Die Psychologie „hinter“ Mitarbeitergesprächen

Wäh­rend es zur Durch­füh­rung von Mit­ar­bei­ter­ge­sprä­chen zahl­lo­se Ablauf­mo­del­le und Werk­zeug­käs­ten gibt, sei in die­sem Text ein­mal aus­führ­li­cher auf ein paar Kon­zep­te „hin­ter“ der Gesprächs­füh­rung ein­ge­gan­gen. Nach mei­nem Dafür­hal­ten erge­ben sich die für Mit­ar­bei­ter­ge­sprä­che not­wen­di­gen Hal­tun­gen, Gesprächs­ele­men­te und ‑tech­ni­ken ganz auto­ma­tisch aus die­sen Theo­rien — ganz nach dem Leit­satz, dass eine gute Theo­rie hilft, die Pra­xis bes­ser zu ver­ste­hen und zu gestal­ten. Im Rah­men eines Füh­rungs­kräf­te­trai­nings bei SKAN Deutsch­land hat­te ich kürz­lich die Freu­de, mich gemein­sam mit mei­ner Kol­le­gin Vik­to­ria Klemm, mei­nem Kol­le­gen Mathi­as Blei­er-Rox und unse­ren Semi­nar­teil­neh­mern zwei Tage lang inten­siv mit dem The­ma „Füh­rung von Mit­ar­bei­ter­ge­sprä­chen“ zu beschäf­ti­gen. Die Refle­xio­nen wäh­rend die­ses Füh­rungs­kräf­te­trai­nings haben mich zu die­sem Text inspiriert.

Der psychologische Vertrag

Men­schen haben mit den Orga­ni­sa­tio­nen, für die sie arbei­ten, nor­ma­ler­wei­se einen Arbeits­ver­trag, der for­ma­le Rege­lun­gen ent­hält. Neben die­sem Arbeits­ver­trag besteht noch eine Art infor­mel­len oder „psy­cho­lo­gi­schen“ Ver­trags. Die­ser psy­cho­lo­gi­sche Ver­trag besteht aus gegen­sei­ti­gen Erwar­tun­gen. Das Kon­zept des psy­cho­lo­gi­schen Ver­trags (ursprüng­lich von Chris Argy­ris und spä­ter Edgar Schein for­mu­liert) ermög­licht, das Ver­hält­nis zwi­schen einer Per­son und einer Orga­ni­sa­ti­on nicht nur zu einem Zeit­punkt, son­dern über die Zeit hin­weg zu betrach­ten. Ein psy­cho­lo­gi­scher Ver­trag wird nicht ein­mal geschlos­sen und besteht dann in einer bestimm­ten Gestalt fort, son­dern er ist dyna­misch, ver­än­dert sich, schreibt sich fort. Wenn jemand bspw. eine Stel­len­an­zei­ge liest, dann ent­steht ein bestimm­tes Bild von der beschrie­be­nen Auf­ga­be und der betref­fen­den Orga­ni­sa­ti­on. Mit die­sem Bild ent­wi­ckelt die Per­son auch bestimm­te Erwar­tun­gen, die, soll­te es zu einem rea­len Kon­takt mit der Orga­ni­sa­ti­on kom­men, bestä­tigt, ggf. sogar ver­stärkt oder eben auch ent­täuscht wer­den können.

Und so geht es ab dem ers­ten Kon­takt mit der Orga­ni­sa­ti­on wei­ter — ein­mal ent­stan­de­ne Erwar­tun­gen wer­den ggf. erfüllt, nach einer gewis­sen „erfüll­ten“ Pha­se ver­än­dern sich die Erwar­tun­gen jedoch, ent­we­der weil sich Rou­ti­ne ein­stellt oder/und die anfäng­li­che Begeis­te­rung nach­lässt, oder weil sich die Auf­ga­ben mit der Zeit ver­än­dern und die Per­son ggf. irgend­wann auf die Idee kommt, dass es an der Zeit wäre, sich nach neu­en Auf­ga­ben umzu­se­hen. Die Grün­de kön­nen sehr viel­fäl­tig sein; wich­tig ist des­halb, dass man nicht davon aus­geht, dass ein ein­mal geschlos­se­ner psy­cho­lo­gi­scher Ver­trag in sei­ner Gestalt immer kon­stant bleibt.

