Manchmal will man einfach nur eine Rückmeldung geben. Und plötzlich steht man als Unruhestifter da. In vielen Organisationen ist Kritik nicht explizit unerwünscht, sondern strukturell erschwert. Dabei entscheidet sich an der Fähigkeit zu konstruktiver Kritik, ob ein System lernfähig bleibt oder nicht.
In Innovationsprozessen kommt irgendwann der Moment, in dem man nicht mehr nur freundlich fragt, sondern etwas sagen muss, das womöglich nicht gefällt. Kritik an Vorgesetzten, an Hierarchien oder an Denkweisen zu äußern, ist jedoch ein heikles Unterfangen. Und zwar weniger, weil Kritik verboten wäre (offiziell ist sie ja meistens erwünscht) – sondern weil sie selten geübt wird.
Über gute Kommunikation kann man nicht reden, gute Kommunikation muss man machen. Kommunikationsregeln helfen in der Regel nur sehr wenig. Wünsche ebenfalls. Gute Kommunikation muss man machen. Das bedeutet: Gelingende Kommunikation muss zur Gewohnheit werden. Es nutzt wenig, wenn sich Führungskräfte wünschen, dass man Vorschläge oder Kritik äußert — man muss dafür sorgen, dass die Leute gewohnt sind, das zu tun. Wenn es die Leute gewohnt sind, machen sie es auch.
Es gibt fünf Stufen, wie man innerhalb einer Organisation Kritik äußern kann, ohne sich selbst oder andere sofort zu beschädigen. Ein differenziertes Modell, das zeigt: Kritik ist keine Frage des Muts allein – sondern eine Frage der Flughöhe.
Stufe 1: Die fragende Unterordnung
Wer sich in der Organisation in einer hierarchisch niedrigeren Position befindet, beginnt sinnvollerweise mit Fragen. Nicht, um sich klein zu machen, sondern um den Raum für die Perspektive des Gegenübers zu öffnen – ohne die eigene Position zu verraten.
Beispielhafte Fragen:
- „Wie schätzen Sie die Entwicklung ein, wenn wir das Projekt nicht durchführen?“
- „Welche Potenziale sehen Sie in diesem Ansatz – oder auch Risiken?“
- „Inwiefern passt das aus Ihrer Sicht zum Auftrag der Organisation?“
Diese Fragen sind keine getarnte Kritik. Sie sind ein Angebot zur gemeinsamen Reflexion. Wer sie stellt, tritt nicht in Opposition, sondern in Beziehung — und bleibt dabei handlungsfähig.
Stufe 2: Die höflich-konsequente Nachfrage
Wer etwas weitergehen möchte, kann vorsichtig an die Konsequenzen erinnern – immer noch eingebettet in Fragen, aber nun mit einem klareren Ziel: die Lücke zwischen organisationalem Anspruch und aktuellem Verhalten sichtbar zu machen.
Typisch für diese Stufe wären die folgenden Beispielfragen:
- „Darf ich eine etwas spitzere Frage stellen?“
- „Angenommen, wir führen es nicht ein – was wären mögliche Folgen?“
- „Wäre es denkbar, Prioritäten zu verschieben, um das Projekt umzusetzen?“
Die eigene Meinung bleibt implizit, aber die Dringlichkeit wächst. Diese Form der Kritik wirkt, weil sie dem Gegenüber erlaubt, die Entscheidung ggf. als eigene Einsicht zu rahmen — ohne Gesichtsverlust.
Stufe 3: Der höfliche Widerspruch
Jetzt wird es ernst. Wer auf Stufe 3 einsteigt, benennt seine Sichtweise klar – aber mit Respekt. Die Kritik ist nicht mehr versteckt, sondern formuliert. Der Ton ist verbindlich, die Haltung mutig.
Formulierungen könnten sein:
„Darf ich mir erlauben, das anders zu sehen?“
„Ich halte es für riskant, das Thema auszuklammern – darf ich das begründen?“
„Ich würde gerne schildern, warum ich das anders einschätze – interessieren Sie meine Gedanken dazu?“
Diese Stufe ist nicht für jede Beziehung geeignet. Sie erfordert ein Mindestmaß an psychologischer Sicherheit und an Vertrauen zwischen der Person, die das formuliert, und der jeweils vorgesetzten Persin. Aber eine solche Initiative ist oft notwendig – denn wer nie sagt, was er denkt, darf sich nicht wundern, wenn sich nichts ändert.
