Handlungsfähigkeit unter Druck

Vorwort

Kürz­lich hat­te ich die Freu­de, mit dem Team der Inno­va­ti­ons­ab­tei­lung einer grö­ße­ren Orga­ni­sa­ti­on ein Semi­nar durch­zu­füh­ren, in dem es um die Fra­ge ging, wie man mit Druck und Stress umge­hen und unter ange­spann­ten Bedin­gun­gen so kom­mu­ni­zie­ren kann, dass Ergeb­nis­se erreicht wer­den kön­nen. Das bedeu­tet natür­lich in ers­ter Linie, eben­so ruhig und freund­lich wie gedul­dig und hart­nä­ckig zu blei­ben. Wenn das jewei­li­ge Gegen­über mit Ableh­nung oder gar Kon­fron­ta­ti­on oder Abwer­tung reagiert, wer­den die ent­spre­chen­den Gesprä­che schnell zur Her­aus­for­de­rung. Die ers­te Fra­ge lau­tet also, wie ich ruhig und freund­lich blei­ben und unnö­ti­ge Eska­la­tio­nen ver­hin­dern kann.

Gleich­zei­tig kann man kei­ne Inno­va­ti­ons­rol­le inne­ha­ben, die Wir­kung ent­fal­tet, wenn man immer nur dees­ka­lie­rend vor­geht und ruhig bleibt. Frei­lich soll man mit Kon­flik­ten kon­struk­tiv umge­hen. Aber unter Umstän­den muss man gera­de in grö­ße­ren und älte­ren Orga­ni­sa­tio­nen man­che Kon­flik­te über­haupt erst ein­mal schaf­fen, damit es etwas zu bear­bei­ten gibt, sprich: damit Inno­va­ti­on über­haupt erst mög­lich wird. Die zwei­te Fra­ge rich­tet sich also nicht so sehr auf Selbst­ma­nage­ment (wie die ers­te Fra­ge), son­dern auf wir­kungs­vol­le Selbst­be­haup­tung, und zwar nicht auf das „Selbst“ gerich­tet, son­dern auf die Zukunft der Orga­ni­sa­ti­on. Man macht sich selbst qua­si zum Instru­ment der Wei­ter­ent­wick­lung der Orga­ni­sa­ti­on, man will eine gewis­se Wir­kung erzielen.

In die­sem Text geht es um Tech­ni­ken, die mir hel­fen, in stres­si­gen oder kon­fron­ta­ti­ven Situa­tio­nen hand­lungs­fä­hig zu blei­ben (oder es wie­der zu wer­den). Die­ser Text ist der ers­te Teil einer drei­tei­li­gen Serie zum The­ma Inno­va­ti­on. Der zwei­te Teil befasst sich mit der Fra­ge, wie man inner­halb der Orga­ni­sa­ti­on – auch gegen­über Vor­ge­setz­ten – Mut zei­gen und Ver­än­de­run­gen vor­an­trei­ben kann. Im drit­ten Teil geht es um die Fra­ge, was man noch machen kann, wenn Argu­men­te an Gren­zen gekom­men sind.

Vier Techniken zum Umgang mit Druck und Stress

In ange­spann­ten Situa­tio­nen – und davon gibt es in Inno­va­ti­ons­ab­tei­lun­gen mehr als genug – ent­schei­det weni­ger das per­fek­te Argu­ment, son­dern mehr die Fähig­keit, unter Druck hand­lungs­fä­hig zu blei­ben. Wer Inno­va­tio­nen durch­set­zen will, braucht mehr als Über­zeu­gungs­kraft. Man braucht Zugriff auf den eige­nen Zustand, auf sich selbst unter Stress.

Daher beginnt jedes wir­kungs­vol­le Trai­ning, das sich ernst­haft mit orga­ni­sa­tio­na­lem Wan­del beschäf­tigt, nicht bei Tech­ni­ken der Über­zeu­gung, son­dern bei Tech­ni­ken der Selbstführung.

1. Atmung als Zugang zur Steuerung

Die ein­fachs­te Metho­de — eben­so oft belä­chelt wie sel­ten geübt: bewuss­te Atmung. Wer unter Stress steht, atmet flach, unbe­wusst, hek­tisch – und schickt damit dem eige­nen Ner­ven­sys­tem ein Dau­er­feu­er an Alarm­im­pul­sen. Wer aber tief in den Bauch atmet, signa­li­siert dem Kör­per: Es ist kein Angriff. Es ist nur ein Meeting.