Aus den Erwar­tun­gen der Orga­ni­sa­ti­on an die Per­son ergibt sich jenes Bün­del aus Auf­ga­ben, das man „Rol­le“ oder „Auf­ga­ben­pro­fil“ nen­nen könn­te. Je kla­rer die­se Auf­ga­ben sind, des­to genau­er weiß die Per­son, was sie in der Orga­ni­sa­ti­on auf ihrer Stel­le tun soll. Die Per­son muss sich anfangs natür­lich ein­ar­bei­ten, aber irgend­wann kommt man auf die Idee, den Grad und die Qua­li­tät der Auf­ga­ben­er­fül­lung zu beur­tei­len — in jedem Fall ent­ste­hen sol­che Urtei­le impli­zit in den Köp­fen der betei­lig­ten Kol­le­gin­nen oder Kol­le­gen und der ver­ant­wort­li­chen Füh­rungs­kräf­te. Min­des­tens in Mit­ar­bei­ter­ge­sprä­chen, oft aber auch in Feed­back-Run­den im Team oder sogar im Rah­men von 360-Grad-Feed­backs wird es auch zu expli­zi­ten For­mu­lie­run­gen sol­cher Ein­schät­zun­gen kom­men. In jedem Fall wird die Auf­ga­ben­er­fül­lung nicht immer auf dem glei­chen Level blei­ben, weil die Per­son die Auf­ga­ben durch wach­sen­de Erfah­rung mit der Zeit immer bes­ser erfüllt oder weil sich mit der Rou­ti­ne ggf. auch ein gewis­ser „Schlen­dri­an“ ein­ge­stellt hat und die Moti­va­ti­on gesun­ken ist — oder weil sich die Auf­ga­ben ver­än­dert haben und die Per­son in Bezug auf die­se Ver­än­de­run­gen einen gewis­sen Anpas­sungs- und Lern­be­darf hat, wobei man hier zwi­schen zwei Fäl­len unter­schei­den muss: einem ver­än­de­rungs­of­fe­nen, ggf. sogar „pro­ak­ti­ven“ Umgang mit Ent­wick­lungs­be­darf und einem ggf. ver­än­de­rungs­skep­ti­schen oder sogar defen­si­ven Umgang mit Ver­än­de­run­gen. Auf die­se Unter­schei­dung wird spä­ter noch zurück­zu­kom­men sein, wenn es dar­um geht, dass man als Füh­rungs­kraft nicht nur „posi­tiv ori­en­tier­te Gesprä­che“ füh­ren kann, son­dern mit­un­ter — auch im kon­fron­ta­ti­ven Sin­ne — etwas wol­len muss.

Der Zweck von Organisationen und die Aufgabe von Führungskräften

Jede Orga­ni­sa­ti­on hat einen Zweck, zu des­sen Erfül­lung sie gegrün­det oder geschaf­fen wor­den ist. Es gibt wahr­schein­lich kei­ne Orga­ni­sa­ti­on ohne Zweck, denn Orga­ni­sa­tio­nen sind, kon­se­quent betrach­tet, auf eine gewis­se Dau­er ange­leg­te „Rah­mun­gen“ erfolg­rei­cher mensch­li­cher Koope­ra­ti­on — und unse­re Koope­ra­ti­on ist in der Regel auf einen Zweck gerich­tet, zum Bei­spiel auf die (pro­phy­lak­ti­sche) Ver­bes­se­rung der Daseins­vor­sor­ge, auf Hil­fe in Not­si­tua­tio­nen, auf die Rea­li­sie­rung einer Geschäfts­idee, auf die Siche­rung von Herr­schaft usw.