Stufe 4: Der kalkulierte Konflikt
Ab hier ist Mut nicht mehr genug – jetzt braucht es Rückgrat. Stufe 4 bedeutet, offen in den Widerspruch zu gehen — auch wenn dies ggf. nicht erwünscht ist. Der Ton bleibt respektvoll, aber die Botschaft ist klar: Ich sehe es anders, und ich sage das auch.
Typisch für diese Stufe:
- „Mit Verlaub: Ich halte Ihre Einschätzung für falsch. Und ich begründe das gerne.“
- „Ich halte das für ein strategisches Risiko, das wir nicht unterschätzen sollten.“
- „Ich bin überzeugt, dass wir hier einen Fehler machen – und will das nicht ungesagt lassen.“
Wer so spricht, riskiert Ablehnung. Aber er signalisiert auch: Ich bin loyal zur Organisation – nicht zur Bequemlichkeit. In vielen Fällen ist genau das die Reibung, die eine Führungskraft braucht, um eine bestimmte Sichtweise infrage zu stellen oder eine ggf. gewohnte Position zu verlassen.
Stufe 5: Die Eskalation mit persönlichem Einsatz
Wenn alle vorherigen Stufen nicht wirken, bleibt manchmal nur der Schritt, die eigene Rolle zur Disposition zu stellen. Nicht als Drohung, sondern als Grenzmarkierung: „Wenn das so bleibt, kann ich meine Aufgabe nicht sinnvoll erfüllen.“
Das ist riskant. Wer das sagt, muss sich der Konsequenzen bewusst sein. Ein solcher Satz kann eine Organisation aufwecken – oder zu einem Bruch führen.
Doch: Auch dieser Schritt lässt sich entschärfen – durch eine Entschuldigung für den Ton, durch ein Gespräch am nächsten Tag, durch eine Wiederholung in ruhigerer Form. Oft zeigt sich dann: Die Eskalation war notwendig, damit das Thema überhaupt Gewicht bekommt.
Warum viele Organisationen Stufe 1 nicht überleben
In vielen Organisationen endet Kritik schon auf Stufe 1. Fragen werden als Zweifel gelesen, Zweifel als Störung, Störungen als Bedrohung. Die Folge: Es wird geschwiegen — und Innovationen „versanden“.
Was dabei verloren geht, ist nicht nur eine Idee – sondern die Fähigkeit der Organisation zur Entwicklung. Wer keinen Widerspruch mehr hört, hört irgendwann auch keine Zustimmung mehr, sondern nur noch Geräusche. Kritik ist sicher eine Kunst, aber auch ein Dienst. Kritik zu üben heißt nicht, destruktiv zu sein. Ernst gemeinte Kritik heißt, Verantwortung zu übernehmen. Für das, was man sieht. Für das, was nicht gesagt wird. Für das, was vielleicht niemand anders sagen wird.
Ob man das höflich tut oder mutig, ob man fragt oder widerspricht, ob man andeutet oder explizit wird – entscheidend ist nicht der Stil, sondern die Haltung: Kritik ist ein Dienst am Ganzen, Kritik zahlt auf den Zweck der Organisation ein (wenn sie kein als Kritik getarnter Selbstzweck ist). Eine Organisation, die diesen Dienst nicht zulässt, darf sich nicht wundern, wenn sich irgendwann niemand mehr zuständig fühlt und es in der Folge zu einer gewissen Pflichtverwahrlosung kommt.
PS: Dieser Text ist der zweite Teil einer Artikelserie zum Thema Innovationskommunikation. Im vorangegangenen Teil dieser Serie ging es um Handlungsfähigkeit unter Druck. Im dritten Teil der Serie geht es um die Frage, was man (noch) tun kann, wenn Argumente an Grenzen kommen.
PPS: Das Beitragsbild wurde mit Hilfe künstlicher Intelligenz erstellt.