Zwei Vari­an­ten haben sich als beson­ders pra­xis­taug­lich erwiesen:

  • Drei­mal tief und bewusst in den Bauch atmen – wenn man das öfter geübt hat, reicht spä­ter oft ein ein­zi­ges Mal, um den gewünsch­ten Zustand zu errei­chen. Man wird dann nicht „cool“, aber man kann ent­spann­ter reagie­ren, eine Ver­ste­hens­pau­se ein­le­gen, sich die nächs­te Fra­ge ein­fal­len lassen.
  • Die 4–7–8‑Regel: 4 Sekun­den ein­at­men, 7 Sekun­den hal­ten, 8 Sekun­den aus­at­men – und das fünf­mal hin­ter­ein­an­der. Pro­bie­ren Sie das bit­te aus und beob­ach­ten Sie die Vor­gän­ge im Kör­per. Wenn man die­se Tech­nik regel­mä­ßig übt, lernt man mit der Zeit, sich durch bewuss­te und metho­di­sche Atmung selbst zu beru­hi­gen. In Stress­si­tua­tio­nen hat man natür­lich nicht die Zeit, 5 x 19 Sekun­den Atem­übun­gen durch­zu­füh­ren. Die Tech­nik funk­tio­niert nicht auf Knopf­druck. Sie muss ein­ge­übt wer­den, zuhau­se im Stil­len, außer­halb der Druck­si­tua­ti­on. Nur dann funk­tio­niert sie auch, wenn es dar­auf ankommt. Der Kör­per „erin­nert sich“. Ich gehe vor wich­ti­gen, poten­ti­ell schwie­ri­gen Gesprä­chen oder ande­ren poten­ti­ell stress­aus­lö­sen­den Situa­tio­nen zum Bei­spiel kurz auf die Toi­let­te, füh­re die­se Übung durch und gehe dann gelas­se­ner in den ent­spre­chen­den Termin.

2. Pro­gres­si­ve Mus­kel­ent­span­nung – Der Anspan­nung etwas entgegensetzen

In man­chen Situa­tio­nen rei­chen die Atem-Tech­ni­ken nicht aus. Dann bleibt mir noch der „Umweg über die Mus­ku­la­tur“ — die pro­gres­si­ve Mus­kel­ent­span­nung, eine Tech­nik, die bei­spiels­wei­se auch Ein­satz­kräf­ten in hoch­gra­dig stres­si­gen Situa­tio­nen nach­weis­lich hilft. Ein­zel­ne Mus­kel­grup­pen wer­den gezielt ange­spannt und dann bewusst gelöst. Der Kör­per wird so von der Peri­phe­rie her in einen Zustand der Ent­span­nung gebracht – was zu mehr Fokus und Kon­zen­tra­ti­on führt und dabei hilft, hand­lungs­fä­hig zu blei­ben. Man suche nach Trai­nings­an­lei­tun­gen im Inter­net — aller­dings wird die klas­si­sche Vari­an­te häu­fig im Lie­gen instru­iert. Das hilft am Arbeits­platz wenig, man kann sich ja in der Regel nicht erst ein­mal hin­le­gen. Auch hier gilt: Ich muss die Sache in ruhi­gen Zei­ten ein­üben, damit die Tech­nik unter Hoch­druck funk­tio­niert. Man kann die fol­gen­den Übun­gen im Sit­zen durchführen:

  • Hän­de und Unter­ar­me für 5–7 Sekun­den stark anspan­nen und wie­der loslassen.
  • Dann die Augen fest ver­schlie­ßen und die Stirn krauß zie­hen und die Anspan­nung eben­falls für 5–7 Sekun­den hal­ten und dann wie­der entspannen.
  • Dann die Bauch­mus­ku­la­tur stark anspan­nen und gleich­zei­tig den Rücken durch­drü­cken — eben­falls für 5–7 Sekunden.
  • Dann die Füße stark auf den Boden drü­cken und die Ober­schen­kel anspan­nen — und wie­der­um nach 5–7 Sekun­den lockerlassen.
  • Alle genann­ten Mus­kel­grup­pen zusam­men für 5–7 Sekun­den anspan­nen und wie­der locker­las­sen.
    Wenn Sie das ein­mal pro­bie­ren, spü­ren Sie bit­te nach, wie sich Ihr Kör­per nach einem voll­stän­di­gen Zyklus anfühlt. Auch hier geht es dar­um, die Tech­nik regel­mä­ßig zu trai­nie­ren. Wenn man sei­nem Kör­per „bei­gebracht“ hat, sich auf Kom­man­do anzu­span­nen und zu ent­span­nen, reicht im Bedarfs­fall in der Pra­xis oft schon eine sub­ti­le Vari­an­te: Fäus­te und Unter­ar­me unter dem Tisch anspan­nen, kurz hal­ten, lösen. Ein paar Sekun­den Kon­zen­tra­ti­on auf die eige­ne Kör­per­span­nung rei­chen oft, um sich wie­der zu fokus­sie­ren, den Ver­stand wie­der in Gang zu set­zen, sich die nächs­te Fra­ge oder Ant­wort ein­fal­len zu las­sen o.ä. – nur eben nicht „auto­ma­tisch“ in die nächs­te Eska­la­ti­ons­stu­fe zu rutschen.

3. Die Anker­tech­nik – Ent­span­nung auf Abruf

Klingt eso­te­risch, ist es aber nicht. Die Anker­tech­nik ist nichts ande­res als klas­si­sche Kon­di­tio­nie­rung – ein gespei­cher­ter Zustand auf ein selbst­ge­wähl­tes Signal hin. Man setzt sich in Ruhe hin, schließt die Augen, erin­nert sich an einen beson­ders kla­ren, posi­ti­ven, viel­leicht glück­li­chen Moment. Einen, in dem der Kör­per ruhig war, der Kopf frei, die Welt nicht feind­lich. Man lässt den Moment kom­men. Wenn es gelingt und der Moment prä­sent wird, dann spürt man dem nach, geht gleich­sam in dem Moment „spa­zie­ren“: Man fühlt, was es zu emp­fin­den gab: Wie war die Emp­fin­dung auf der Haut? Was war zu sehen? Was war zu hören? Wonach roch es viel­leicht? Und wenn der Moment so rich­tig „da“ ist, dann ver­knüpft man die­sen Zustand mit einem Signal: ein „Zau­ber­wort“, eine Ges­te, ein inne­res Bild. Wich­tig ist, die­se Übung zu wie­der­ho­len. Zwei­mal täg­lich. Zwei Wochen lang.

Wer das durch­hält, kann spä­ter in einer Eska­la­ti­ons­si­tua­ti­on – in einem schwie­ri­gen Gespräch, bei einer har­ten Rück­mel­dung oder auch in einer Prä­sen­ta­ti­on vor vie­len Men­schen – das Signal anwen­den und erle­ben, wie sich die Atmung beru­higt, man viel­leicht sogar lächeln kann, wie sich Klar­heit ein­stellt und der Fokus zurück­kommt. Das macht einen wie gesagt nicht „cool“, aber es macht ruhi­ger. Und es bringt einen wie­der ins Handeln.

4. Ref­raming – Der emo­tio­na­le Reset

Die vier­te Tech­nik ist kogni­tiv. Sie rich­tet sich an jene, die sich nicht mit Atmung oder Kör­per­ar­beit anfreun­den kön­nen oder wol­len, son­dern gleich­sam den­ken müs­sen, um Gefüh­le in den Griff zu bekom­men („Kopf­men­schen“). Ref­raming bedeu­tet: Gefüh­le in Spra­che zu über­füh­ren – und dann die Spra­che (und damit auch die Gefüh­le) zu verändern.

Ers­ter Schritt: Man schreibt die emo­tio­nal gefärb­ten Gedan­ken auf, so wie sie kom­men: roh, emo­tio­nal, überzeichnet.