Jemand hat sich etwas ein­fal­len las­sen und braucht zur Erfül­lung die­ser Idee ande­re Men­schen. Die Idee führ­te vom Ver­such zum Erfolg — und wur­de wie­der­holt. Wenn sich dar­aus ein blei­ben­der Erfolg ergibt, wird die Sache wei­ter wie­der­holt, es erge­ben sich mit der Zeit Rou­ti­nen und Struk­tu­ren — jene „Auf­ga­ben­bün­del“, von denen wir bereits gespro­chen haben. Wem die­se kur­ze Zusam­men­fas­sung des Ent­ste­hens von Struk­tu­ren und Abläu­fen zu kurz ist — Sie fin­den auf die­sem Blog aus­führ­li­che­re Dar­stel­lun­gen zur Ent­ste­hung von Orga­ni­sa­tio­nen sowie zum Zweck von Orga­ni­sa­tio­nen.

Die Hand­lun­gen der Men­schen, die in einer Orga­ni­sa­ti­on han­deln, sol­len auf den Zweck der Orga­ni­sa­ti­on ein­zah­len. Wo Men­schen arbei­ten, gibt es natür­lich immer gewis­se Rei­bungs­ver­lus­te durch Fak­to­ren wie Miss­ver­ständ­nis­se, unkla­re Auf­ga­ben, mehr oder weni­ger Sym­pa­thie, mehr oder weni­ger Moti­va­ti­on usw. Aber prin­zi­pi­ell geht es zunächst um die­ses „Ein­zah­len auf den Orga­ni­sa­ti­ons­zweck“, wobei man hier grund­sätz­lich drei Kate­go­rien unter­schei­den kann: Es gibt (a) Hand­lun­gen, wel­che direkt auf den Orga­ni­sa­ti­ons­zweck ein­zah­len (Wert­schöp­fung), und es gibt (b) Hand­lun­gen, die indi­rekt auf den Orga­ni­sa­ti­ons­zweck ein­zah­len (Koor­di­na­ti­on, Bespre­chun­gen, Ver­wal­tung usw.). Des Wei­te­ren gibt es © noch die bereits ange­spro­che­nen „Rei­bungs­ver­lus­te“ durch Miss­ver­ständ­nis­se usw. Hier­bei gibt es aller­dings zwei inter­es­san­te Spek­tren, näm­lich zum einen von unbe­ab­sich­tigt (bspw. Feh­ler, Miss­ver­ständ­nis­se) bis beab­sich­tigt (bspw. bewuss­te Fehl­hand­lun­gen, Absen­tis­mus, Betrug, Sabo­ta­ge) und zum ande­ren von unver­meid­bar (bspw. Miss­ver­ständ­nis­se oder jeg­li­che Feh­ler — wobei durch den bewuss­ten Umgang mit Feh­lern gelernt wer­den kann, bis Feh­ler immer weni­ger auf­tre­ten) bis ver­meid­bar (bspw. ver­meid­ba­re Wie­der­ho­lungs­feh­ler; durch red­un­dan­te Kom­mu­ni­ka­ti­on ver­meid­ba­re Miss­ver­ständ­nis­se; aus Macht­di­stanz oder Angst ent­ste­hen­de Feh­ler; Fol­gen von Herr­schafts­wis­sen usw. Herrschaftswissen).

Die pri­mä­re Auf­ga­be von Füh­rungs­kräf­ten ist, den Pro­zess des Ein­zah­lens auf den Orga­ni­sa­ti­ons­zweck zu orga­ni­sie­ren — und zwar weni­ger, indem Füh­rungs­kräf­te alles selbst machen oder bes­ser kön­nen als ihre Mit­ar­bei­te­rin­nen oder Mit­ar­bei­ter (einer der vie­len Wege ins sprich­wört­li­che „Hams­ter­rad“), son­dern indem sie sich fra­gen, wie die Koor­di­na­ti­on gestal­tet wer­den muss, damit die Hand­lun­gen der Ange­hö­ri­gen ihrer Teams, Abtei­lun­gen usw. mög­lichst wirk­sam zum Errei­chen des Orga­ni­sa­ti­ons­zwecks bei­tra­gen. Die wich­tigs­ten Instru­men­te zur Koor­di­na­ti­on blei­ben wahr­schein­lich Bespre­chun­gen und Einzelgespräche.

