne Weg der „wer­te­ori­en­tier­ten Orga­ni­sa­ti­ons­ent­wick­lung“ der rich­ti­ge ist. Es wird immer Men­schen geben, die nur auf den kurz­fris­ti­gen Erfolg set­zen und die Fol­gen ihres Han­delns kaum oder über­haupt nicht reflek­tie­ren. Aber eine wer­te­ori­en­tier­te Unter­neh­mens­ent­wick­lung wür­de dafür sor­gen, dass die­se Art von Mana­gern lang­sam aus­stirbt — und dass die, die es anders sehen, mehr wer­den. 

„Das Leben wird vor­wärts gelebt und rück­wärts ver­stan­den.“ (Sören Kierkegaard)

In die­sem Sin­ne möch­te ich hof­fen, dass die Selbst­ver­ständ­lich­keit, ein Geschäft zu machen, weil man es kann, irgend­wann von der Selbst­ver­ständ­lich­keit abge­löst wird, dass man Geschäf­te macht, wenn sie „anstän­dig“ UND „nach­hal­tig“ sind. Bis dahin ist es noch ein wei­ter Weg, aber die Men­schen, die das so sehen, wer­den mehr und tre­ten aus ihren Nischen her­vor. Unter jün­ge­ren Men­schen muss man dies­be­züg­lich nicht mehr „her­vor­tre­ten“, da scheint das Her­vor­tre­ten selbst­ver­ständ­li­cher zu sein, als das in mei­ner Gene­ra­ti­on (40+) der Fall ist.

Um nicht all­zu viel Opti­mis­mus zu ver­brei­ten, son­dern auch dar­auf hin­zu­wei­sen, was pas­sie­ren kann, wenn sich aus Nischen her­aus zunächst pro­gres­si­ve Trends ent­wi­ckeln, die dann aber wie­der­um nega­ti­ve Wir­kun­gen ent­fal­ten, sei hier noch­mals kri­tisch auf das The­ma der poli­ti­schen Kor­rekt­heit hin­ge­wie­sen: Wäh­rend es sicher gut ist, frei von Dis­kri­mi­nie­rung zu leben und ent­spre­chen­de Macht­ge­wohn­hei­ten zu hin­ter­fra­gen und zu ver­än­dern, ist die poli­ti­sche Kor­rekt­heit an nicht weni­gen Stel­len dabei, sich in über­trie­be­ner Wei­se zu insti­tu­tio­na­li­sie­ren — und damit selbst zur dis­kri­mi­nie­ren­den (= Gene­ral­ver­dachts­mo­men­te und ent­spre­chen­de Aus­schlie­ßungs­pro­ze­du­ren schaf­fen­den) Norm zu wer­den. 

Mein böser Ver­dacht an die­ser Stel­le: Unse­re gesatz­ten Nor­men (Geset­ze, offi­zi­el­le Ver­fah­rens­re­geln in Orga­ni­sa­tio­nen) zu ver­än­dern ist ein­fa­cher, als auf die nur sehr lang­sam ein­tre­ten­den tat­säch­li­chen Ver­än­de­run­gen zu war­ten — auch und vor allem im Bereich der Ein­flüs­se des homo sapi­ens auf die Umwelt. Also stür­zen sich man­che Grü­ne lie­ber auf die Schaf­fung ver­meint­lich dis­kri­mi­nie­rungs­frei­er Sprach­re­ge­lun­gen denn auf jene weit­aus grö­ße­ren und erns­te­ren Pro­ble­me, die anzu­ge­hen ihre Par­tei ursprüng­lich ange­tre­ten ist.

Rea­le Ver­än­de­rungs­pro­zes­se sind am Ende immer ein Wech­sel­spiel aus frei­em Wil­len und gesetz­li­chen Normierungen

Es geht mir hier nicht um eine Gene­ral­ab­rech­nung mit staat­li­chen Ver­su­chen, ver­meint­lich oder tat­säch­lich die Rele­vanz pro­gres­si­ver The­men zu beför­dern. Sol­che Ver­su­che kran­ken jedoch immer wie­der an der Rea­li­sier­bar­keit neu­er Ideen in einer Demo­kra­tie. Am Ende sieht das Ergeb­nis all­zu oft nach oppor­tu­nis­ti­schem Aktio­nis­mus aus — die Agen­da wech­selt mit der Stim­mung, und weit­rei­chen­de Ent­schei­dun­gen wer­den getrof­fen, wenn es die Stim­mung gera­de erlaubt. 

Die letz­ten Sät­ze sei­en not­wen­di­ger­wei­se ins Ver­hält­nis gesetzt: Am Ende ist es trotz­dem gut, in einer Demo­kra­tie zu leben. Man muss mit jenen oppor­tu­nis­ti­schen „Mach­bar­keits­fens­tern“ leben, denn pro­gres­si­ves Han­deln führt immer auch zu ent­spre­chen­den Gegen­re­ak­tio­nen — man sehe sich nur die der­zei­ti­gen Trends bei den Wah­len in ver­schie­de­nen euro­päi­schen Län­dern an. 