Bei­spie­le:
„War­um ist der wie­der so her­ab­las­send?“
„War­um stellt sie mei­ne Kom­pe­tenz in Fra­ge?“
„War­um lehnt er alles ab, was wir tun?“

Zwei­ter Schritt: Dann zieht man einen Strich. Und dar­un­ter schreibt man die­sel­be Reak­ti­on oder Beob­ach­tung ohne emo­tio­na­le Auf­la­dung auf:

„Die Füh­rungs­kraft hat mein Kon­zept abge­lehnt.“
„Mein Vor­schlag wur­de nicht ange­nom­men.“
„Mein Gegen­über hat eine ande­re Mei­nung als ich.“

Die­ser Über­gang vom Affekt zur Beschrei­bung ist kein Selbst­be­trug. Er ist ein Weg zurück zur Hand­lungs­mög­lich­keit. Wer beschreibt, hat wie­der Kon­trol­le. Wer wütend ist, reagiert auto­ma­tisch (im Zwei­fel emo­tio­nal, eska­lie­rend). Wer schreibt und dabei umdeu­tet, holt sich die Kon­trol­le zurück.

Nicht jede Methode ist für jede oder jeden

Es wäre falsch, die­se Tech­ni­ken als Stan­dard­lö­sun­gen für alle Men­schen und für alle Anwen­dungs­fäl­le zu ver­kau­fen. Men­schen sind unter­schied­lich, Orga­ni­sa­tio­nen und Situa­tio­nen auch. Nicht jeder kann mit Ref­raming arbei­ten. Nicht jede will den glück­lichs­ten Moment ihres Lebens her­auf­be­schwö­ren. Und nicht jeder hat die Geduld, sich Atem­tech­ni­ken oder Pro­gres­si­ve Mus­kel­ent­span­nung bei­zu­brin­gen. Man kann wäh­len und pro­bie­ren, was zu einem passt und im eige­nen Anwen­dungs­be­reich funktioniert.

Alle Tech­ni­ken haben einen gemein­sa­men Zweck: Hand­lungs­fä­hig­keit unter Belas­tung zu sichern. Nicht, um Recht zu behal­ten. Nicht, um sich zu pro­fi­lie­ren. Son­dern um der eige­nen Über­zeu­gung einen Kör­per zu geben, der spre­chen kann, ohne zu zittern.

Jörg Hei­dig

PS: Das Bei­trags­bild wur­de mit Hil­fe künst­li­cher Intel­li­genz erstellt.

Von Jörg Heidig

Dr. Jörg Heidig, Jahrgang 1974, ist Organisationspsychologe, spezialisiert vor allem auf Einsatzorganisationen (Feuerwehr: www.feuerwehrcoach.org, Rettungsdienst, Polizei) und weitere Organisationsformen, die unter 24-Stunden-Bedingungen funktionieren müssen (bspw. Pflegeheime, viele Fabriken). Er war mehrere Jahre im Auslandseinsatz auf dem Balkan und hat Ende der 90er Jahre in Görlitz bei Herbert Bock (https://de.wikipedia.org/wiki/Herbert_Bock) Kommunikationspsychologie studiert. Er schreibt regelmäßig über seine Arbeit (www.prozesspsychologen.de/blog/) und hat eine Reihe von Büchern veröffentlicht, darunter u.a. "Gesprächsführung im Jobcenter" oder "Die Kultur der Hinterfragung: Die Dekadenz unserer Kommunikation und ihre Folgen" (gemeinsam mit Dr. Benjamin Zips: www.kulturderhinterfragung.de). Dr. Heidig lebt in der Lausitz und begleitet den Strukturwandel in seiner Heimat gemeinsam mit Stefan Bischoff von MAS Partners mit dem Lausitz-Monitor, einer regelmäßig stattfindenden Bevölkerungsbefragung (www.lausitz-monitor.de). In jüngster Zeit hat Jörg Heidig gemeinsam mit Viktoria Klemm und ihrem Team im Landkreis Görlitz einen Jugendhilfe-Träger aufgebaut. Dr. Heidig spricht neben seiner Muttersprache fließend Englisch und Serbokroatisch sowie Russisch. Er ist häufig an der Landesfeuerwehrschule des Freistaates Sachsen in Nardt tätig und hat viele Jahre Vorlesungen und Seminare an verschiedenen Universitäten und Hochschulen gehalten, darunter an der Hochschule der Sächsischen Polizei und an der Dresden International University. Sie erreichen Dr. Heidig unter der Rufnummer 0174 68 55 023.