Erste Schlussfolgerungen für die Gesprächsführung

Bei die­sen Bespre­chun­gen und Ein­zel­ge­sprä­chen kann man zwei Ebe­nen unter­schei­den. Zum Einen gibt es die Ebe­ne kon­kre­ter Arbeits­in­hal­te oder ‑abläu­fe, also das, wor­um es in arbeits­be­zo­ge­nen Gesprä­chen nor­ma­ler­wei­se geht, näm­lich das Was, Wie, Wann usw. der Auf­ga­ben­er­fül­lung. Man könn­te dies auch die „ope­ra­ti­ve Ebe­ne“ nen­nen. Zum Ande­ren gibt es qua­si eine Ebe­ne „über“ der direk­ten Hand­lungs­ko­or­di­na­ti­on, auf der man zum Bei­spiel bespricht, wie das, was die Per­son tut, zu dem passt, was sie tun soll, wie zufrie­den­stel­lend die Auf­ga­ben erle­digt wer­den, was man aus der bis­he­ri­gen Art und Wei­se der Auf­ga­ben­er­le­di­gung ler­nen kann — wir kön­nen ja immer nur dann ler­nen, wenn etwas nicht oder zum ers­ten Mal gelingt, vor­aus­ge­setzt, wir haben die Zeit, die Gele­gen­heit und die Offen­heit zu einer ent­spre­chen­den The­ma­ti­sie­rung. Auf die­ser „Meta­ebe­ne“ kann man zudem bespre­chen, wie man zuein­an­der steht, wel­che Erwar­tun­gen man zukünf­tig anein­an­der hat, wel­che Unter­stüt­zung man ggf. benö­tigt usw.

Aus dem Orga­ni­sa­ti­ons­zweck erge­ben sich nicht nur die Auf­ga­ben der Füh­rungs­kraft, son­dern — indi­rekt über Struk­tu­ren und Abläu­fe — auch jene „Auf­ga­ben­bün­del“ der ein­zel­nen Mit­ar­bei­ter. Man kann den Orga­ni­sa­ti­ons­zweck auch als eine Art „Maß­stab“ ver­ste­hen, anhand des­sen beur­teilt wer­den kann, inwie­fern eine Hand­lung auf den Orga­ni­sa­ti­ons­zweck ein­zahlt oder nicht bzw. wie rele­vant eine kon­kre­te Hand­lung für die Errei­chung des Zwecks einer Orga­ni­sa­ti­on ist.

Kom­men wir nun zum eigent­li­chen Kern die­ses Tex­tes, näm­lich zum The­ma Mit­ar­bei­ter­ge­sprä­che. Wenn wir die bis­her dar­ge­stell­ten Theo­rie-Ele­men­te zusam­men betrach­ten — den Zweck der Orga­ni­sa­ti­on und den psy­cho­lo­gi­schen Ver­trag —, dann scheint die Auf­ga­be von Füh­rungs­kräf­ten zunächst zu sein, dafür zu sor­gen, dass die Hand­lun­gen der Ange­hö­ri­gen der Orga­ni­sa­ti­on auf den Zweck ein­zah­len. Da aber jede ein­zel­ne Per­son auch ganz indi­vi­du­el­le Merk­ma­le, Moti­ve, Erwar­tun­gen usw. hat, scheint die Auf­ga­be von Füh­rungs­kräf­ten zudem zu sein, die psy­cho­lo­gi­schen Ver­trä­ge ihrer MIt­ar­bei­te­rin­nen und Mit­ar­bei­ter zu beglei­ten und gleich­sam zu „mode­rie­ren“. So wie es in von der Frei­heit des Indi­vi­du­ums gepräg­ten Gesell­schaf­ten kaum mög­lich ist, einen Orga­ni­sa­ti­ons­zweck ein­fach anzu­ord­nen oder gar „voll­stän­dig“ zu imple­men­tie­ren, so ist es ande­rer­seits nicht mög­lich, die Belan­ge jedes ein­zel­nen Indi­vi­du­ums „abso­lut“ zu set­zen, weil es dann kaum mehr geeig­ne­te Ein­zah­lun­gen auf den Orga­ni­sa­ti­ons­zweck gäbe. Eine der wesent­li­chen Füh­rungs­auf­ga­ben bleibt also die Aus­hand­lung eines funk­tio­nie­ren­den Ver­hält­nis­ses zwi­schen orga­ni­sa­tio­na­len und indi­vi­du­el­len Interessen.