Das mei­ne ich kei­nes­wegs despek­tier­lich. Ich bin viel­mehr der Ansicht, dass man die­se Erfol­ge sehr genau ana­ly­sie­ren muss, um die ent­spre­chen­den Ursa­chen zu ver­ste­hen und ggf. zu berück­sich­ti­gen — was bspw. im Hin­blick auf die Migra­ti­ons­po­li­tik durch­aus erfolgt ist, wenn auch „irgend­wie sub­til“ (weil unaus­ge­spro­chen) daher­kom­mend, aber alles ande­re als sub­til in den Kon­se­quen­zen, zumin­dest wenn man die 2015 pos­tu­lier­te „Will­kom­mens­kul­tur“ mit der heu­te geleb­ten Rea­li­tät vergleicht.

Bei­de Wege — der­je­ni­ge der gesetz­li­chen Nor­mie­rung (bspw. bei der Ener­gie­ge­setz­ge­bung) und der frei­en Ent­schei­dung auf der Basis unter­neh­me­ri­scher Ver­ant­wor­tung haben ihre Stär­ken und ihre Grenzen.

Staat­lich gere­gel­te Limi­tie­run­gen und Anrei­ze kön­nen „gro­ße“ Ver­än­de­run­gen aus­lö­sen, sind aber an den Wil­len des Wäh­lers — oder in ande­ren Gesell­schafts­for­men: auf das Mit­ma­chen oder zumin­dest Still­hal­ten der Bevöl­ke­rung — ange­wie­sen. (Und nur weil ein Staat auto­ri­tär ist, heißt das nicht, dass er ewig ist — die Opfer­zah­len auf dem Weg zur Ver­än­de­rung sind jedoch ent­setz­lich hoch.) 

Die freie­re Vari­an­te der Ent­wick­lung setzt auf die Ver­ant­wor­tung der Unter­neh­mer bzw. Ent­schei­der. Und dass ange­stell­te Mana­ger bis­wei­len eine ande­re Ethik besit­zen als Eig­ner, die ihr Unter­neh­men selbst füh­ren, liegt auf der Hand. Hier gibt es rie­si­ge Pro­ble­me, wenn es um die Ver­or­tung von Ver­ant­wor­tung oder gar die Ein­füh­rung einer wer­te­ori­en­tier­ten Unter­neh­mens­ent­wick­lung geht. Aber es ist die im Zwei­fels­fall situa­tions- und akteurs­an­ge­mes­se­ne­re, „irgend­wie libe­ra­le­re“ Pro­ze­dur, die Ver­ant­wor­tung dort belässt, wo sie in einer frei­en Gesell­schaft hin­ge­hört. 

Um Wir­kung zu ent­fal­ten, soll­ten mei­nes Erach­tens bei­de Wege mit­ein­an­der kom­bi­niert wer­den. Der Staat ist geeig­net, um Nor­men zu set­zen, aber oft „dumm“ bei der prak­ti­schen Aus­ge­stal­tung von Nor­men. Der ein­zel­ne Unter­neh­mer kann Ent­schei­dun­gen tref­fen, trifft sie aber oft genug ent­spre­chend gewohn­heits­mä­ßi­ger (= in der Les­art des Unter­neh­mers: situa­ti­ons­not­wen­di­ger) Kri­te­ri­en. Eine klu­ge Norm­set­zung UND eine wer­te­ori­en­tier­te Unter­neh­mens­ent­wick­lung sind des­halb wich­ti­ge Ele­men­te der Ent­wick­lung — ohne den ver­schie­de­nen radi­ka­len Stim­men (Wir haben kei­ne Zeit! Wir müs­sen kon­se­quen­ter han­deln! vs. Ich las­se mir vom Staat über­haupt nicht rein­re­den, das ist alles nur sinn­lo­se Gän­ge­lei! vs. Es gibt gar kei­nen Kli­ma­wan­del, das ist alles nur gemacht, um uns abzu­len­ken!) Raum zu geben.

Es ist also eine Fra­ge der „wohl­tem­pe­rier­ten Grau­sam­keit“ von­sei­ten des Staa­tes und des Mutes und der Krea­ti­vi­tät der han­deln­den Unter­neh­mer und Manager.

Jörg Hei­dig

Von Jörg Heidig

Jörg Heidig, Jahrgang 1974, nach Abitur und Berufsausbildung in der Arbeit mit Flüchtlingen zunächst in Deutschland und anschließend für mehrere Jahre in Bosnien-Herzegowina tätig, danach Studium der Kommunikationspsychologie, anschließend Projektleiter bei der Internationalen Bauausstellung in Großräschen, seither als beratender Organisationspsychologe, Coach und Supervisor für pädagogische Einrichtungen, soziale Organisationen, Behörden und mittelständische Unternehmen tätig. 2010 Gründung des Beraternetzwerkes Prozesspsychologen. Lehraufträge an der Hochschule der Sächsischen Polizei, der Dresden International University, der TU Dresden sowie der Hochschule Zittau/Görlitz.