Ein kurzer Exkurs

Eine der inter­es­san­ten Fra­gen unse­rer Zeit lau­tet, wie es mit die­sem Ver­hält­nis wei­ter­geht — kom­men wir doch aus Jahr­zehn­ten, in denen Orga­ni­sa­tio­nen hohe Anpas­sungs­leis­tun­gen von ihren Ange­hö­ri­gen ver­lan­gen konn­ten — und zwar nicht nur, weil es genug ande­re gab, die die not­wen­di­gen Qua­li­fi­ka­tio­nen und Erfah­run­gen besa­ßen und auch gern Teil der Orga­ni­sa­ti­on gewe­sen wären, son­dern auch, weil das Aus­maß der Indi­vi­dua­li­sie­rung bei Wei­tem noch nicht das heu­ti­ge Maß erreicht hatte.

Heu­te hin­ge­gen sind immer mehr Men­schen bereit, ihre eige­nen Belan­ge in ein kri­ti­sches Ver­gleichs­ver­hält­nis zu den Belan­gen der Orga­ni­sa­ti­on zu stel­len (Work-Life-Balan­ce; Will ich so viel arbei­ten? Pas­sen die Wer­te der Orga­ni­sa­ti­on zu mei­nen Wer­ten? Und so wei­ter…) oder sogar den eige­nen Belan­gen mehr Gewicht ein­zu­räu­men als den Erfor­der­nis­sen des Funk­tio­nie­rens der Orga­ni­sa­ti­on — bei gleich­zei­tig deut­lich „dün­ne­ren“ nach­kom­men­den Jahr­gän­gen und einer spür­bar sin­ken­den „Stress­ein­tritts­schwel­le“ bzw. Belastbarkeit.

Wer viel über Füh­rung nach­denkt, fragt sich viel­leicht schon län­ger, ob sich an die­ser Stel­le die sprich­wört­li­che Kat­ze in den Schwanz beißt.

Es ist min­des­tens eine „inter­es­san­te Situa­ti­on“, wenn einer­seits ein Bun­des­mi­nis­ter von einem „Recht auf Home Office“ spricht, wäh­rend ande­rer­seits vie­le Orga­ni­sa­tio­nen unter 24/7‑Bedingungen funk­tio­nie­ren müs­sen (Kran­ken­häu­ser, Ret­tungs­diens­te, Feu­er­weh­ren, Poli­zei, Kraft­wer­ke, Fabri­ken, Flug­hä­fen, Logis­tik-Zen­tren, Pfle­ge­ein­rich­tun­gen, Bau­ern­hö­fe und vie­le mehr). Nicht erst dann, wohl aber spä­tes­tens dann wird deut­lich, dass es — höf­lich for­mu­liert — einen gewis­sen Abstand gibt zwi­schen dem, was vie­le Men­schen als Boden der Tat­sa­chen anse­hen, und jenem, was in Ber­lin mit­un­ter ver­han­delt wird.

Exkurs Ende.

Haltung und Technik

Zurück zu den Mit­ar­bei­ter­ge­sprä­chen: Aus den dar­ge­stell­ten Theo­rien las­sen sich bereits die wesent­li­chen Ele­men­te für Mit­ar­bei­ter­ge­sprä­che ableiten:

  • Aus der Betrach­tung des psy­cho­lo­gi­schen Ver­tra­ges bzw. kon­kre­ter aus der Fort­schrei­bung der Erwar­tun­gen ergibt sich eine gewis­se Ori­en­tie­rung an einer Zeit­ach­se (Ver­gan­gen­heit, Gegen­wart, Zukunft). Des Wei­te­ren ergibt sich die Fra­ge nach dem Ver­hält­nis zwi­schen Indi­vi­du­um und Orga­ni­sa­ti­on, das von der jewei­li­gen Füh­rungs­kraft beglei­tet oder „mode­rie­rend reflek­tiert“ wird.
  • Aus den Über­le­gun­gen zum Zweck der Orga­ni­sa­ti­on erge­ben sich Impli­ka­tio­nen in Bezug auf das Ver­hält­nis zwi­schen Per­son und Auf­ga­be. Durch die Not­wen­dig­keit der Zusam­men­wir­kung mit ande­ren Men­schen und der dadurch erfor­der­li­chen Koor­di­na­ti­on wer­den zudem die Bezie­hun­gen zu Kol­le­gen und Vor­ge­setz­ten sowie indi­rekt auch Schnitt­stel­len zu ande­ren Berei­chen relevant.

Dar­aus ergibt sich bereits eine lan­ge Lis­te mög­li­cher Fragen:

  • Bei­spie­le für Fra­gen in Anwen­dung einer Zeit­ach­sen-Logik: Was waren Ihre Erwar­tun­gen, als Sie hier begon­nen haben zu arbei­ten? Wie haben sich die­se Erwar­tun­gen erfüllt oder nicht erfüllt? Wie war es für Sie, in den ver­gan­ge­nen Mona­ten auf Arbeit zu kom­men? Wie geht es Ihnen momen­tan mit Ihrer Auf­ga­be? Was wün­schen Sie sich für die Zukunft?
  • Bei­spie­le für Fra­gen in Anwen­dung einer Ver­hält­nis-Logik zum Zweck der Orga­ni­sa­ti­on: Wie klar ist Ihnen Ihre Auf­ga­be? Wie schät­zen Sie die Ein­ar­bei­tung ein, und wie hat sich Ihr Ver­hält­nis zu Ihrer Auf­ga­be ent­wi­ckelt? Sehen Sie hier ggf. Ver­än­de­rungs- oder Unter­stüt­zungs­be­darf, und wenn ja, welchen?
  • Bei­spie­le für Fra­gen in Anwen­dung einer Bezie­hungs-Logik zu Kol­le­gin­nen und Kol­le­gen bzw. zu vor­ge­setz­ten Per­so­nen: Wie wür­den Sie Ihren „Weg ins Team“ beschrei­ben? Wie geht es Ihnen momen­tan im Team? Wel­che Aspek­te wür­den Sie ggf. posi­tiv her­vor­he­ben bzw. wel­che Aspek­te möch­ten Sie ggf. kri­tisch anmer­ken? Wel­che Erwar­tun­gen haben Sie an das Team und an mich als vor­ge­setz­te Per­son? Was kann ich aus Ihrer Sicht als vor­ge­setz­te Per­son ggf. anders machen? Wenn Sie mich ein­schät­zen soll­ten — wie wür­de Ihr Feed­back an mich als vor­ge­setz­te Per­son lauten?

Das sind nur drei mög­li­che Per­spek­ti­ven und nur eini­ge der mög­li­chen Fra­gen. Wich­tig ist hier nicht etwa eine Voll­stän­dig­keit der Lis­te, son­dern eher, dass plau­si­bel wird, dass die Füh­rung von Mit­ar­bei­ter­ge­sprä­chen kei­ne beson­ders schwie­ri­ge Ange­le­gen­heit ist, wenn man weiß, wonach man fra­gen muss — und sich traut, das Gespräch tat­säch­lich zu füh­ren. „Wer fragt, führt das Gespräch“ mag eine älte­re, aber kaum abge­nutz­te Erkennt­nis lau­ten. Im Gegen­teil: Jede Füh­rungs­kraft kommt im Zuge ihres Lern- und Rei­fungs­pro­zes­ses irgend­wann zum ers­ten Mal und spä­ter noch eini­ge Male an die­ser Erkennt­nis vorbei.

Natür­lich soll­te man sich als Füh­rungs­kraft für Men­schen inter­es­sie­ren. Auch wenn die­ser Feh­ler schon lan­ge bekannt ist, bedeu­tet es nicht unbe­dingt, dass er öfter ver­mie­den wird: Manch­mal macht man die bes­te Fach­kraft auch zur Füh­rungs­kraft. Nur weil jemand etwas gut kann, bedeu­tet das nicht, dass er oder sie das auch ver­mit­teln (aus­bil­den, ein­ar­bei­ten) kann oder dass sie oder er auch gut füh­ren kann. Das ist ähn­lich wie im Zusam­men­hang mit dem Auf­bau von Orga­ni­sa­tio­nen: Wer eine Orga­ni­sa­ti­on erfolg­reich auf­baut, ist sel­ten die­je­ni­ge Per­son, die eine Orga­ni­sa­ti­on erfolg­reich betreibt. Auf­bau und Betrieb sind unter­schied­li­che Auf­ga­ben. Die Hal­tung ist jeden­falls wich­ti­ger als die Tech­nik (Edgar Schein). Die Gesprächs­füh­rung erfolgt aus einer bestimm­ten Hal­tung (Inter­es­se, Offen­heit, Authen­ti­zi­tät) her­aus; die Tech­ni­ken (Fra­gen stel­len, akti­ves Zuhö­ren, zusam­men­fas­sen, um nur die wich­tigs­ten zu nen­nen) ord­nen sich der Hal­tung unter bzw. „fol­gen“ der Haltung.

Spezialfall: Schwierige Gespräche

Bleibt die Fra­ge nach den schwie­ri­gen Gesprä­chen. Salopp gesagt: Wenn es ein­fach wäre, wür­de es sich nicht loh­nen, dar­über zu schrei­ben. Anstatt uns hier lan­ge mit Tool­bo­xes oder Pha­sen­mo­del­len (Ein­stieg — Selbst­ein­schät­zung — Feed­back von der vor­ge­setz­ten Per­son — Feed­back an die vor­ge­setz­te Per­son — Diskussion/Reflexion — Ver­ein­ba­run­gen für die kom­men­den Mona­te o.ä.) zu befas­sen, sei hier auf eini­ge wich­ti­ge Din­ge verwiesen:

  1. Mit­ar­bei­ter­ge­sprä­che fol­gen sel­ten pro­to­ty­pi­schen Ver­laufs­mo­del­len. Den­noch ist es hilf­reich, die grund­le­gen­den Hal­tun­gen (Inter­es­se, Offen­heit, Authen­ti­zi­tät) und Tech­ni­ken (fra­gen, aktiv zuhö­ren, zusam­men­fas­sen, ggf. visua­li­sie­ren) sowie eine Rei­he mög­li­cher Ver­läu­fe zu kennen.
  2. Das „Pro­blem“ ist sel­ten das The­ma Gesprächs­füh­rung an und für sich, son­dern eher das Anspre­chen von Min­der­leis­tung, Fehl­ver­hal­ten usw. Hier hilft weni­ger „Tech­nik-Trai­ning“, als viel­mehr Mut zur Klar­heit. Die Tech­nik ist defi­ni­tiv hilf­reich und führt im Beson­de­ren zur Ver­mei­dung ekla­tan­ter Feh­ler in der Gesprächs­füh­rung, aber ohne Mut führt selbst die bes­te Tech­nik aller­höchs­tens zu einem zwar „höf­li­chen“ oder „kor­rek­ten“, aber den­noch der Situa­ti­on ggf. unan­ge­mes­se­nen „Rum­ge­ei­er“.
  3. Schlech­te Nach­rich­ten sol­len klar und direkt im Haupt­satz aus­ge­spro­chen wer­den. Es gilt der Grund­satz: „Hart in der Sache, weich zu den Men­schen“. Die­ser Grund­satz ist zwar schon etwas älter, wird aber heu­er in kon­kre­ten Situa­tio­nen kaum mehr ange­wandt, weil man Sor­ge trägt, dem Gegen­über nicht zu nahe zu tre­ten. Aber wie soll Ent­wick­lung mög­lich sein, wenn nicht auf der Grund­la­ge von Klar­heit? Ver­meint­li­che Höf­lich­keit (= oft nichts ande­res als Selbst­schutz) oder Kor­rekt­heit (= oft der ver­meint­li­che „Schutz“ des Gegen­übers vor „schar­fer“ oder gar „dis­kri­mi­nie­ren­der“ Anspra­che) machen die Sache nicht besser.
  4. Wie anders soll man etwas Min­der­leis­tung oder Fehl­ver­hal­ten anspre­chen als durch kla­res Feed­back? Hier ist einer­seits „Mut zur Klar­heit“ und ande­rer­seits „psy­cho­lo­gi­sche Sicher­heit“ (die Bereit­schaft, kri­ti­sche Din­ge anzu­spre­chen, ver­bun­den mit dem Sicher­heits­ge­fühl ggü. vor­ge­setz­ten Per­so­nen, dies auch ohne Angst anspre­chen zu kön­nen) gefragt.
  5. Es ist also durch­aus hilf­reich, der Feed­back-Regel „Posi­ti­ves zuerst“ zu fol­gen, weil das Gegen­über dadurch offen bleibt. Gleich­zei­tig soll­te man eine Auf­wei­chung von Kri­tik eben­so ver­mei­den wie etwa die Anwen­dung des so genann­ten „Sand­wich-Modells“, nach dem man posi­tiv begin­nen, die Kri­tik in der Mit­te plat­zie­ren und das Gespräch wie­der­um posi­tiv abschlie­ßen soll­te. Dadurch geht die Kri­tik ver­lo­ren bzw. wird die Kri­tik weni­ger beach­tet, als es ggf. not­wen­dig wäre. Wenn etwas in den Augen der Feed­back geben­den Per­son „Mist“ ist, muss es auch „Mist“ hei­ßen, aller­dings ist es nicht hilf­reich, wenn von vorn­her­ein nur von „Mist“ die Rede ist, weil dann beim Gegen­über bereits zu Beginn des Gesprächs die „inne­ren Schran­ken“ geschlos­sen werden.

Zusammenfassung

Zusam­men­ge­fasst bedeu­ten die vor­an­ste­hen­den Zei­len, dass man sich als Füh­rungs­kraft einer­seits für Men­schen inter­es­sie­ren soll­te und ande­rer­seits eine Rei­he von theo­re­ti­schen Kon­zep­ten zur Anwen­dung brin­gen kann, um gute Mit­ar­bei­ter­ge­sprä­che zu füh­ren und ggf. die rich­ti­gen Fra­gen zu stel­len oder kon­struk­ti­ves Feed­back zu geben und zu erfra­gen usw. Zudem bedarf es in schwie­ri­gen Gesprä­chen zudem des Mutes zur Klar­heit bzw. der Bereit­schaft, als Füh­rungs­kraft auch etwas zu wollen.

Jörg Hei­dig

Von Jörg Heidig

Jörg Heidig, Jahrgang 1974, nach Abitur und Berufsausbildung in der Arbeit mit Flüchtlingen zunächst in Deutschland und anschließend für mehrere Jahre in Bosnien-Herzegowina tätig, danach Studium der Kommunikationspsychologie, anschließend Projektleiter bei der Internationalen Bauausstellung in Großräschen, seither als beratender Organisationspsychologe, Coach und Supervisor für pädagogische Einrichtungen, soziale Organisationen, Behörden und mittelständische Unternehmen tätig. 2010 Gründung des Beraternetzwerkes Prozesspsychologen. Lehraufträge an der Hochschule der Sächsischen Polizei, der Dresden International University, der TU Dresden sowie der Hochschule Zittau/Görlitz.